47 Monate

Mein lieber Freund,
der 47. Brief.
Der 46. Existiert einfach nicht. Tatsächlich. Ich kann dir nicht mal sagen, warum mir das durchgerutscht ist. Ich glaube, ich war einfach zu gestresst von allem und das bin ich immer noch. Das melden mir sogar die Kollegen schon zurück. Aber ich habe mich echt doll geschämt, dass ich es nicht gemacht habe.

Was kann ich sagen? Genau am dritten des letzten Monats hat mir Dein alter Psychiater geschrieben. Dein Lieblingspsychiater. Ich wollte es Dir unbedingt sagen – das hatte ich mir sogar an dem Tag noch überlegt, dass ich es Dir erzählen muss, aber dann hatte ich vollkommen vergessen, dass es genau dieser Tag war. Er kann sich nämlich an Dich erinnern und ich weiß, wie viel Dir das bedeutet, weil er Dein Lieblingspsychiater auf dem ganzen Klinikgelände war. Er selbst konnte mir nur auch nicht viel über Dich erzählen, weil er Sorge hatte, dass er nicht mehr weiß, woher er welche Information hat und dann die Schweigepflicht verletzt. Aber er hat mir ein paar Mailadressen gegeben, mit denen ich es nochmal versuchen könnte. Der ein oder andere Name kam mir aus Deinen Erzählungen bekannt vor. Aber ich habe es noch nicht gemacht. Ich weiß nicht, ob Du das wollen würdest. Und, ob das nach all der Zeit noch sinnvoll ist, oder nur zu viel Staub aufwirbelt. Und Zeit und Ruhe hatte ich dafür ehrlich gesagt auch noch nicht wirklich.

Ich habe letztens das Kapitel über Angststörungen in meinem Psychiatriebuch gelesen. Und zusammengefasst. Mich wirklich intensiv damit beschäftigt. Ich musste eine Weile nachdenken über Dich. Es passt schon alles zusammen. Dieser Kreislauf aus Angst, Depression und Sucht. Das ist wohl häufig alles miteinander verwoben. Nur wusste ich von der Angst und der Sucht nichts. Es ist mir bis heute ein Rätsel, wie mir das verborgen bleiben konnte. Ich denk manchmal, wenn ich meine Patienten reden höre, dass die zu naiv sind, aber ich glaube, an manchen Stellen möchte man auch nicht genau hinschauen. Oder?

Ich bin im Moment sehr unsicher mit meinem Leben. Ich weiß nicht, ob das alles so richtig ist und in letzten Wochen habe ich oft daran gedacht, wie gern ich ein Café – Date mit Dir hätte und das alles erzählen würde. Ich weiß nicht, ob die Psychosomatik wirklich richtig für mich ist. Aber ich steige noch nicht durch meine Gründe. Ich mache es nach wie vor gern. Und trotzdem ist da ein Teil von mir, der die ZNA vermisst. Der es vermisst nach Hause zu gehen und wirklich sehen zu können, was man getan hat. Das kann man halt nach den Diensten hier nicht. Therapeutische Prozesse sind langwierig und so richtig messbare Erfolge gibt es halt nicht. Aber es gibt natürlich auch den Teil, der es nur schwer akzeptieren kann, dass die Menschen um mich herum – sprich der Kardiochirurg und meine Schwester – ständig ihre Zeit damit verbringen Leben zu retten und ich nur noch sitze und rede. Mal platt ausgedrückt. Ich fühle mich irgendwie gar nicht mehr richtig wie ein Teil der Medizinerwelt – verstehst Du? Wenn wir ein Problem haben, schicken wir die Leute hoch ins Krankenhaus, weil wir gar nicht das Equipment haben, größere Diagnostik zu machen. Aber ich weiß nicht, ob das eher der Druck das Außens ist, der vielleicht irgendwann zum Druck des Innens geworden ist, der mich so fühlen lässt. Zurück in die Neuro zu müssen macht mir einerseits irre viel Angst, andererseits habe ich aber auch nicht das Gefühl, gut in der Psychosomatik bleiben zu können.

Oh – und ich bin dabei den Wintergarten hübsch zu machen. Ich zeige es Dir, wenn es fertig ist, okay? Auf jeden Fall ziehen gerade ein paar Pflanzen ein, es hat schon zwei Stühle und bald kommt auch ein Tisch. Und dann kann ich nämlich im Sommer entspannt draußen lernen. Und vielleicht vor dem Schlafengehen einfach dem Fluss vor meiner Haustür ein bisschen lauschen. Das wird gut, meinst Du nicht…?

Schau mal was mir letztens vor die Linse geflogen ist. Ich brauche echt mal irgendwann eine vernünftige Kamera... - aber dann muss ich auch lernen, wie man sie bedient...


Und weißt Du, was mir mal aufgefallen ist? Ich schaue mir in letzter Zeit ständig irgendwelche Beziehungsratgeber an. Wie löst man seine Schwierigkeiten? Wie findet man Kompromisse? Was bringt man selbst mit in die Beziehung an Themen, die sich da irgendwie manifestieren?
Ich hab mir da bei uns beiden nie den Kopf gemacht. Ich hatte immer den Eindruck, wenn es Schwierigkeiten gibt, dann setzen wir uns hin und reden. Was hattest Du für einen Eindruck davon? Vielleicht einen anderen als ich? Ich könnte mir schon vorstellen, dass Du mich in vielen Hinsichten als sehr sturköpfig erlebt hast.
Jedenfalls bin ich so unsicher und verstehe einfach nicht, warum das nicht läuft mit uns beiden. Es beschäftigt mich schon ziemlich. Wir fahren im Juni nach Frankreich. Natürlich nicht, um dort einen Pärchen – Urlaub zu machen. Sondern, damit er paragliden kann. Es verunsichert mich, dass er sich seltenst von selbst meldet, dass ich ihn ständig an alles erinnern muss, dass ich immer den Eindruck habe, dass er auch ganz froh ist, wenn ich auch mal Dienst habe und er nicht. Es macht mich irgendwie traurig, dass er es nicht mal schafft ein „guten Morgen“ zu antworten, wenn ich ihm vor dem Dienst noch kurz schreibe und er eben frei hat und es ja irgendwann später lesen wird. Ich höre über 24 Stunden nichts von ihm, selbst wenn ich eine Frage habe. Selbst, wenn es zeitnah zu klärender Orga – Scheiß ist.
Und all das ist nicht thematisierbar. Es ist nicht wie bei uns früher, dass man so etwas bei einem Café -  Date besprechen kann. Er hat dafür einfach keine Worte. Es bleibt immer ungesagt. Es bleibt immer die Frage, ob er mich wirklich liebt. Und ich bin so unsicher, ob ich auf Dauer damit leben kann.

Die AGUS – Gruppe tut mir ganz gut momentan. Ich versuche regelmäßig hinzugehen, auch wenn das gar nicht so einfach ist, weil das immer so lange geht und ich dann viel zu spät im Bett bin. Aber ich nutze es noch, solange es geht. Ich denke, wenn ich wieder in der Neuro bin, habe ich keine reale Chance abends um 19 Uhr in der Nachbarstadt zu sein.

Übrigens, das wollte ich Dir noch sagen, habe ich genau heute am Nachmittag mit der alten Therapeutin telefoniert. Irgendwie spüre ich in diesen Kontakten auch immer eine Verbindung ins alte Leben und dann vermisse ich das manchmal, obwohl es wahrscheinlich ein etwas verklärter und sentimentaler Rückblick ist. Jetzt, nachdem man weiß, dass alles am Ende irgendwann geklappt hat. Und hoffentlich werde ich das über diese Zeit jetzt auch irgendwann sagen, wo immer das auch hinläuft und wie immer das auch alles ausgeht.
Zuerst mal war es ganz viel Validierung heute. Die Situation aktuell darf gerade beschissen sein. Mit Facharzt vor der Nase und so vielen Unsicherheiten – das fängt bei den Unterschriften an und hört mit der Frage auf, ob mir überhaupt die Lernzeit zugestanden wird, die ich brauche – und einer so hochkomplizierten Beziehung; das ist objektivierbar schwierig. Nichts, was man nicht nachvollziehen könnte. Da braucht es nicht mehr. Da braucht es keinen spezifischen Auslöser oder sonst irgendetwas. Wenn es nicht möglich ist, sich zwischen den ganzen Baustellen zu entspannen, dann reicht das.
Lösungen haben wir natürlich nicht richtig gefunden. Hinsichtlich des Facharztes werde ich mich eben mit dem Chef, der Personalabteilung und der Psychosomatik auseinander setzen müssen und hinsichtlich des Kardiochirurgen hat sie mich animiert, neben jeglichen Gefühlen auch mal eine Kosten – Nutzen – Rechnung aufzustellen, aber auch angemerkt, dass es mit so unterschiedlichen Vorstellungen von Beziehung sicher sehr schwer wird. Ich glaube, das ist auch noch so mein Ding – das zu verstehen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sich Jemand eine Beziehung ohne Nähe vorstellen kann, ohne Absprachen. Aber scheinbar geht das ja und es nützt nichts, da immer wieder „dagegen zu arbeiten“. Jetzt ist gerade gestern rausgekommen, dass er in der Woche nach unserem Urlaub auch noch Urlaub hat. Wann wollte er mir das denn sagen? Warum muss ich das auf dem Dienstplan, den er mir gnädigerweise nach Beginn des Monats geschickt hat, denn alleine raus finden? Ich frage ihn doch jeden Monat im Zug der Dienstplanung. Es ist ja schon mal gut, dass ich mich entschieden habe, die ersten beiden Wochenenden im Monat zu arbeiten, aber trotzdem...
Und ich glaube, manchmal geht es auch nicht um Lösungen in so Therapiegesprächen. Manchmal geht es einfach darum gehört und validiert zu werden, am Besten von einer Person, die einen schon lange kennt und gut einschätzen kann. Und immerhin kennen die Therapeutin und ich sich jetzt schon neun Jahre. Auch krass, oder? Ich habe ihr auch gesagt, dass es mich schon nervt, immer und immer wieder an denselben Punkt zu kommen, obwohl ich eben doch schon einiges gelernt und meiner Meinung nach auch irgendwie umgesetzt habe. Naja – nützt wohl nichts, sich zu verurteilen, oder?

Ich denk fast immer noch täglich an Dich und – soweit sind wir jetzt in einer Stunde Zeit gar nicht gekommen – letztens habe ich das beim Kardiochirurgen nochmal thematisiert. Ich muss immer langsam vorfühlen, ob er sich irgendwie drauf einlassen kann. Er kennt ja die Geschichte mit Dir grob. Ich hab gesagt, dass der Frühling doch immer eine anstrengende Zeit ist. Weil ich mich da viel erinnere, weil ich da viel überlege, ob ich noch etwas hätte anders machen können. „Das verstehe ich jetzt nicht“, sagte er dazu.
Über die Jahre bleibt man doch sehr alleine damit. Was passiert, wenn ich bald sagen muss, dass es schon vier Jahre her ist? Manchmal versuche ich mich innerlich zu rechtfertigen und denke, dass man doch auch den Kontext berücksichtigen muss. Außerhalb der Helfersysteme hatte ich keine stabilen Beziehungen, Du warst die stabilste Beziehung, die ich hatte. Es war nicht eine von vielen Beziehungen in meinem Dunstkreis, die da verloren gegangen ist.
Ich frag mich manchmal, was passieren würde, wenn ich dem Kardiochirurgen erzählen würde, dass ich Dir jeden Monat – naja, fast jeden Monat – einen Brief schreibe. Er weiß das nämlich gar nicht. So weit sind wir nie gekommen. Er weiß auch nicht, wann Dein Todestag ist und ich überlege wirklich schon seit einiger Zeit, ob wir uns an diesem Tag überhaupt sehen können. Ob ich das packe. So tun, als ob nichts wäre.
Eigentlich habe ich mal gesagt, ich möchte keinen Freund haben, der diese Geschichte nicht akzeptieren kann oder nicht bereit ist, sich in irgendeiner Weise damit zu beschäftigen. Es sagt ja Keiner, dass man das immer wieder durchkauen muss. Aber, dass es wenigstens da sein darf. Aber ich habe von so einigen Dinge gesagt, dass ich die nicht machen will und es am Ende doch gemacht…

Naja. Ich denk an Dich. Halt die Ohren steif. Und hab einen wunderbaren Sommer. Ich versuchs’s auch so zwischendurch. In zwei Wochen fahren wir nach Frankreich. Also naja… - der Kardiochirurg geht paragliden und was ich so mache… ? Immerhin, es gibt eine neue Umgebung zu erkunden, es soll sehr hübsch dort sein und es gibt einige Fahrradrouten – was hoffentlich auch heißt, dass man sich Fahrräder ausleihen kann. Wenn wir nicht so ab vom Schuss sind wie in Slowenien, komme ich da vielleicht auch mal von dannen ohne das Auto.
Und ich kaufe mir noch ein Buch zum Lesen (auch wenn ich das Psychiatriebuch natürlich ebenso einpacke). Ich berichte Dir auf jeden Fall und versuche dort ein bisschen zur Ruhe zu kommen und die guten Momente zu genießen. Ich möchte frech behaupten, das hätte ich verdient.


Ganz viel Liebe
Mondkind

 

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