Von Notaufnahme und Wirbelwinden
„Mondkind, kommst Du mal bitte mit?“
Wenn der Chef der Nephrologie, der heute Hintergrund in der
Notaufnahme hat das so sagt, hat man irgendetwas verbockt.
Mondkind trottet ihm durch die Notaufnahme hinterher, bis sie
außerhalb der Reichweite der Patienten stehen.
„Mondkind, Sie können nicht jeden retten. Verstehen Sie das? Die
Patienten können nicht hierher kommen und erwarten, dass wir sie in
irgendwelche Fachkliniken verlegen. Wir können da nicht herum telefonieren. Das
müssen die selbst machen. Haben Sie das verstanden?“
Mondkind nickt artig und tritt den Weg zurück in die Notaufnahme an.
Eigentlich ist sie da heute gar nicht eingeteilt. Aber ein Kollege
hatte schon am frühen Vormittag angerufen, dass ihm die Anzahl der Patienten
über den Kopf wächst und Mondkind gebeten, ob sie runter kommen kann. Und
seitdem jongliert Mondkind zwischen ihrer Stationsarbeit und den Patienten in
der Notaufnahme.
Gerade hat sie eine Frau Mitte 30. Alkoholintoxikation. Sie hatte
Mondkind erklärt, dass sie eigentlich einen Termin in der Psychiatrie zum
Entzug hat, aber dass es jetzt so schlimm geworden sei, dass ihr Freund den
Rettungsdienst gerufen habe. Die Patientin hatte Mondkind gefragt, ob man den
Termin in der Psychiatrie nicht vorziehen könne. Denn wenn man sie in drei oder
vier Tagen hier gehen ließe – wie solle sie die Zeit bis zur Aufnahme Mitte des
Monats überbrücken?
„Das ist doch nicht mehr so lange…“, hatte Mondkind mit einem Blick
auf das Datum gesagt. „Doch, das kann sehr lang sein“, hatte die Patientin
entgegnet. Und Mondkind weiß zu gut, wie lang Tage werden können, wenn es
gerade richtig blöd läuft.
„Wir können leider nicht versuchen den Termin in der Psychiatrie
vorzuziehen“, sagt Mondkind, als sie vom Chef zurück kommt. Mondkind schnappt
sich einen Hocker, setzt sich neben die Patientin und füllt die
Aufnahmeunterlagen weiter aus.
„Ich habe ja auch noch eine Essstörung. Das verstehen die hier ja gar
nicht. Aber ich kann hier wirklich nichts essen…“, erklärt sie.
„Und Ihr Freund… ?“, fragt Mondkind. „Kann der Ihnen vielleicht etwas
bringen…?“
„Ich glaube nicht, dass der kommt. Wir haben uns nämlich gestritten…“
Sie taut auf. Erzählt Mondkind, dass Ihr Freund auch abhängig sei, sie
ihn während der letzten Entwöhnungstherapie kennen gelernt habe und sie dann
hier in der Gegend hängen geblieben sei. Eigentlich komme sie aus dem Norden. Sie wollten hier neu anfangen.
„Und irgendwie hat das… nicht funktioniert“, sagt sie und kann ihre
Tränen nicht mehr verbergen.
Sie erklärt, dass sie sich so sehr dafür schämt, vor ihrer Familie,
ihren Freunden und auch im Krankenhaus. Sie nehme doch den ganzen alten Leuten
den Platz weg.
„Helfen Ihnen diese Gedanken gerade?“, fragt Mondkind.
„Nein…“
„Dann versuchen sie sich nicht den Kopf über die anderen zu zerbrechen
im Moment. Ich weiß, das ist schwer. Aber in Bezug auf das Krankenhaus brauchen
Sie keine Sorge zu haben. Wir haben gerade ein paar Betten frei bei uns. Wir
kriegen Sie und alle anderen die ein Bett brauchen, bei uns unter. Und außerdem
darf jeder dem es schlecht geht, bei uns sein. Egal wie alt er ist oder welche
Erkrankung er hat.“
„Wissen Sie was…?“
„Nein…?“
„Es gibt nicht viele Menschen wie Sie. Die sich wirklich Zeit nehmen.
Und einen nicht sofort verurteilen.“
Der Oberarzt, der zwischendurch bei Mondkind vorbei gekommen war,
hatte nur wenige Sätze übrig. „Sie müssen aufhören zu trinken. Sie verlieren
alles. Ihre Familie, Ihre Freunde, Ihr Lebensumfeld. Wollen Sie das?“
Ein bisschen fragt Mondkind sich, was jetzt besser ist. Ob nicht auch
manchmal solche Ansagen wichtig sind, auch wenn es im ersten Moment zu hart
erscheint.
Es ist viel zu spät am Nachmittag, als Mondkind noch ihre Briefe
wegdiktiert. Sie wollte den Kollegen in der Notaufnahme nicht allein lassen und
war bis kurz vor dem regulären Feierabend dort. Er ist nämlich auch noch neu –
kürzer als Mondkind ist er da.
💜 Dass Natur so wunderschön sein kann... |
Eigenes Chaos.
Mondkind kommt nach Hause. Viel zu spät.
Der erste Blick in die Mails. Der Betreuer ihrer Doktorarbeit ist ein wenig
ungeduldig und hat zur Eile ermahnt. Seitdem Mondkind weg ist, hat er das
dritte Herz organisiert. Man erinnere sich – davor hatte es in drei Jahren ein
einziges Herz gegeben. Es scheint fast so, als befürchte er, dass Mondkind doch
noch auf die Idee kommen könnte, hier eine neue Arbeit in der Neuro zu
beginnen, was rein strategisch kein schlechter Schachzug wäre.
Mondkind arbeitet so schnell sie kann. Sitzt jeden Tag nach dem
Krankenhaus noch am Mikroskop. Vergisst das raus gehen und den Sommer ein
wenig.
Immer noch wackelt ihr Gleichgewicht. Auch wenn der Montag zumindest
besser geklappt hat, als die letzte Woche aufgehört hat. Aber Mondkind hat ihn
auch im Kopf. Den Wegpunkt. Freitag. Es ist nicht mehr weit. Und was danach
kommt, das kommt erst danach. Ihre Zeitrechnung geht erstmal nur bis Freitag 14
Uhr. Und bis dahin wird es gehen.
Da sind sie – diese Momente.
Es ist, als würde ein Wirbelwind durch sie hindurch ziehen. Sie einmal
völlig durcheinander bringen, ihre kleine Welt aus ihren Fugen heben, das
Gleichgewicht ordentlich durchschütteln.
Da ist nichts mehr, an dem sie sich festhalten kann, weil kein Stein
mehr auf dem anderen steht.
Es sind diese Momente, in denen selbst die Stille zu laut ist. In
denen der Tag so schwer auf den Schultern liegt, in denen sie sich so
zerrissen, so hoffnungslos und verloren auf einmal vorkommt.
Momente, in denen das Dunkel nicht nur in ihr selbst zu sein scheint,
sondern auch die Welt um sie herum von einem grauen Schleier überzogen ist.
Momente, in denen sie die Farben nicht mehr sieht.
Diese Momente, in denen man glaubt, die nächsten zwei Stunden nicht
überleben zu können. Weil es einfach zu viel ist. Da ist kein Gefühl mehr, das
man benennen könnte. Da gibt es nichts mehr, um das man wen bitten könnte, weil
nichts mehr hilft.
Und wenn der Sturm vorüber zieht und der Ruhe Platz macht, dann fragt
sie sich, ob das wirklich so war. Manchmal versteht sie selbst nicht, wie es
solche beinahe unaushaltbar erscheinenden Momente geben kann.
Mondkind hofft, dass es besser wird, wenn sie am Freitag ein bisschen
ihren Kopf sortieren kann. Und sie dann nicht jeden Tag mehrere Male so nah am
Abgrund tanzen wird.
Und was den Freitag anbelangt… - das wird eine stressige Sache. In der
Nacht von Donnerstag auf Freitag fährt sie in die Studienstadt, dann kommt sie
da morgens um 4 Uhr an, hat aber keinen gefunden, bei dem sie noch ein paar Stunden
schlafen kann. Also wird sie ins Labor gehen. Irgendwann früh ist dann
Arzttermin in der Ambulanz angesagt (das ist wieder jemand Neues – mal sehen,
wie sie oder er es so findet, dass Mondkind die Medikamente etwas hochdosiert hat, um
irgendetwas wie einen Tag – Nacht – Rhythmus zu generieren), am Nachmittag ist
dann Therapie. Dann wollte Mondkind sich noch mit drei Kommilitonen treffen, mit
denen sie noch während der Vorlesungszeit viel gemacht hat und dann fährt sie
abends nochmal zwei Stunden zu ihrem Vater.
Man darf sich also auf chaotische Blogposts gefasst machen…
Mondkind
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