Fünf Jahre
Mein lieber Freund,
Fünf Jahre.
Vor fünf Jahren hat mich an diesem Morgen Deine Mum benachrichtigt. Ich wollte nicht dran gehen an dieses Telefon, nicht wissen was sie mir zu sagen hatte, weil ich irgendwie gespürt habe, dass ab jetzt für immer alles anders sein würde. Ich hatte es schon befürchtet, was passiert sein musste, aber ich dachte so lange wie es nicht offiziell ist, kann es ja auch noch anders sein.
Ich weiß ehrlich gesagt nicht mehr, wie ich die Tage davor überlebt habe. Irgendwer sagte mal hinterher, man habe mir nichts angemerkt in diesen Tagen und dass es da große Sorgen gab. Aber ich habe mich auch immer gefragt, was ich den Menschen sagen soll. Und irgendwie habe ich mir gedacht, dass ich hinterher bestimmt schief angeschaut werde für solche Gedanken, wenn alles wieder ins Lot kommt. Irgendwie hat ein Teil von mir einfach nicht glauben können oder wollen, dass so etwas passiert sein könnte.
Dabei sprach die Statistik ja nicht gerade für Dich. 60 % der Depressiven begehen mindestens einen Suizidversuch im Leben (und naja, streng genommen hattest Du den ja schon Jahre vorher gehabt und die Rezidivquote ist leider noch etwas höher) und 70 % der Menschen, die sich am Ende tatsächlich suizidieren, sind depressiv.
So klar war mir das tatsächlich alles damals nicht. Vielleicht hätte ich sonst besser auf Dich aufpassen können. Obwohl Du ja Ex – in werden wolltest. Obwohl Psychologen Dir bescheinigt haben, dass Du stabil genug dafür bist. Aber man kann Menschen schließlich auch nie in den Kopf gucken.
Ich kann mich an diesen Nachmittag erinnern. Herrn Therapeuten in der Leitung. Ich saß in irgendeinem Hinterzimmer in der Neuro, da war so viel Sterben in mir, während er mit seinem Telefon draußen über das Gelände gelaufen ist und ich die Vögel gehört habe.
Es ist so irre viel passiert in diesen fünf Jahren. Ehrlich gesagt in den ersten beiden Jahren danach habe ich nicht geglaubt, dass ich mich je wieder stabilisieren könnte. Es war ja schon davor alles nicht so leicht, aber das war zu viel. Zwischendurch gab es so schwere Krisen, dass selbst die stationären Einrichtungen das kaum halten konnten und irgendwann verzweifelst du wirklich an Dir und dem Leben – aber wem sage ich das? Ich wollte so unbedingt, dass es besser wird, aber so wirklich einen Weg finden konnte ich nicht.
Soziale Kontakte waren immer schwierig gewesen, ich hatte bis Du in mein Leben gefallen bist, nie einen zwischenmenschlichen Ort, der sich nach Heimat angefühlt hat. Und dann hast du mich an der Uni aufgegabelt und irgendetwas war da von Beginn an zwischen uns. Es waren nicht diese Schmetterlinge im Bauch, es war nicht diese körperliche Anziehung, es war einfach ein Gefühl von tiefen Vertrauen und gegenseitigen Verstehen. Ich habe eigentlich nie davor und nie danach einen Menschen getroffen, mit dem sich Gespräche so leicht angefühlt haben, mit dem ich stundenlang durchreden konnte, von dem ich mich so verstanden gefühlt habe. Und so dämlich und kitischig es sich auch anhört, aber wir konnten sprechen ohne Worte.
Du warst mein Familienersatz, mein bester Freund und Partner in einem und man sagt ja immer, man soll nicht alles auf eine Karte setzen, aber irgendwie hatte ich das auch nie auf dem Schirm, dass das nur einige Jahre halten könnte.
Und manchmal denke ich mir, ich will nicht so jemand sein, der so furchtbar abgedroschene Binsenweisheiten wiederkaut, aber manchmal versteht man eben wirklich erst hinterher so ganz, was man da hatte. Du bist das erste männliche Wesen gewesen, das in mein Leben gefallen ist und ich dachte, Beziehung müsste so sein. Irgendwie leicht. Mit viel Reden und gegenseitigem Verständnis, mit Kompromissen und manchmal einigem Argumentieren, aber mit dem Wissen immer irgendwo einen Hafen zu haben.
Naja, turns out: So ist es nicht. Was habe ich gekämpft mit den Männern in meinem Leben die letzten Jahre und irgendwie gefalle ich mir da selbst nicht mehr. (Und ich kann mir schon gut vorstellen, wie Du da jetzt irgendwo sitzt mit Deinem verschmitzten Lächeln und sagst: Naja, Du hast halt den Besten gehen lassen…).
Dieses Jahr ist es hart. Nach anderthalb Jahren Facharztvorbereitung wird es wohl demnächst dann doch mal ernst. Und bevor Du fragst: Nein, offiziell ist noch nichts. Aber inoffiziell. Ich hoffe, die offizielle Einladung kommt jetzt bald und es verschiebt sich nichts mehr.
Aber ich habe einfach immer noch vor Augen, wie wir da zusammen irgendwie diese Examenszeit überstanden haben, wie Du mich irgendwie getragen und ausgehalten hast, obwohl ich an manchen Tagen mehr geweint als gelernt habe. Es war so ein immenser Druck, dass ich bald hoffentlich für uns beide sorgen kann, dass wir endlich los können, woanders neu anfangen können.
Gut komme ich immer noch nicht zurecht mit mündlichen Prüfungen. Das ist einfach nicht meins.
Ich weiß nicht, ob es je okay für mich sein wird, dass Du nicht mehr da bist. Wahrscheinlich werde ich mich bis ans Ende meines Lebens fragen, was wohl aus uns geworden wäre. Ob wir irgendwann einfach mal stinknormales Leben hätten leben können? Vielleicht wärst Du jetzt irgendwo Ex – In und ich würde nach dem Facharzt in die Psychosomatik gehen und dann wären wir beide endlich da angekommen, wo wir mal hinwollten. Vielleicht würden wir uns gegenseitig abends Klaus Grawe vorlesen. („Ich werde es nie vergessen: Mandy, Klaus Grawe hat dazu gesagt…“). Vielleicht würden wir abends auf dem Sofa irgendwelche psychodynamischen Theorien diskutieren und ich hätte einen Redepartner, der das nicht albern fände. Vielleicht würden wir sonntags ins Franzis Café sitzen – weil da ja sowieso unsere Lieblingsbeschäftigung war – und würden dort die Woche ausklingen lassen. Vielleicht würden wir weiter gemeinsam Revolverheld hören, vielleicht würden wir dieses Jahr NACH (if you know, you know…) dem Facharzt noch auf ein Konzert gehen. Vielleicht würdest Du jetzt auch mit mir Florian Künstler hören, ich denke das würde Dir gefallen.
Und irgendwie bin ich immer noch auf der Suche. Ich habe über die Jahre versucht noch ein Exemplar von dem Buch zu bekommen, an dem Du mitgeschrieben hast. Ich habe Deine Bücher analysiert und geschaut, was Du darin angestrichen hast. Ich habe versucht mit Deinen Behandlern, Deinen Freunden, Deiner Mum zu reden, um irgendwie zu verstehen, was passiert ist. Ich bin über das LVR – Gelände gesteift, das sich manchmal mehr nach unserer Heimat anfühlt, als es sollte. Hab dort auf dem Boden in Haus 10 gesessen und mich gefragt, wo Deine Fußspuren leuchten würden, wenn sie es nochmal könnten
„Sie müssen lernen mit den offenen Fragen zu leben“, wurde mir mal gesagt. Vielleicht.
Und vergeben, das habe ich auch mal irgendwo gelesen, heißt nicht nur dem anderen zu vergeben, sondern auch sich selbst zu vergeben. Soweit bin ich immer noch nicht.
Ich bin aber sehr dankbar für meine Psychosomatik – Oberärztin, die mir im letzten Sommer und seitdem immer mal wieder einen Raum für Dich und mich gegeben hat.
Das ist schon bald ein Jahr her, dass das Thema irgendwie an einem heißen Nachmittag an dem ich auch noch Dienst hatte, aus mir heraus gebrochen ist. Und irgendwie habe ich mich damals ziemlich geschämt, weil das nicht so geplant war und gleichzeitig habe ich mich selten so gesehen und getragen gefühlt wie in diesen Tagen danach. Ich konnte mich kaum selbst regulieren, aber ich wusste auch, dass sie mich nicht verurteilen wird in diesen Gesprächen in ihrem Büro und irgendwie ist es eine tragende Erfahrung, Schmerz teilen zu dürfen. Sichtbar sein zu dürfen, mit allem was da ist.
In irgendeinem Forum habe ich mal gelesen „man muss die Geschichte so oft im Kreis erzählt haben, bis man das Gefühl hat, ein Mal gehört worden zu sein.“ Und das ist natürlich sehr subjektiv, weil ich objektiv schon gehört wurde. Aber gerade nachdem mir das so lange so abgesprochen wurde, habe ich das noch nicht erreicht. Ich habe noch so viele Fragen, ich würde gern im Austausch mit dem Gegenüber noch so viele Dinge klären, damit ich vielleicht auch irgendwann mal Frieden damit finde. Und ich hoffe, Du wirst Deinen auch finden.
Und jetzt… - jetzt bin ich in ein paar Wochen Fachärztin. Hoffe ich. Und dann? Ändert sich hier wieder viel. Ich frag mich, ob Du stolz wärst auf mich. Dass ich irgendwie emsig weiter gegangen bin. Auch, wenn ich manchmal gar nicht mehr wusste, wie.
Und ich hoffe, wenn ich Dir nächstes Jahr schreibe, dann schreibe ich Dir, dass ich mein Stethoskop gegen ein Klemmbrett ausgetauscht habe und zurück in der PSK bin. Nicht für Dich. Also nicht nur zumindest. Sondern für mich. Du kanntest mich so gut und Du wusstest, dass das der bessere Platz für mich ist. Und ich glaube, ich war in diesem ganzen Studium und dieser ganzen Neurozeit nie so stolz auf mich, wie als ich meine erste eigene Gruppe hatte. Das war ein Gewinn für mich. Weil ich damit niemanden, außer mich selbst beeindruckt habe. Ich hatte es wirklich geschafft, auch wenn ich so viel gezweifelt hatte, ob ich nach Deinem Tod je dort würde arbeiten können. Und das hat auch niemand gut gefunden, außer mir selbst. Aber wen willst du beeindrucken, wenn nicht Dich selbst?
Du passt auf mich auf bei dieser Facharztprüfung, oder? Vielleicht werde ich danach ja wirklich mal stolz sein auf mich. Nicht, weil eine krasse Neurologin werden möchte. Sondern, weil ich weiß, dass es eher Mittel zum Zweck ist und ich danach so vielen Türen zu machen kann. Okay, ganz so einfach wird es auch nicht; ich glaube das wird eine mittelschwere Identitätskrise auslösen, aber gut.
Ich mache mal einen Punkt hier.
Ich hoffe, Du bist okay wo immer Du auch bist.
Es ist okay, wenn Du jetzt glücklich bist, singt Florian Künstler. In „Tausend Raketen“. Das war der erste Song, den ich von ihm gehört habe irgendwann mal auf Youtube. Heute trage ich diese Worte auf einem T – shirt. Und immer wenn ich Dich dabei haben möchte, ziehe ich es an. Das weiß sogar Florian Künstler mittlerweile und findet es – so wie ich – richtig schön. Und… - du warst oft in der PSK dabei. Manchmal meinten die Patienten zu mir, dass das ein schönes T – shirt ist. Und gleichzeitig hatten die keine Ahnung, was oder wen ich da gerade mit mir herum trage. Dafür liebe ich das sehr. Es ist… - naja, nicht ganz, aber noch vertretbar unauffällig.
„Pass auf Dich auf. Ich mach das auch.“ (Ach shit, schon wieder geklaut, aber ich lieb diese Phrase so).
Ganz, ganz viel Liebe in Richtung Universum.
Mondkind
Bildquelle: Pixabay
Kommentare
Kommentar veröffentlichen