Über die Wut

„Mondkind, Du bist nach meiner Familie aktuell der Wichtigste Mensch in meinem Leben.“
Das ist das Schönste, das er seit langem gesagt hat.
Und doch stört mich irgendetwas daran minimal. Es ist nur ein Impuls, aber er ist da.
 
Irgendwann nachts.
Der Kopf ist hellwach. Ich kann nicht liegen. Es fühlt alles unbequem an; ich kann meine vier Gliedmaßen nicht um mich herum verteilen, sodass es irgendwie okay ist.
Nichts in mir ist an diesem Abend zur Ruhe gekommen. Ich denk ein bisschen nach.
 
Was ist, wenn diese ständige Wut in mir gar nicht so viel mit ihm zu tun hat? Sondern eher ein ständiges Pendeln ist.
Vielleicht geht es nicht um Verabredungen, die nicht eingehalten werden. Um Planungen, die irgendwie an mir vorbei geplant werden. Und auch nicht darum, dass wir nicht vorankommen in dieser Beziehung. Naja, wahrscheinlich geht es in Teilen darum, aber nicht nur. Das wirkt immer so plausibel, auch für das Außen: „Ja genau, darauf kann man wütend sein.“ Und deshalb ist es auch so einfach, das so zu sehen. Und auch, das nur so zu sehen. Die eigenen Anteile da gar nicht so zu hinterfragen.
 
Wut entsteht oft aus Überforderungssituationen. Aus Hilflosigkeit. Aus Dingen, die nicht geklärt sind, nicht ausgesprochen sind, nicht beim Adressaten gelandet sind.
Pendeln. Auf der einen Seite wünsche ich mir so sehr, dass wir uns sicher mit dieser Beziehung sein dürfen. Dass die Beziehung eine Säule im Leben wird, die unverrückbar ist, die so schnell erstmal nichts umschmeißt. Auf der anderen Seite gibt es nichts, das mir mehr Angst macht. Und dann ist die Wut der Distanzhalter. Die Hintertür, über die man raus kann, wenn es zu viel wird.
Damit torpediere ich nur leider das, was ich mir am meisten wünsche. Immer, wenn wir wieder ein bisschen näher zusammengerückt sind, schreit irgendetwas in mir „das wird jetzt zu viel“ und dann geht es wieder los. Vornehmlich scheinen Urlaube das echt gut auslösen zu können.
Aber ich will diese Beziehung ohne Distanzhalter.
 
Vor vier Jahren dachte ich noch, wir könnten das „alte Leben“ retten. Bis zum Morgen des 3. Juli. Es hat immer irgendwie geklappt. Wir waren beide schon mehrfach in der Psychiatrie gewesen, wir kriegen das doch wieder hin. Aber das hier; das war irgendwie anders. Gerichtlicher Beschluss. Medikamentenmissbrauch. Abhängigkeit. Eine massive Angststörung, teilweise war das richtig paranoid. Nach und nach kam alles raus und immer war ich ein Ticken zu spät. Und wie zur Hölle sollte diese Beziehung weitergehen? Ich würde niemals Jemanden sitzen lassen, weil er krank ist, aber es war auch klar, dass es eine Normalität für lange Zeit nicht mehr geben würde und dass all das von dem wir geträumt haben, noch eine Weile würde warten müssen. War er überhaupt noch der Mensch, den ich damals kennen gelernt hatte? Gab es den überhaupt oder war das alles nur ein sehr gutes Schauspiel um so Vieles zu verdecken?
Und dann kam mit seinem Tod wieder alles anders.
 
Die Trauer steht nicht mehr so im Vordergrund.
Sie ist immer noch da, aber irgendwie anders. (ich hätte nicht gedacht, dass ich das mal sagen würde). Nicht mehr so alternativlos, wie sie mal war. Sie hat nicht mehr dieses Bodenlose. Ich glaube, es wird okay, dass er nicht mehr da ist.
Aber was immer noch da ist ist das, was diese Zeit hinterlassen hat.
Ich glaube, manchmal sind wir zu streng mit unseren Psychosomatik – Patienten. Das klingt so furchtbar abgedroschen, aber ich glaube, wenn man es nicht erlebt hat, ist es manchmal kaum nachvollziehbar, auf welchen Ebenen sich Dinge auswirken. Und wir haben zum Glück die meisten Dinge nicht erlebt, die unsere Patienten erlebt haben.
Die Mutter des verstorbenen Freundes ist bis heute manchmal so, wie diese Frau, die ich bald in meiner Gruppe haben werde. Sie hat lange gebraucht um zu akzeptieren, dass ihr einziger Sohn sich das Leben genommen hat und ab und an wenn ich da bin, dann schaut sie mich eine Weile an und fragt dann, ob es nicht ein Unfall gewesen sein könnte. Es war nicht meine Art damit umzugehen, aber ich kann verstehen, dass man das nicht sehen will. Teilweise wollten das nicht mal Therapeuten sehen. „Es könnte doch ein Unfall sein“, hat mir eine Therapeutin immer wieder versucht einzureden. Weil es die Therapie wohl wesentlich einfacher gemacht hätte.
 
Ich wär fast mitgestorben, als er gegangen ist. Ich weiß nicht mehr, wie ich in die Studienstadt gekommen bin. Aus Erzählungen, das ja, aber für mich selbst ist diese Erinnerung nie zurückgekommen. Ich weiß, dass zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Menschen da waren und auch keine Fragen mehr gestellt haben. Menschen, die mich aus dem Nichts kurz an die Hand genommen haben und genauso schnell wieder verschwunden sind, als ich in Sicherheit war. Ich weiß, dass ich Tage später auf der geschlossenen Psychiatrie das erste Mal langsam durch den Nebel in meinem Kopf schauen konnte. Und ab da weiß ich auch wieder etwas.
Ich weiß, dass mich die bis dahin engste, vertrauteste und sicherste Verbindung Jahre gekostet hat.
„Ich weiß nicht, was ich die Jahre danach gemacht habe“, habe ich mal gesagt. „Naja, wahrscheinlich irgendwie mit den Depressionen zurecht gekommen“, war die trockene Antwort. Aber wahrscheinlich mit eine der echtesten und aufrichtigsten Situationen.

Es ist nicht nur so, dass ein Versprechen an einen Sommer übriggeblieben ist, den wir nie gelebt haben. Nach dem Examen, wenn der Lernstress von zwei Examensjahren hintereinander aufhört und wir endlich mal genug Geld haben; das wird unser Sommer, das wird eine Zeit, die bleibt.
Das wäre im ersten Corona – Jahr sowieso nicht möglich gewesen, wahrscheinlich auch sonst nicht, aber die Idee gibt es immer noch. Weshalb ich das auch nur schwer akzeptieren kann, diesen Sommer mit Neuro in jeder freien Minuten zu verbringen. Ich will das Meer sehen, mit den Fischen um die Wette schwimmen, die Sonne auf der Haut spüren. Ich will durch Sanddünen rennen, ich möchte im Süden sein, irgendwo dort, wo es abends noch so warm ist, dass man in einer der Städte mit Blick über das Meer auf einer Mauer hockend noch ein Eis essen kann, während hinter einem die Stadt pulsiert, den wichtigsten Menschen neben mir sitzend.

Altes Foto, das ich auf meinem PC gefunden habe. Sehr alt. 11 Jahre. Seitdem glaube ich nicht mehr dort gewesen. Das wäre der Traum für diesen Sommer. Natürlich mit dem Kardiochirurgen

 

Es ist schwer zu erklären, weil es wahrscheinlich nicht rational ist, aber diese fundamentale Erschütterung, die sein Tod war, ist wie eine leuchtende Warnlampe übriggeblieben. Und wahrscheinlich muss man auch immer bedenken, wo man her kommt. Wenn sichere Bindungen bis dahin kaum existent waren, dann war das nochmal mehr, das nicht mehr da war. Die Kosten dieser Beziehung standen in keinem Verhältnis zu dem, was sie mir gegeben hat.
Und ich denke manchmal, so sehr Du glauben möchtest, dass es ja auch einfach mal gut werden kann, ist es auch ein bisschen wie ein Tattoo, das sich in die Seele eingebrannt hat. Diese Erfahrung, dass das, was hätte der Anfang vom besten Kapitel des Lebens werden sollen, zum größten Alptraum geworden ist.
Ich will das nicht mehr so, habe ich über Jahre gedacht. Und dann war es ein ewiger Kampf zwischen der Frage, ob ich jetzt also allein bleiben werde, oder wie ich das lösen soll. Zwischendurch kam der ehemalige Freund, aber das war von Anfang an keine Beziehung, die Sicherheit vermittelt hat. Optimal also für mich. Es war vom ersten Wochenende an klar, dass das nicht hält.
Und dann kam dieser Abend, an dem wir im CT ineinander gerannt sind. Der Kardiochirurg und ich. Ich hab leisen Protest in meinem Kopf gespürt und gleichzeitig das Herz, das vom ersten Moment an wusste, dass das eine Begegnung mit Folgen ist. Und so sehr, wie wir auch manchmal miteinander kämpfen und die Grenzen des anderen austesten – aber ich glaube, das hat mehr Bestand, als mit dem ehemaligen Freund. Wir wissen beide, dass wir nur einen Partner im Leben haben wollen, dass wir uns um die Karriere und um uns als Paar kümmern wollen, dass wir irgendwann eine Familie gründen wollen. Auch, wenn es nicht immer klappt mit dem Jonglieren all dessen, das wichtig ist. Und, dass wir respektvoll miteinander umgehen wollen. „Ich will Dich nie verletzten bei dem, was ich mache“, sagte er auch kürzlich. „Naja, aber Du hast ja jetzt seit neun Monaten eine Freundin, da musst Du Dich doch langsam schon daran gewöhnen, die Dinge abzusprechen.“ Es wird. In Babyschritten. Manchmal ruft er nach der Arbeit seit Neuesten von allein an und fragt, ob er noch vorbei kommen darf.
 
Ich stelle es mir vor, als würde ich in viel zu kaltes Wasser gehen. Nicht so mutig, wie wir das in Slowenien gemacht haben. Sondern eher so theatralisch, wie man das sonst so macht. Man steckt einen Zeh rein, befindet, dass es zu kalt ist, zieht den Zeh wieder aus, um ihn ein paar Sekunden später wieder ins Wasser zu halten und vielleicht einen weiteren Zeh dazu.
Es dauert wahrscheinlich lange, aber irgendwann wird man auch schwimmen. Und bis dahin wird es vielleicht noch ein langes Pendeln sein. In dem ich aufpassen muss, dass ich die Menschen um mich herum nicht verletze, weil ich meine Unsicherheit ins Außen delegiere. Und vielleicht noch oft eine Hand im Rücken spüren muss, die mich vorsichtig ein Stückchen weiter ins Wasser schiebt. Das Meer ist nicht gefährlich, nur weil einen ein Mal eine Welle überspült hat. Aber erkläre das mal dem Kopf, der einen Augenblick zu lang gedacht hat, wir ertrinken darin.
Manchmal wünschte ich, die Narben wären nicht so tief.
Aber er machst das schon gut. Intuitiv. Einfach in den Arm nehmen und Sicherheit vermitteln. Hirn runter regulieren, wenn ich das gerade nicht mehr so gut kann.


***

Ich weiß, das ist jetzt wieder komplett das Gegenteil von dem, das ich letztens geschrieben habe, irgendwie bin ich da nur einfach selbst sehr verwirrt. Die Gedanken kamen mir letztens, nachdem ich mal wieder total wütend war, er mich dann einfach in den Arm genommen hat und ich dann lange geweint habe und nicht recht wusste, wieso. Manchmal denke ich, ich schimpfe echt schon oft auf ihn, aber er macht schon auch etwas mit mir mit.    

Morgen habe ich erstmal Dienst. Es kommt selten vor – vielleicht so ungefähr alle 20 Dienste – dass ich gar keine Lust darauf habe und leider ist in Bezug auf morgen so ein Tag. Vielleicht besucht mich der Kardiochirurg abends kurz und wenn er noch etwas zu essen mitbringt, rettet das schon fast den Dienst.
Und dann ist am Wochenende das Konzert von Florian Künstler in der Dresden und ich freue mich so, so sehr. Ihr bekommt sicher einen Bericht. Ich war auch noch nie mit einer Kollegin unterwegs.

Mondkind


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