Ein Freitagabend - Bürogespräch
Ich wähle die einzige Nummer, die ich an diesem Campus auswendig kann.
Stehe im alten Neurogebäude zwischen einem Weihnachtsbaum, den sie
gestern bei uns aufgestellt haben und einem Blumentopf.
„Kann ich kommen?“, frage ich. Halb fünf. Kann noch nicht zu spät sein…
„Mach Dich jetzt auf Mondkind…“ „Jetzt…?“, hake ich nach. „Ja“, entgegnet mein
Gegenüber. „Ich muss eigentlich noch einer Patientin erklären, dass sie eine
Epilepsie hat…“, werfe ich ein. „Dann mach das erst noch und komm dann… - das
wird ja keine halbe Stunde dauern…“
Naja, eine Epilepsiediagnose ist kein Pappenstiel.
Es ist meine erste eigene Epilepsiediagnose. Zwar haben die Radiologen
die Bilder gesehen und eine Hipppcampussklerose diagnostiziert und eine erfahrene
Kollegin hat über die EEGs auch nochmal drüber geschaut und mit mir ein
Behandlungskonzept erstellt, aber niemand hat die Patientin gesehen und sie
nochmal anamnestisch befragt.
Von meinem ehemaligen Epilepsie – Oberarzt habe ich, was solche
Gesprächsführungen und die Vermittlung der sozialmedizinischen Aspekte angeht,
eine Menge gelernt.Die Patientin bricht in Tränen aus. Was ich verstehen kann.
Insbesondere der Wegfall des Führerscheins ist für viele Leute auf dem Land
eine Katastrophe. „Sie hatten das doch schonmal nach dem ersten Anfall. Wie
haben Sie das denn da gelöst…?“, frage ich. Normalerweise würde ich mir jetzt
einen Stuhl holen, mich ans Bett setzen und einfach mal kurz warten. Aber die
Zeit hängt mir etwas im Nacken. „Kann ich gerade noch irgendetwas für Sie tun…?“,
frage ich stattdessen und bediene mich am Repertoire des ehemaligen Kliniktherapeuten.
Sie schüttelt den Kopf. Ist überfordert mit der Frage. (War ich auch oft… - denn
offensichtlich kann man etwas tun – und wenn es nur Dasein ist) „Ich muss jetzt
etwas regeln gehen, aber ich komme nachher nochmal vorbei und schaue nach
Ihnen, okay?“, sage ich. Sie nickt.
Büro.
Ich sitze seitlich auf dem Stuhl, die Beine über der Armlehne baumelnd.
Wir reden über die exorbitant hohe Arbeitsbelastung auf meiner Station.
„Und wie geht es Dir sonst so, Mondkind?“, fragt er irgendwann.
„Naja…“, entgegne ich. „Es ist alles sehr schwierig geworden. Ich habe
mittlerweile wochenlang Bücher zum Thema Suizid gelesen, Dokumentationen
geschaut, Vorträge von Angehörigen geschaut. Das Erleben der Menschen danach
ist ziemlich deckungsgleich. Nicht wenige Beziehungen stecken vorher in der
Krise – das war ja bei uns auch ein bisschen so – und natürlich ist da dieses
Schuldthema einfach überdimensional. Man wird wahrscheinlich nie aufhören, sich
die Frage zu stellen, ob man hätte etwas ändern können. Auf einer
rationalen Ebene weiß man, dass man
nicht Schuld ist, aber gefühlt wird es immer anders bleiben. Die Fragen, die
sich die Menschen stellen, sind dieselben, die Antworten, die sie suchen auch. Es
ist so eine Leere danach, so viele Löcher, so viele Fragezeichen.
Es ist wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Nichts ist perfekt.
Kein Mensch, keine Beziehung. Und klar frage ich mich heute, wie ich Dinge so
lange tolerieren konnte. Wie ich so fest davon überzeugt sein konnte, dass wir
das hinkriegen. Am Ende konnten wir – weil es ihm so schlecht ging – nicht mehr
länger als 10 Minuten telefonieren, bis er nur noch wirres Zeug geredet hat.
Und ich war extrem traurig und schockiert darüber. Aber da war tief im Inneren
die Überzeugung: Ich bekomme ihn irgendwann zurück, wenn das durch ist. Ich
hatte nicht auf dem Schirm, dass er sterben könnte. Dass er so endgültig gehen
könnte… - und manchmal frage ich mich: Was würden die Menschen machen, wenn sie
das Chaos, das sie hinterlassen haben, sehen könnten? Ich hoffe, er spürt
zumindest, dass er geliebt wurde.“
Und manchmal, wenn mein Gegenüber die Ohren spitzt, ohne fiese
Kommentare einzuwerfen, traue ich mich auch in tiefere Gefilde. Erzähle über
meinen letzten Besuch in der Studienstadt, während dem wir uns nicht gesehen
haben. Weil er erst nicht wollte und es dann nicht mehr in meinen eng getakteten
Plan gepasst hat, als er sich umentschieden hat. Aber verzeihen werde ich mir
das nie. Und eine Frage die bleibt ist, ob das etwas geändert hätte. „Ich weiß
nicht, wie sauer er auf mich war. Ob er sich gedacht hat, dass es mir nichts
wert gewesen sei, ihn zu sehen. Suizid ist niemals eine Beziehungstat, aber
vielleicht kann eine solche Meinungsverschiedenheit das Fass dann doch um
Überlaufen bringen.“
Ich umschlage einmal grob die Jahre, die wir hatten. „Als wir uns
kennen gelernt haben, habe ich noch zu Hause gewohnt. Und seitdem hat sich das
Leben immer und immer wieder gedreht und er ist jeden Schritt mitgegangen. Ich
habe so vieles mit ihm besprochen und geregelt, er war an so Vielem beteiligt.
Hat mir noch kurz vor seinem Tod versprochen, dass er mir mal Lampen an die
Decke hängt und den Mietvertrag für die Wohnung sind wir damals auch Schritt
für Schritt durchgegangen.“
Natürlich stellt mein Gegenüber Fragen, die in meinen Ohren anklagend sind. Aber
vermutlich nur in meinen. Weil ich eben auch das Gefühl habe, viel versäumt zu
haben. Weil ich ihm nicht die Polizei auf den Hals gehetzt habe, weil ich zu
lange still war, weil ich irgendwie vertraut habe und nicht panisch durch das
halbe Land gegurkt bin, um persönlich nach ihm zu schauen. Natürlich klingt die
Frage nach dem „Warum?“ da wie eine einzige Anklage. Warum war er mir nicht
wichtig genug, dass ich mal eben 400 Kilometer mit den Öffis fahre und schaue,
ob er in seiner Wohnung sitzt? Ich kann die Frage nicht beantworten, ehrlich
gesagt.
Eine Anklage auch deshalb, weil ich vermutlich die Einzige bin, die
genau weiß, wann er gestorben ist, weil ich seine engste Vertraute und
Bezugsperson war, weil ich das irgendwie vergeigt habe, für ihn ausreichend da
zu sein und das so fatale Konsequenzen hatte.
Aber mein Gegenüber akzeptiert ihn als Mensch. Und das ist schon
unendlich viel Wert. „Wissen Sie… - manche Menschen sind der Meinung, dass das
mit einer Beziehung zwischen uns sowieso nichts hätte werden können und dann
wird er so halb als drogenabhängiger Junkee dargestellt und das war er einfach
nicht. Das ist falsch…“, erkläre ich. Er nickt. „Ich weiß Mondkind…“ „Und dann
kommt: „Jetzt versuchen Sie doch mal die positiven Seiten an seinem Tod zu
sehen.“ Da könnte ich einfach die Wände hochgehen. Ich will mich nicht ewig in
diesem Leid befinden und ich habe Angst, dass das ewig dauert, bis ich da einen
Weg raus finde, aber manchmal fühle ich mich einfach so verarscht…“ Er nickt.
„Wissen Sie, was das Schwerste diese Woche war…?“, frage ich. „Was?“,
entgegnet er. „Die Nacht nach dem ersten Dienst. Auch wenn mein Kopf danach
fast zersprungen ist vor Schmerzen, aber ich hätte ihn angerufen und hätte ihm
gesagt, dass ich es geschafft habe. Wir haben so lange, so viele verdammte
Monate über diesen Dienst sinniert und ich wünschte er könnte wissen, dass ich
es geschafft habe…“
Und obwohl ich den Tränen schon sehr nahe war während des ganzen
Gesprächs, ist es jetzt vorbei. Die Stimme bricht einfach weg. Und er wartet.
Das sind so diese Momente. Obwohl die Trauer in dem Moment so
überpräsent ist, obwohl ich das Gefühl habe, dass mein Herz gleich vor Schmerz
einfach zerspringen muss, obwohl es in mir flattert, weil ich nicht weiß, wie
stabil die Beziehung zu meinem Gegenüber ist, wie viel Freiraum er mir lässt,
ob ich es irgendwann bereue so viel erzählt zu haben, weil ich mich so sehr
angreifbar damit mache – obwohl das alles auch da ist, sind es die Momente, die
gleichzeitig tragen. Raum finden für das, was sowieso 24 / 7 in meinem Kopf
ist. Ohren, die einfach nur lauschen und nicht verbessern, nicht verurteilen,
keinen Sinn finden wollen, wo keiner ist.
Wie weit die Therapeutensuche ist, will er nach langer Zeit wissen.
Nicht weiter. Ich habe nochmal mit dem sozialpsychiatrischen Dienst hier in der
Stadt telefoniert, aber die sind Corona – bedingt auch ausgedünnt und können
nicht helfen.
Er fragt, ob er nochmal für mich herum telefonieren darf. Es ist ein
zweischneidiges Schwert. Einerseits habe ich jetzt wirklich genug von
therapeutischen Beziehungen, nach diesem Sommer, auf der anderen Seite verstehe
ich auch, dass er das nicht alleine tragen kann und will.
Er hat noch eine kleine Idee für Sonntag. Die mich mal ein bisschen aus meinen Wochenendgrübeleien raus holen soll. Ich glaube, das könnte nett werden.
Erstmal muss ich jetzt nochmal hoch ins Krankenhaus. Ich habe nächste
Woche Urlaub und muss noch ein paar Briefe vorbereiten, eine Übergabe
schreiben, meinen Schreibtisch aufräumen, ein paar alte Briefe kommentieren,
wenn nachträglich Befunde gekommen sind.
Haltet die Ohren steif!
Schönes Wochenende und schönen dritten Advent!
Mondkind
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