Reisetagebuch #1 Freundin treffen und Therapiegespräch
Der Wecker klingelt noch vor fünf Uhr.
Gar nicht mal so gut, wenn man gestern Nacht nicht vor ein Uhr geschlafen hat. Nach dem zweiten Klingeln stehe ich endlich auf, hüpfe unter die Dusche, schmeiße die restlichen Sachen in den Koffer, kontrolliere die Wohnung noch einmal und ziehe dann die Tür eine viertel Stunde zu spät hinter mir zu. Auf geht es in die Studienstadt.
Irgendwie hatte ich doch gehofft, dass die LKWs am Feiertag vielleicht nicht unbedingt morgens um kurz nach 6 Uhr mit 70 km/h über die Landstraße düsen, aber da hatte ich die Rechnung wohl ohne eben diese LKWs gemacht. Die Fahrt über das Land zur Autobahn dauert mehr als eine Stunde und als ich dann endlich fahren kann, muss ich das Möhrchen ein bisschen über die Straßen treiben. (Wobei Möhrchens natürliche Grenze bei 130 km/h liegt…)
Im Auto ist es noch angenehm frisch an diesem Morgen. Wärmer wird es erst, als sich die Autobahn merklich verbreitert, die Verkehrsdichte zunimmt und sich unschwer erkennen lässt, wieder in einem der bevölkerungsreichsten Gebieten Deutschlands gelandet zu sein.
Irgendwie lösen diese Straßen immer ein seltsames Gefühltpotpourri aus. Auf der einen Seite viel Beklemmung, auf der anderen Seite auch Vorfreude auf die Studienstadt. Und vielleicht auch etwas wie Stolz. Ich fahre ich nun mit meinem eigenen Auto und einem Kennzeichen einer Stadt, deren Namen ich nicht mal kannte als ich die heimischen Gefilde verlassen habe über so vertraute Straßen.
Ich parke das Auto an der Uni und bringe den Laptop in einem Schließfach der Medizinerbibliothek unter, wo es etwas kühler ist, als im Auto. Ich fand diese Bibliothek immer schon sehr kahl und zum Lernen etwas unpraktisch. Das hat sich auch über die Jahre nicht geändert.
Und irgendwie kann ich auch fast noch den Druck auf meinen Schultern fühlen, den diese Uni vor Jahren ausgelöst hat.
Zuerst mal düse ich dann mit der Bahn in die Stadt und treffe eine Freundin, die gerade von einer Prüfung kommt. Wir können jetzt also beide unser Leben genießen ;). Wir haben uns auch schon ewig nicht gesehen und deshalb müssen wir natürlich über viel sprechen. Am Besten geht das im Sommer in der Ecke irgendeines Cafes. Daneben komme ich dann auch mal dazu, meinen ersten Iced Latte zu trinken – so etwas gibt es bei uns auf dem Dorf nicht.
Im Anschluss besuchen wir den Fluss und d die Freundin noch Geburtstagsgeschenke kaufen muss, machen wir das auch noch, ehe wir uns in den Buchladen verirren und ich den natürlich nicht ohne ein neues Buch verlassen kann.
Mit einer Punktlandung bin ich wieder zurück auf dem Unigelände und betrete die Tagesklinik.
Meine Krankenkassenkarte möchte man am Empfang haben. „Sie waren zum letzten Mal 2023 hier“, erklärt mir die Dame und schaut mich mit einer hoch gezogenen Augenbraue an. No shit Sherlock, das weiß ich selbst.
Ich setze mich in den Wartebereich, in dem an diesem Freitagnachmittag noch viel los ist. Ein bisschen merkwürdig fühlt es sich schon an. In dem einen Leben bin ich selbst kurz davor in die Psychosomatik zu wechseln, in dem anderen Leben sitze ich hier und warte auf die Therapeutin. Eine Dame sitzt mit mir im Wartebereich und nachdem aus einem Zimmer ein Mann gekommen ist, springt sie kurz auf und hüpft ums Eck. Sie spricht kurz mit der Frau, die noch in der Tür steht, verabschiedet sich dann sichtlich erleichtert, durchquert den Wartebereich, wünscht mir alles Gute, was ich erwidere und geht. Offensichtlich wollte sie noch etwas los werden. Und eigentlich, denke ich mir, ist es doch gerade ganz okay.
Eine andere Tür öffnet sich und Frau Therapeutin bittet mich herein.
„Und – wie war die Facharztprüfung?“, fragt sie sofort unvermittelt. „Naja, es war nicht schön, aber ich habe bestanden“, entgegne ich. „Das sind doch mal gute Nachrichten. Darüber bin ich sehr froh“, sagt sie, wobei sie das „sehr“ nochmal betont, was mich an die Karte des Kollegen aus der Psychosomatik erinnert hat, in der die Kollegen das „sehr“ auch unterstrichen haben in dem Satz, dass sie sehr stolz auf mich sind. „Wer hätte das gedacht vor zehn Jahren?“, fragt sie. „Das habe ich mir auch schon so überlegt“, entgegne ich. „Verrückt. Es ist jetzt zehn Jahre her, dass wir uns das erste Mal gesehen haben“, füge ich hinzu. Sie nickt. „Und überlegen Sie mal, was da los war.“ Ich habe noch zu Hause gewohnt. War kurz nach dem Physikum. Hab 20 Kilo weniger als jetzt gewogen. Und hatte eigentlich keine Ahnung mehr, wie ich mein Leben auf die Reihe bringen soll. Es war lange unklar, ob ich weiter studieren kann – schließlich habe ich ja auch ein halbes Jahr verloren, aber konnte im Gesamten trotzdem das Studium zu Ende bringen. Und jetzt stehe ich einfach hier und habe in einer halbwegs akzeptablen Zeit meinen Facharzt hingelegt.
Wir reden über die weiteren Optionen.
Zuerst beruflich. Ich berichte von meinen Plänen in die Psychosomatik zu gehen, aber auch von meinen Sorgen in der Neuro fest zu wachsen. Erzähle davon, dass es manchmal schwer zusammen zu bekommen ist, Patientin und Therapeutin in unterschiedlichen Welten gleichzeitig zu sein, aber dass ich nirgendwo so glücklich war, wie in der Psychosomatik und meine Arbeit nirgendwo anders als so sinnvoll betrachtet habe. „Ich habe immer den Eindruck, ich soll doch mein Leben erstmal auf die Reihe bekommen, ehe ich versuche Therapeutin zu werden“, postuliere ich. Sie lacht. „Aber das haben Sie doch. Es war alles schwierig, aber sie haben das Studium beendet, Sie sind umgezogen und Sie haben einen Facharzt gemacht. Sie sind nun wirklich nicht gescheitert.“ „Naja – ich habe aber etwas gemacht, von dem ich eigentlich wusste, dass es mich nicht glücklich macht. Ich bin den Ansprüchen hinterher gelaufen.“ „Ja und das haben Sie gemerkt und können das jetzt ändern“, entgegnet sie. „Vielleicht sind das auch wieder meinen eigenen Ansprüche. Ich bin ja schon auch gewachsen an den letzten Jahren. Es war nicht der Weg, den ich gegangen wäre, aber ich habe ihn doch erstmal angenommen, eingesehen, dass es jetzt erstmal dort entlang geht, bevor ich die Dinge mehr zu meinen eigenen machen kann und gerade durch die Notaufnahme bin ich glaube ich wirklich selbstbewusster geworden.“ „Na sehen Sie. Es war vielleicht nicht der Königsweg, aber das muss doch auch gar nicht so sein.“
Und als ich über meine nun möglichen Optionen sinniere, schlage ich den Bogen über die Frage, ob ich denn im Ort in der Ferne bleiben muss – da das Ziel ja hier immer die Neuro war und sich das ja nun geändert hat – zur Beziehung.
Ich erzähle von den letzten anderthalb Wochen nach der Prüfung und dass es da schon wieder so viele Situationen gegeben hat, die für mich nicht okay waren und über die ich mich geärgert habe. („Der Freund hat einen riesigen Wandkalender, auf dem exakt kein einziger Termin eingetragen ist, aber ich soll aus der Glaskugel oder weiß ich nicht woher wissen, dass diese Woche seine Falschirmspring – Woche ist“, erkläre ich einigermaßen aufgeregt, worüber sie erstmal lachen muss). Und dann rede ich darüber, dass dieser Mensch so immense Gefühle in mir auslöst, die eben leider meist negativ sind und die guten Momente mich aber immer hoffen lassen, dass wir doch noch die Kurve kriegen.
„Ist das denn besprechbar?“ fragt sie irgendwann. „Nein“, entgegne ich, „und das ist ja auch das große Problem.“
Es ist eine Weile still. „Ich weiß auch wirklich nicht, was ich noch machen soll“, setze ich irgendwann wieder an. „ich habe so viel versucht, um uns ins Gespräch zu bringen. Wenn man es frei aus dem Bauch heraus anspricht, sitzt er zwei Stunden neben mir auf dem Sofa und es passiert exakt nichts. In der Vorweihnachtszeit habe ich uns einen Paar – Adventskalender besorgt, weil ich dachte, dass wir vielleicht so ins Gespräch kommen, aber den haben wir nicht benutzt. Und irgendwann im Frühling habe ich mal vorgeschlagen, dass wir vielleicht mal zum Paartherapeuten gehen sollten. Nicht ewig lange, aber irgendwie bin ich immer diejenige, die etwas von ihm will, worauf er keinen Bock hat und ich dachte vielleicht wäre das einfacher für uns, wenn ein dritter Mensch sozusagen dieses Gespräch vermitteln kann und jeder von uns beiden vielleicht mal mit… sagen wir, herausfodernden Fragen konfrontiert wird. Im Prinzip geht es ja auch erstmal nicht um super viel therapeutische Arbeit an der Stelle. Mir würde es erstmal reichen, überhaupt seine Standpunkte zu kennen. Was will er eigentlich von Beziehung? Wie setzt er seine Prioritäten? Gut – das merke ich, aber manchmal gibt es ja einen Unterschied zwischen machen und wollen. Ich glaube er merkt manchmal gar nicht, wie konträr sein Handeln ist zu dem, was er so sagt. Es heißt dann immer „Ja Mandy, ich will Dir nicht weh tun“ und trotzdem gibt es wöchentlich mindestens eine Nacht in der ich komplett nicht schlafe, weil er solche krassen Gefühle in mir auslöst. Das ist natürlich auch meine mangelnde Abgrenzungsfähigkeit in der Hinsicht und ich sag es Ihnen ehrlich – ich habe noch nicht verstanden, warum das bei ihm so ist und warum ich das zulasse. Das ist mir bei keinem anderen Menschen passiert. So viel Stress wie ich auch mit meiner Familie immer wieder hatte, aber so viele schlaflose Nächte haben selbst die mir in der Summe nicht bereitet.“
Ich bin wieder eine Weile still. „Und das Ding ist allmählich auch langsam, dass ich denke, dass ich das Problem bin. Dass ich halt zu viel will von ihm und von Beziehung generell. Für mich steht Beziehung an einer der obersten Plätze und ich bin bereit viel dafür zu geben, aber ich erwarte dann eben auch von meinem Partner, dass er das priorisiert – das ist schon so.“
„Weiß er das den?“, fragt sie. „Dass Sie auch das Bedürfnis haben über diese Beziehung an sich zu reden und über Gefühle in dieser Beziehung? - Sollte er eigentlich“, entgegne ich. „Ich erwähne das oft genug.“ „Und warum denken Sie, klappt das nicht?“ „Das ist die große Frage. Ich habe manchmal den Eindruck – ohne ihm Kompetenzen absprechen zu wollen – er kann sich einfach nicht gut reflektieren, vielleicht hat er selbst keine Ahnung, wie es ihm in und mit dieser Beziehung differenziert geht. Oder es ist ihm einfach unangenehm. Oder beides. Oder irgendetwas ganz anderes.“ „Naja“ sagt sie, „Menschen sind da einfach unterschiedlich. Es gibt Menschen wie Sie, die nehmen jede Spannung war und bei denen ist das eine große Wellenbewegung. Und Menschen, bei denen sind das eher kleinere Wellen. Beides ist okay. Passt aber vielleicht nicht so gut zusammen.“
Wir sinnieren noch ein bisschen über Zukunft. Darüber, dass ich gern Kinder und Familie hätte und ich nicht zuletzt deshalb jetzt mal zu definierten Entscheidungen kommen muss. „Ich habe halt so ein bisschen Sorge, dass das dann so ein 50 – er Jahre Modell wird“, überlege ich. „Dass er weiter die Karriereleiter hoch klettert und ich die Einzige von uns beiden bin, die da dann massiv zurück steckt. Ich habe ja auch noch Karriereziele. Auch, wenn ich jetzt den ersten Facharzt habe. Aber das soll schon fair aufgeteilt werden. Ich will nicht als Psychosomatikerin neben ihm unter gehen. Dann dauert es halt bei beiden länger, aber irgendwie habe ich so das Gefühl, dass ich dann auf so einer 50 % - Stelle hocke oder so und er weiter seinen Vollzeitkram mit allen Diensten und freiwilligen Samstags – Ops und weiß ich nicht was weiter macht und dieses Familien – Ding eher so eine One – man – Show wird, bei der ich die Hauptfigur bin.“ „Naja, das wäre auch so eine Sache, die müssten sie besprechen“, sagt Frau Therapeutin.
Ich lenke das Gespräch ein wenig auf eigene Entscheidungsgewalt, knüpfe ein bisschen dort an, wo ich letztens mit der Psychosomatik – Oberärztin war. Es wäre schön, wenn der Freund und ich mal sprechen könnten, weil es mir auch ein besseres Gefühl geben würde, als wenn ich dann eine Entscheidung treffen muss in der Annahme, dass die Dinge eben sind, wie ich denke, dass sie sind. Ich bin immer noch der Meinung, es gäbe einen Weg für uns beide, wenn wir den Weg in die Kommunikation fänden. Ich will mich eigentlich nicht trennen, ich liebe diesen Typen trotz allem – sonst würde ich das alles wohl schon lang nicht mehr mitmachen.
Und trotzdem muss ich mehr auf mich schauen. Was will ich? Wo sehe ich meinen Weg? Ich weiß, ich möchte eine gute Therapeutin werden und irgendwann vielleicht mal eine eigenen Praxis haben. Und ich weiß, ich möchte mal heiraten, ich möchte eine Familie gründen und Kinder groß ziehen. Und jetzt muss ich ins Handeln kommen und die nötigen Schritte gehen und manchmal tun die Entscheidungen dann eben tatsächlich auch weh. Wachstumsschmerz ist das dann wohl.
„Wie verbleiben wir jetzt?“, fragt sie am Ende.
„Naja, ich melde mich, wenn es okay ist?“, entgegne ich.
„Machen Sie das, ich höre immer gern von Ihnen.“
„Ich habe mir auch vorgenommen, jetzt wieder öfter in die Studienstadt zu kommen“, sage ich.
„Na das ist doch schön“, meint sie.
„Und Danke Ihnen“, formuliere ich nochmal. „Ich glaube, es gibt Niemanden mehr außer Ihnen, die diesen Weg der letzten zehn Jahre live mitbekommen hat und es ist so schön, dass da noch jemand da ist, der all die anderen Zeiten auch noch erlebt hat und all das, was seitdem passiert ist.“
„Sie haben das sehr gut gemacht; sie können wirklich stolz auf sich sein. Und nochmal – ich bin sehr froh, dass Sie Ihren Facharzt jetzt haben.“
„Froher als ich“, werfe ich mit einem Lachen sein.
„Na wenigstens einer muss ja froh sein. Und der Psychiater ist übrigens gerade im Urlaub, aber der sitzt zwei Türen weiter. Also wenn Sie wollen… ich glaube, jeder sieht Sie hier gerne.“
Auf dem Weg zurück zum Auto überkommt mich nochmal ganz viel Dankbarkeit. Die Menschen in der Ambulanz waren da, als ungefähr nichts funktioniert hat. Haben gehalten, als sonst nichts mehr getragen hat. Sind einfach mitgegangen, waren Stütze und Mutmacher, manchmal auch Problemlöser und haben mir das Vertrauen und die Sicherheit gegeben, irgendwie einen Fuß vor den anderen zu setzen. Und klar, ich musste den Weg schon irgendwie selbst gehen, aber ich wäre heute nicht dort wo ich bin, wären diese Menschen nicht gewesen. Ich denke nichts ist wichtiger als Menschen, die an einen glauben, einem die Hand reichen, wenn man es gerade selbst nicht mehr kann.
Und dann fühle ich wieder, warum ich Psychosomatik machen möchte. Ich möchte einer von solchen Menschen sein. Ich möchte dazu beitragen, dass Menschen ihr Leben positiv verändern können. Brücken bauen, wenn die Abgründe zu tief sind. Menschen die Chance auf ein gutes Leben geben, wenn das Schicksal es nicht gut gemeint hat – nehmen muss die aber am Ende doch jeder selbst und deshalb kann man es wahrscheinlich auch nicht immer schaffen.
Aber ich werde diesen Menschen, die in diesen schwersten Jahren da waren, für immer dankbar sein.
Mondkind
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