Von einem Telefonat mit der Therapeutin

 Und manchmal wird es doch wieder ein kleines bisschen leichter.
Wenn das Helfersystem erstmal angesprungen ist.
Und ich nicht mehr alleine damit bin.

Gestern hatte ich Dienst – das hat mich schon auch einigermaßen abgelenkt. Nach dem dritten Schockraum innerhalb der ersten zwei Stunden des Dienstes hat man auch nicht mehr so viele Möglichkeiten, außer sich irgendwie auf die Arbeit zu fokussieren, was zu Beginn unglaublich anstrengend ist, wenn da gerade so viel gehört und gesehen werden möchte, aber je mehr man im Tun ankommt, desto leichter wird es.

Heute am Nachmittag hatte ich dann noch einen Telefontermin mit der ehemaligen Therapeutin aus der Studienstadt. Ich bin ihr wirklich so dankbar, dass sie da jetzt so schnell rein gesprungen ist, Zeit gefunden hat. Es war gar nicht so einfach sich im laufenden Betrieb 50 Minuten abzuseilen, aber ich habe es dann doch pünktlich geschafft, habe mit dem Telefon einer Kollegin, die gerade nicht da ist telefoniert und der Kollegin auf Station eingeschärft, dass ich ein wichtiges Telefonat habe und sie mich nur auf meinem Telefon anrufen soll, wenn es einen Notfall gibt. Zum Glück gab es keinen.

Zuerst haben wir eine ganze Weile über den Facharzt gesprochen. All den Tribut, den diese Vorbereitung fordert, ohne dass bis jetzt klar ist, ob das auch alles etwas nützt. Gestern hat mich der Chef angerufen (er ruft immer Sonntagmorgen den Dienstarzt an) und hat mir gesagt, dass einer der drei Verbleibenden das Zeugnis nun unterschrieben habe; das habe er gehört. Bei ihm hatte ich nie Sorge, das ist einfach nur eine Zeitverzögerung. Und natürlich habe ich dann wieder Stress und denke mir: Aha, es geht voran, vielleicht muss ich doch mehr lernen. Natürlich lag das Zeugnis heute doch nicht in meinem Fach, sodass ich es weiter an den Nächsten geben kann und wer weiß, ob das diese Woche passieren wird. Im Prinzip ist es ja seit Monaten so, dass mir die kleinstmögliche Möhre vor die Nase gehalten wird, dass ich irgendwie den Eindruck habe es geht voran und dann geht es aber doch nicht voran. Und gleichzeitig verzichte ich auf Freizeit, darauf meine Freunde zu sehen, Dinge zu tun, die mir persönlich wichtig sind. Letzten Endes löst das ganz viele Gefühle von Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein aus. Wenn ich das Projekt Facharzt zu einem guten Abschluss bringen möchte, dann kann ich jetzt gerade nichts tun außer warten und immer mal wieder Impulse setzen und nachzufragen.
Auch Frau Therapeutin meinte, dass ich dringend eine Pause machen muss – insbesondere auch deshalb, weil ich ihr erzählt habe, dass ich im Moment super reizbar bin und manche Dinge in den letzten Tagen etwas unüberlegt waren. Es war nicht falsch das so zu entscheiden, aber man hätte sich mehr Gedanken machen müssen und mehr Nutzen – Risiko – Abwägung betreiben müssen – denn auch wenn man die Leitlinien kennt, sind die nicht als allgemeingültiges Rezept zu verstehen. Jeder Patient ist individuell und man kann nicht alle Eventualitäten mit einer Leitlinie abdecken.
Jetzt ist nur noch die Preisfrage: Wie mach man Pause ohne schlechtes Gewissen?

Und dann ging es auch noch eine ganze Weile um die Beziehung mit dem Freund.
Ich habe ihr auch nochmal erzählt, wie unsere letzten Wochen gelaufen sind und, dass ich selten auf einen Menschen so oft so wütend war. Vom Prinzip her bin ich ein echt geduldiger Mensch und kenne das gar nicht, dass es einen Auslöser gibt und ich dann eigentlich gar nichts mehr regulieren kann. Ich merke das teilweise schon, wie ich dann innerlich hochdrehe, aber ich kann es nicht anders machen. Da ist so viel Stress in mir, das ist so ein Überflutungserleben, dass es raus muss und dann landet es halt bei ihm. Und im Kern ist das sicher auch berechtigte Kritik, ich bin schon unzufrieden, wenn ich mich aufrege. Aber natürlich ist das bisweilen übertrieben.
Sie ist schon auch der Meinung, dass das eine Ursache haben muss und dass die wahrscheinlich in den familiären Strukturen zu finden sein wird. Insbesondere, weil es natürlich zu Hause nicht erlaubt war wütend zu sein. Da hatte man immer brav und angepasst zu sein und sonst gab es Strafen, die sich schon gewaschen hatten und die vor allen Dingen auch immer exponentiell waren. Beim Lernen gab es für einen Fehler in der Matheaufgabe immer zehn neue Aufgaben – also zehn neue Möglichkeiten, Fehler zu machen. Waren da wieder zwei Aufgaben falsch, hatte man 20 neue Aufgaben am Hals und das haben die so lange durchgezogen, bis sie uns für dumm erklärt und entnervt aufgegeben haben. Und so lief das auf vielen Ebenen. Es war im Kern vielleicht nicht die allerschlechteste Grundüberlegung, aber denkbar schlecht und übertrieben und auch sehr wertend umgesetzt. Es hatte schon vieles den Charakter von Strafe und nicht von ehrlicher Auseinandersetzung. Dementsprechend war man gerade mit negativen Emotionen besser beraten, die einfach runter zu schlucken, statt irgendeine Eskalation zu riskieren.
Die Frau Therapeutin hat noch eine Parallele zum Facharzt gezogen und meinte, dass dann von diesen eher kleineren Auslösern wahrscheinlich eine ganze Kaskade in Gang gesetzt wird. Da ist noch die Wut, die schon damals durch ähnliche Kommunikationsmuster ausgelöst wurde, wie das zwischen dem Freund und mir ist, aber das hat wahrscheinlich auch ganz viel mit dieser erlebten Hilflosigkeit zu tun. Mit der, die real jetzt vorhanden ist – und das meint nicht nur die Hilflosigkeit in Bezug auf den Umgang mit dem Freund, sondern auch die Hilflosigkeit in Bezug auf den Facharzt und die erlebte Hilflosigkeit von damals.
Und wenn das alles zusammen kommt, dann wirkt es wie eine Flut.

Natürlich ist die Dame auch Verhaltenstherapeutin und dann muss man sich Gedanken machen, wie man damit umgeht. Mit dem Freund ist das quasi nicht besprechbar, er wird nicht als Stütze mithelfen können.  Aber wenn ich da selbst schon merke wenn es los geht, kann ich vielleicht früh genug zumindest vorschlagen, dass wir uns jetzt gerade nicht weiter mit uns auseinander setzen, bis ich mich beruhigt habe. Das wird wahrscheinlich schwer, weil ich mir das schon öfter vorgenommen habe, aber ich versuche es wieder. Und vielleicht hilft es, sich bewusst zu machen, dass das gerade ein ganzes Konglomerat von Situationen ist, die diese Gefühle auslösen und dass das nicht alles etwas mit dem Jetzt zu tun hat.

Wir haben auch noch kurz über meine kürzliche Gefühlseskalation in Bezug auf den verstorbenen Freund geredet – auch hier ähnliches Muster. Ganz viel Trauer und natürlich ganz viel Hilflosigkeit. Ich habe getan was ich konnte und konnte ihm trotzdem nicht helfen. Reiht sich also ein. Zumal Dinge sowieso näher kommen, wenn die Psyche gerade nicht so stabil ist. 


Im Endeffekt habe ich diese Situationen wie ich sie jetzt erlebe, früher eigentlich nicht erlebt. Ich hätte auch nicht gedacht, dass das mir passiert, dass die Vergangenheit nochmal so eine große Rolle spielt. Damals, als ich noch in der Studienstadt studiert habe, war es immer alles schwierig, aber nicht so.
Vielleicht macht das  tatsächlich erst der Abstand. Vielleicht lässt erst eine Änderung der äußeren Umstände die ganzen Muster erkennen, die heute so hinderlich sind. Früher habe ich ja noch in der Studienstadt gelebt, war für meine Familie immer wieder greifbar und natürlich haben die mich rein strukturell immer gegriffen. Bevor die Familie auseinander fällt, suchen wir uns mal einen externen Sündenbock und wer könnte besser geeignet sein als jemand, der aus diesem System ausgebrochen ist und es damit sowieso in Schieflage gebracht hat? Man musste sich mit dem was Innen lief nicht beschäftigen, wenn man es perfekt externalisieren konnte. Wahrscheinlich waren wir deshalb in der Therapie wenig mit Aufarbeitung beschäftigt, sondern mehr mit permanenten Brände löschen. Und dadurch fiel so etwas gar nicht auf – vielleicht hätte es das sonst sogar auch gegeben.

Zumindest was das Überflutungserleben mit dem verstorbenen Freund anbelangt, meinte meine Psychosomatik – Oberärztin (über den Rest spreche ich mit ihr nicht, aber das hat sie ja im Sommer ohnehin mitbekommen), dass das wahrscheinlich viel mit Trauma zu tun hat. Vielleicht reiht sich der Rest da auch ein, nur eben auf einer anderen Ebene.
Ich muss sagen, dass ich das für mich noch sehr schwer annehmen kann. Ja, es ist viel passiert, es ist auch viel Schlechtes passiert. Aber das jetzt als Trauma im pathologischen Sinn zu bezeichnen – und mich dann auch irgendwo als traumatisiert - kommt mir immer sehr übertrieben vor und so, als würde ich das quasi alles übertreiben, wenn die anderen auf so etwas kommen.

Und natürlich habe ich auch viel über Eigenverantwortung gelernt. „Wir wollen nicht, dass Sie wieder dekompensieren, das soll nicht wieder in der Klinik enden“, sagte Frau Therapeutin. „Nein, das will ich auch auf gar keinen Fall“, habe ich so ziemlich wie aus der Pistole geschossen entgegnet. Das hätte ich viele Jahre so nicht gekonnt, wenn man ehrlich ist. Und das heißt nicht, dass ich nicht manchmal immer noch versucht wäre zu sagen: „Bitte halt mich einfach fest, damit ich nicht auseinander falle“, was glaube ich einer der Wünsche dahinter war, aber ich sehe mittlerweile, dass ich da auch viel Eigenverantwortung habe und dass mir auch eine Klinik nichts davon abnehmen kann. Zumindest langfristig.
Und dann habe ich in der Psychosomatik ja die Rückmeldung bekommen, dass ich das alles gut mache und dass die mich für geeignet halten. Das war für mich eine große Erleichterung, dass es nicht nur mein Wunsch ist in diesem Job zu arbeiten, sondern man mir da auch gewisse Fähigkeiten bescheinigt. Ich finde es auch selbst nicht schlimm, dass meine psychiatrische Vorgeschichte eben ist, wie sie ist. Aber man muss auch mal den Absprung schaffen. Es muss schon einen Unterschied zwischen den Patienten und mir geben. Ich kann nicht in diesem Job arbeiten, wenn ich mich selbst nicht regulieren kann. Immerhin hat man ja auch Vorbildfunktion. Und das heißt nicht, dass ich sage, man soll nicht zur Therapie gehen, wenn man in diesem System arbeitet. Das muss man ja auch. Stichwort Selbsterfahrung. Aber Klinik muss es nicht unbedingt sein.
Den Gedanken fand die Therapeutin gut.

Und trotzdem bleibt die Frage, wie man damit umgeht. Ich glaube ein Laienhänden ist so etwas eben langsam schwer aufgehoben. Weil man zu leicht drüber hinweg gehen kann. Wie sollen andere Menschen das ernst nehmen, wenn ich mich selbst nicht ernst nehmen kann.
„Sobald es mir minimal besser geht, starte ich ja auch wieder durch und finde die Notwendigkeit mich darüber mit wem auszutauschen ziemlich übertrieben. Ehrlich gesagt schäme ich mich mittlerweile schon ziemlich dafür.“ „Naja bei Ihnen musste man immer schon aufpassen, weil Sie eigentlich selten vermitteln konnten wie es Ihnen geht, wenn es Ihnen schlecht ging“, sagt Frau Therapeutin dazu.
Sicher wird das irgendwann im Rahmen von Selbsterfahrung mal Thema sein können, bis dahin dauert es aber sicher noch ein bisschen. Und bis dahin muss ich es halt händeln, im besten Fall nebenbei einen Facharzt gemacht haben und nicht die Beziehung zerstört haben.

Am Ende sind 50 Minuten immer viel zu schnell vorbei.
Sie hat dann auch angeboten, dass ich mich nochmal melden kann, wenn etwas ist. Über Karneval habe sie Urlaub, aber sonst sei sie erstmal da. Dafür bin ich auch sehr dankbar. Dass sie nicht gesagt hat: „Melden Sie sich mal in drei Monaten“, sondern dass sie mir die Möglichkeit gegeben hat auch zeitnah nochmal zu sprechen, wenn es sein muss und da klare und transparente Strukturvorgaben macht. Und ich glaube wir kennen uns mittlerweile lange genug um zu wissen, dass ich das nicht grundlos ausnutzen werde. „Ein bisschen Telefoncoaching können wir schon machen“, meinte sie dazu.
Auf jeden Fall konnte ich heute sehr davon profitieren und bin sehr froh über den heutigen Tag.

Mondkind

P.S. Ich muss mal wieder Fotos machen... 

Bildquelle: Pixabay

Kommentare

  1. Was meinte sie zu der (derzeit eher dysfunktionalen) Dynamik mit deinem Freund?

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    1. Hey,
      Naja vom Prinzip her haben wir über ihn im Speziellen gar nicht so viel geredet. Sie meinte an irgendeiner Stelle: "Sie werden ihn nicht ändern - das wissen Sie schon." Ich denke ihr Meinung geht schon in dieselbe Richtung wie die von den meisten anderen auch: Entweder man akzeptiert halt, dass er mit seinem Job verheiratet ist, oder nicht.

      In den letzten Tagen mache ich mir darüber schon viele Gedanken. Ich habe schon Momente, in denen ich das akzeptieren kann, dass ich so wenige guten Momente mit ihm sammeln kann und die eher mit anderen Menschen erlebe. Ich meine - mit wem gehe ich auf Konzerte, mit wem gehe ich mal frühstücken, einen Kaffee trinken, mit wem kann ich tiefe Gespräche darüber führen, wie es mir eigentlich geht und das mich beschäftigt? Das ist halt in den meisten Fällen nicht der Freund. Mich tröstet es schon zu wissen: ich habe solche Menschen in meinem Leben - aber klar, ich würde mir natürlich wünschen, dass solche Dinge mit dem Partner möglich sind.

      Manchmal denke ich mir, am Ende des Tages werden wir uns aus rein strukturellen Gründen trennen. Wir hatten im Februar glaube ich keinen einzigen Tag zusammen, sind kein einziges mal am Wochenende entspannt nebeneinander aufgewacht, dienstemäßig sind gerade diese Tage eine totale Katastrophe, aber das passiert halt auch, wenn Dienstpläne nicht geteilt werden, wenn sie raus kommen. Er hatte Donnerstag 24 - h - Dienst, ich hatte gestern, er hat heute wieder - vielleicht sehen wir uns morgen Nachmittag noch, aber das weiß man auch noch nicht, kommt darauf an, wie seine Nacht wird.
      Ich weiß nicht, ob das ewig gehen wird. Keine Ahnung.

      Liebe Grüße
      Mondkind

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