62 Monate
Mein lieber Freund,
letzten Monat war der erste Monat ohne Brief. Ich habe dran gedacht an dem Tag und auch immer wieder vorgehabt, zumindest ein paar Zeilen zu schreiben, aber es ging dann doch nicht wenige Tage vor der wichtigsten Prüfung seit sechs Jahren. Und irgendwann habe ich mir gedacht, ich höre auf mich zu stressen und vertraue darauf, dass es für Dich okay gewesen wäre.
Und jetzt ist Deine „Lieblingsärztin“ von damals Fachärztin.
Wahrscheinlich macht nichts so brutal klar wie diese Meilensteine, wie viel Zeit vergangen ist, seitdem Du nicht mehr da bist. Als Du gestorben bist, war „Facharzt“ gefühlt ein Begriff aus dem Universum.
Und falls Du fragst: Nein, man fühlt sich nicht plötzlich wie das „Brain“. Schließlich wirst Du nicht plötzlich schlauer über Nacht. Und wenn die Oberärzte das nicht korrigieren, unterschreibe ich die Briefe ehrlich gesagt immer noch als „Assistenzärztin“. Ich muss mich erst gewöhnen an diese neuen Umstände, was glaube ich streckenweise für etwas Irritation sorgt.
Tatsächlich habe ich gedacht, dass dieser Facharzt mich doch etwas stolzer und glücklicher machen wird, als diese ganzen anderen Medizinerdinger wie Staatsexamen und Co, weil er mich ja immerhin endlich befreit, aber so richtig… - ist das noch nicht angekommen.
Insbesondere meine Psychosomatik – Kollegen waren so stolz, dass es schon irritierend war. Aber auch super schön.
Und was vor allen Dingen schön ist, ist wieder einen Weg in ein geregeltes Leben zu finden. Einfach mal unter der Woche einkaufen gehen zu können, weil eben etwas fehlt und man nicht irgendwelche Lernzeit irgendwo wieder rein holen muss. Mal spontan mit Freunden telefonieren, weil der Schuh eben gerade drückt. Und eben überhaupt zu sehen, dass meine Studienstadt – Brigade die Lern- und Maulwurfzeit diesmal ganz gut weg gesteckt hat. Mit einer ehemaligen Freundin habe ich keinen Kontakt mehr, aber das lief dann auch schon vorher etwas holprig.
Allerdings spüre ich auch seit mittlerweile anderthalb Wochen deutlich, dass ich wahrscheinlich doch platter bin, als ich das gehofft hatte danach. Ich habe fast permanent Kopfschmerzen und bin so müde, dass ich eigentlich in jeder Ecke schlafen könnte. Ich hoffe, das gibt sich bald wieder – die Stimmung leidet da nämlich auch schon ordentlich drunter. Ich kann die Kollegen bald schon kaum noch ertragen ehrlich gesagt. Vielleicht kann ich schon vor Oktober ein paar Tage frei bekommen.
Ansonsten war ich in diesem Monat wieder in der Studienstadt. Ich merke immer mehr, dass sie diesen Schrecken, der hier jetzt doch ein paar Jahre lag, langsam verliert. Ich komme wieder gerne dorthin und diese Schatten an den Hauswänden, die mir lange Zeit die Erinnerungen an uns beide ungefragt ins Gesicht geklatscht haben, werden weniger. Ich erinnere mich gern an unsere Zeit dort, aber es tut langsam weniger weh und kommt nicht mehr so ungefragt. Ich kann Zeit mit meinen Freunden genießen und in einer ruhigen Minute trotzdem an Dich denken.
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Dieses jahr fallen schon jetzt die Blätter von den Bäumen, Du. Icvh weiß nicht, ich finde das sehr... früh? |
Ich frag mich oft im Moment, wo sich unser Leben hingedreht hätte, wenn Du noch hier wärst. Hätte ich überhaupt jetzt Facharzt gemacht? Oder wäre ich vielleicht schon vorher in die Psychosomatik gegangen und einfach dort geblieben? Hätten wir schon Kinder? Oder hätte es vielleicht eine Krise nach der nächsten gegeben und ich wäre noch gar nicht so weit, weil wir immer wieder mit Stabilisieren beschäftigt gewesen wären?
Ich muss mir jetzt gut überlegen, was ich mache. Ich möchte gerne zurück in die Psychosomatik und ehrlich gesagt nervt mich der Stationsalltag auf der Neurologie aktuell ziemlich. Ich sitze zwar auf der besten Station, in der Du in diesem Laden sitzen kannst, aber trotzdem. Ich frage mich aktuell noch ein bisschen, ob es einfach diese generelle Reizbarkeit ist, oder ob das jetzt eben einfach wirklich die Neuro ist, aber grundsätzlich war der Plan ja nie, nach dem Facharzt noch lange hier zu bleiben – deshalb habe ich den ja so schnell gemacht.
Und dennoch bin ich mir aktuell einfach noch unsicher, wie ich weiter machen soll. Zweiter Facharzt, oder vielleicht Zusatzweiterbildung und ist die Psychosomatik hier am Standort wirklich die geeignete Klinik? Vielleicht kann ich auch versuchen, dieses Konzept umzusetzen, das ich mit dem Intensiv – Oberarzt besprochen hatte, dass ich 50 % in beiden Fachrichtungen arbeite. Natürlich stehst Du da auch irgendwo zwischen Baum und Borke, das ist mir klar, aber ich glaube für mich wäre es für den Übergang besser. Ich habe so ein bisschen den Eindruck, aktuell sind alle mir nahe stehenden Menschen, die auch etwas damit zu tun haben etwas genervt von meiner augenscheinlichen Unentschlossenheit, was mich auch wieder stresst… hach ja.
Und was ich mit Dir mache dieses Jahr, muss ich mir auch noch überlegen. Ich würde unglaublich gerne bei Dir vorbei fahren. Wahrscheinlich würde ich aber diesmal wirklich nicht bei Deiner Mum übernachten. Ich habe etwas Sorge, dass sie das persönlich nimmt, aber ich bin abends immer so geplättet von diesen Gesprächen, dass ich mich ganz dringend zurück ziehen möchte und auch irgendwie raus aus dieser Wohnung möchte, aber das geht dann ja nicht.
Es ist auch die Frage, wann ich das mache – dazu bräuchte ich mal eine gescheite Urlaubsplanung mit dem Kardiochirurgen, weil es sicher mehr als genug freie Tage gibt, an denen wir uns ohnehin nicht sehen können, aber das ist bekanntlich schwer.
Jetzt halt erstmal die Öhrchen steif, ich versuch das auch. Ich bin sehr froh, dass ich jetzt wieder regelmäßiger in die AGUS – Gruppen gehen kann und freue mich da echt auf die nächste Woche.
Und dann hören wir uns. Im nächsten Monat dann kurz vor meinem zweiwöchigen Urlaub und ich bete einfach, dass ich dann wirklich mal die Füßchen hochlegen und mich entspannen kann.
Liebe Grüße
Mondkind
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