59 Monate
Mein lieber Freund,
schon wieder ist ein Monat vergangen. „Das wird wohl nicht unbedingt unser Jahr werden“, hat meine Schwester Anfang 2024 gesagt. In meinem Fall 2025 wohl auch nicht. Die Bilanz aus den ersten fünf Monaten des Jahres ist ein Thermenbesuch und ein Florian – Künstler – Konzert.
Nächsten Monat werden es fünf Jahre ohne Dich. Dann bis zu langsam genau so lange tot, wie wir uns gekannt haben. Schon komisch, oder?
Und wer hätte damals gedacht, dass ich fünf Jahre danach mitten in den Facharzt – Vorbereitungen stecken werde? Auch, wenn ich mir weiterhin nicht vorstellen kann, diese Prüfung wirklich zu bestehen.
Im Moment treibt mich immer noch die Frage um, ob ich am Freitag auf das Revolverheld – Konzert gehen sollte. Ich meine, ich mache ja selten Dinge spontan, aber das war so eine spontane Aktion, weil es einfach so super gut gepasst hat. Florian Künstler als Vorband, oben im Norden, in der Nähe meiner Schwester und an einem Freitagabend, der zuerst nur ein dienstfreier Tag war, aber mit noch einem AZV – Tag dazu, ist das gar nicht so wenig.
Und doch habe ich jetzt eigentlich keine Zeit, zwei Tage auf der Straße zu stehen. Auch mit Podcasts nicht. Wenn Du mich fragst, wie mein Gefühl im Moment dazu ist, dann würde ich Dir sagen, dass es mich eher stresst und sich nicht richtig anfühlt. Ich habe jetzt die Prüfungszulassung – das wusste ich zu dem Zeitpunkt, an dem ich das geplant habe noch nicht – (das Schicksal ist im Moment nicht so super nett zu mir), also muss ich jetzt im Juli irgendwie prüfungsbereit sein. Danach kann ich alles im Kreis lernen, aber bis Juli muss ich jetzt irgendwie Vollgas geben. Im Prinzip wäre ich ja schon dankbar, wenn ich irgendwann mal befreit bin und mein Leben zurück bekomme, aber das muss halt schon Sinn machen, zur Prüfung hin zu gehen. Und im Moment tut es das meiner Meinung nach noch nicht. Allerdings – mit einigen Lernwochenenden, dem Repetitorium Anfang Juli und der darauf folgenden Urlaubswoche, könnte es vielleicht bis Mitte Juli klappen und ich hoffe einfach, dass ich davor keinen Termin bekomme.
Allerdings gibt es ja neben dem Gefühl auch immer eine rationale Komponente und natürlich weiß ich, wie wichtig dieses Konzert ist. Für mich. Und für uns.
Und das ist gerade so ein bisschen der Struggle. Stimmungstechnisch ist das hier ohnehin sehr auf dem absteigenden Ast und wenn ich etwas mache an Freizeitaktivität, dann möchte ich eigentlich etwas tun, das mir uneingeschränkt gut tut. Was mich dann nicht noch mehr stresst.
Und zum Einen ist es halt diese wirklich irre weite Fahrt – mit Pause muss man denke ich schon mit sieben Stunden in eine Richtung rechnen. Und zum anderen wird das sehr, sehr viel hoch holen. Allein durch die Studienstadt zu gehen, ist manchmal wie ein Museum meiner Vergangenheit zu besuchen. Manchmal weiß ich Dinge wirklich nicht mehr, bis ich an Orten vorbei komme, die mich daran erinnern. Und ich glaube, dass das gerade bei Musik und noch dazu bei Musik, die ganz viel Verbindung war, nochmal mehr so viel mehr sein wird. Und das ist an sich nicht schlimm. Ich glaube immer noch, es gibt etwas wie eine „gute Traurigkeit“. Die man sich vielleicht ein Stück weit aussucht in dem Moment, die trotzdem schwer ist und gleichzeitig so schön ist, weil sie nochmal die Möglichkeit gibt, im Lebensgefühl von damals nachzuspüren. Aber auch dafür braucht man wieder vor allen Dingen eines: Zeit. Und die habe ich nicht.
Ich habe die letzten Tagen nochmal durch die alten whatsApps gescrollt und mir angeschaut, wie wir die Termine immer wieder abgewogen haben und es am Ende nie geschafft haben. Ich will eigentlich nicht, dass sich das wiederholt.
Ich würde halt sehr gerne auf das Florian Künstler – Konzert Mitte Juni gehen. Ich denke, das könnte ich noch halbwegs stressfei mit dem Lernplan vereinbaren, wenn ich bis dahin keinen Termin habe – also hundert prozentig sicher ist das am Ende auch nicht, dass das dann etwas wird. Aber beides ist auch irgendwo zu viel.
Ich komme nicht weiter gerade damit.
Es ist übrigens komisch, wie Sommer wird. Bisher hatte ich das mit den Examen ja immer im Frühling. Da bist Du ein Mal in der Woche zum Einkaufen gegangen und irgendwann kam jedes Jahr der Moment, in dem du verpasst hattest, dass es wärmer geworden war und Du keinen Schal, keine Mütze und keine Winterjacke mehr brauchst. Jetzt kann man hier plötzlich in kurzer Hose durch die Wohnung spazieren, ohne dass man realisiert hat, dass Sommer geworden ist.
![]() |
warum mich wenn ich viel lernen sollte, immer die großen Themen des Lebens so arg beschäftigen. Aber dann ist mir bewusst geworden, dass das natürlich auch jedes Mal Umbruchszeiten waren. Ich werde diesmal sicher nicht 400 Kilometer weit weg ziehen nach dem Facharzt, dafür sind es eben andere Sachen.
Sich nach 14 Jahren aus dieser Medizinerbubble weitestgehend zu befreien, wird schon nochmal Mut kosten. Und ich könnte mir auch vorstellen, dass ich es vielleicht am Anfang so versuche, wie der Intensiv – Oberarzt vorgeschlagen hat, erstmal halb Neuro und halb Psychosomatik zu machen. Das wird nochmal etwas anderes, wenn man nicht nur „auf Zeit“ dort ist. (Und ich sehe, wie Du gerade die Augen verrollst und mich fragst, ob das mein Ernst ist). Schon irgendwie. 14 Jahre sind fast mein halbes Leben. Und obwohl ich das nie wollte, ist diese Medizingeschichte ein Teil meiner Identität geworden. Ich glaube, ich muss erst ein bisschen suchen wer und was ich sein möchte, ehe ich alle Seile durchschneide. Diese Option brauche ich einfach ein bisschen.
Und gleichzeitig wird mir im Moment auch sehr bewusst, wie viel Lebenszeitverschwendung das am Ende war. Das klingt ziemlich hart ich weiß und ich sage auch nicht, dass alles daran schlecht war, aber ich habe unglaublich viel von mir verloren in dieser Zeit. Eigentlich alle Hobbies, viele Freunde, ich musste mich so arg zwingen zum Lernen – und muss es gerade immer noch – weil es mich nie sonderlich interessiert hat. Es war ganz interessant festzustellen, wie einfach sich Psychosomatikbücher lesen lassen und dass ich das mal wirklich von mir aus gemacht habe und nicht weil ich dachte, dass ich muss. Und dann denke ich, dass hier manchmal gefühlt mein 18 – jähriges Ich steht, das sich versucht frei zu kämpfen. Und dann ist da ganz viel Traurigkeit. Dass ich so viel verloren habe. Aber auch Dankbarkeit, das alles überlebt zu haben – die Psychiatriekarriere ging ja in meinem Fall eigentlich erst mit Beginn des Studiums los, als mein Plan nach dem Abi zu Hause weg zu können und endlich mal das zu tun, das ich für mich möchte, nicht funktioniert hat und ich viele Jahre auch keine Option gesehen habe, dass das nochmal für mich gehen wird. Da warst Du eigentlich Jemand, der mich da ganz doll bestärkt hat, dass es doch Optionen gibt, in ein paar Jahren. Klar im Studium ging wenig und das war ganz klar auch ein großes finanzielles Problem, aber ich konnte irgendwann anfangen zu glauben, dass ich einen Plan machen und den Schritt für Schritt umsetzen muss. Und you know what: Ich habe mich offensichtlich dran gehalten.
Und dennoch - mit 32 Jahren komplett von vorne anfangen zu müssen, ist sicher nichts Unmögliches, aber schön ist es eben auch nicht. Und das meint halt schon die berufliche Perspektive, aber auch die persönliche Perspektive. Die Psychosomatik – Oberärztin hat mich mal gefragt, ob ich meine Beziehungen viel vergleiche und ich habe mich da schon seltsam ertappt gefühlt.
Ich habe gerade jetzt im Zusammenhang mit dieser Konzert – Idee nochmal viele alte Nachrichten von uns quer gelesen und das war einfach ein komplett anderer Umgang mit uns untereinander. Viel weniger Kampf, viel weniger Vorwurf, ich lese da eigentlich nie Wut zwischen den Zeilen, sondern immer ganz viel Wertschätzung und aufeinander zu gehen. Und ich sehe, dass ich da beim Kardiochirurgen und mir sicher nicht unschuldig bin – ich bin schon auch diejenige, die oft nicht gut kommuniziert. Das Problem ist halt, dass diese Beziehung so hart auf der Grenze dessen ist, was noch zu ertragen ist, dass mir öfter die Hutschnur reißt, als ich mir das für mich wünsche. Ich erkenne mich manchmal selbst nicht mehr im Kontakt mit ihm.
„Manchmal bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich überhaupt noch weiß, wie es sich anfühlt, wirklich geliebt zu werden und nicht um alles kämpfen zu müssen und sich immer zu viel zu fühlen, weil ich immer den Eindruck habe, ihm zu viel zuzumuten, wenn ich etwas einfordere“, habe ich mal zum Intensiv – Oberarzt gesagt.
„Ich denke Sie wissen es. Sie haben es doch erlebt. Und Sie wissen auch, was Sie sich in einer Beziehung wünschen und von einer Beziehung brauchen“, hat er dazu gesagt.
Und mein Ich von vor fünf Jahren hätte nicht gedacht, jemals in so einer komplizierten Beziehungssituation fest zu stecken. Damals dachte ich noch, wenigstens an der Stelle habe ich mal kein Problem.
Wahrscheinlich brauche ich nochmal ein bisschen professionelle Unterstützung nach dem Facharzt, um das alles für mich zu sortieren. Er wird sich nicht bewegen, da hatten wir viele Versuche. Ein Teil von mir möchte nicht einsehen, dass das so nicht funktioniert. Weil ich ihn immer noch sehr mag. Weil es die ganz wenigen guten Momente dazwischen gibt. In denen die Antennen mal keine Spannung wahrnehmen. Aber ich verstehe schon: Aus einer rein objektiven Sicht ist es einfach schwer, wenn es eben immer nur Momentaufnahmen alle paar Monate sind. Und man eigentlich alle Dinge, die man gern teilen und zusammen machen würde, alleine machen muss.
Halt erstmal die Öhrchen steif, okay?
Ich versuch’s auch.
Mondkind
Kommentare
Kommentar veröffentlichen