Reisetagebuch #2 Alte Heimat

Sonntagmorgen.
Ich habe im Hotel gefrühstückt, meine Sachen wieder zusammen gepackt und bin nun auf dem Weg zu meiner Mum. Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wann ich sie zuletzt gesehen habe. War ich überhaupt mit dem Möhrchen schon mal da?

Ich bin die Verbindung vom Flughafen in der Studienstadt zu unserem Dorf gefahren, die wir nur sehr selten gefahren sind. Zuletzt biege ich dann aber auf die „Kurvenstraße“ ab. Keine Ahnung, wie diese Straße in Wirklichkeit heißt – es ist jedenfalls das letzte Stück kurvenreiche Landstraße vor unserem Dorf und deshalb hieß die bei uns immer „Kurvenstraße“. Ich muss daran denken, dass allein Mum zwei Autos auf dieser Straße zu Schrott gefahren hat und trete ein wenig auf die Bremse. 
Links von mir sehe ich die Wiese mit den Eseln, rechts den Wald. Und dann, ganz plötzlich spüre ich ein Gefühl von tiefer Beklemmung. Ich atme tief ein, aber das führt nur dazu, dass mir plötzlich die Tränen in die Augen schießen. 
Im Radio schmettert Ed Sheeran „Sapphire“ und ich erinnere mich kurz daran, dass es damals weder den Song gab, noch hatte ich irgendeine Idee davon, dass ich eines Tages mit meinem eigenen Auto, mit einem Kennzeichen einer Stadt, deren Namen ich bis dahin nie gehört hatte und einem Florian – Künstler – Aufkleber auf der Heckscheibe hier entlang düsen würde. Ich versuche mir zu sagen, dass es am Ende gut geworden ist, dass ich jetzt hier bin, gekämpft und überlebt habe und doch fühlt es sich an, als würde dieser Ort weiterhin seine Klauen um mich schlingen, mich gefangen nehmen und festhalten. 

Meine Mum hat mich gebeten noch ein Brot mitzubringen was bedeutet, dass ich durch das halbe Dorf fahren muss, um kurz beim Bäcker zu halten. Ich fahre durch unsere alte Siedlung. Durch die, in der sich die erste Mietwohnung befindet, in der wir damals hier in dieser Gegend als vierköpfige Familie gewohnt haben. Ich sehe die Grundschule, den alten Schulweg und auf dem Weg zurück treffe ich die Buslinie, mit der wir zum Gymnasium gefahren sind. 

Dort in diesem Auto sitzend wird mir der Druck bewusst – vielleicht mehr, als das bisher je der Fall war – den dieser Ort so viele Jahre ausgeübt hat. Den ich immer noch spüren kann. Dieses „aus Euch muss was werden“, dieses „Passt auf, sonst landet Ihr unter der Brücke.“ Eine Welt außerhalb der Ansprüche schien nicht zu existieren. 

Ich gehe in mich, aber ich kann mich tatsächlich an wenig aus diesem Ort erinnern, das etwas anderes mit Schule zu tun hatte.

Auch bei meiner Mum zu Hause – in meinem alten Elternhaus – geht es wenige Minuten danach natürlich um Aufstiegsmöglichkeiten zur Oberärztin. Ich hatte schon mit Frau Therapeutin am Freitag darüber gesprochen, dass der Papa auch schon sofort danach gefragt hat und dann hatte sie gefragt: „Und was sagt Ihnen denn das?“. Ich kann heute nur sagen, dass meine Eltern wahrscheinlich auch nur Kinder ihrer Zeit sind, gebrandmarkt durch das, was sie selbst erlebt haben. Ich weiß, dass zumindest die Familie meiner Mum auch recht leistungsorientiert war, dass man viel von ihr verlangt hat und das Einzige das ich ihr wirklich vorwerfe ist wohl, dass sie das so ungefiltert und unreflektiert – gerade wo sie doch im Bereich der Pädagogik gearbeitet hat – weiter gegeben hat. 
„Ich weiß heute, dass ich es denen nie Recht machen kann und auch nicht muss“, hatte ich geantwortet und auch an einen Kommentar von meiner Psychosomatik – Oberärztin gedacht, die zu dem Vorwurf an mich selbst, warum ich denn nicht sofort Psychologie studiert habe, sondern den weiten Umweg über die Medizin gemacht habe gesagt hatte, dass ich es wohl gemacht hätte, wenn ich es gekonnt hätte. 


Noch ein Foto aus der Studienstadt

Später drehe ich eine Runde durch mein altes Kinderzimmer. 
Meine Mum hat mal irgendwann ziemlich viel einfach ausgeräumt – da gab es eine Menge Stress, aber ein paar Dinge sind auch noch da. Schulordner zum Beispiel. Ich ziehe welche raus. Blättere durch Englischaufsätze. Physikklausuren. Und komme beim Pädagogik – Ordner an. Hätten unsere Eltern gewusst, dass das Pädagogik und Psychologie zusammen ist, wäre das als Leistungskurs wohl nie erlaubt gewesen. Ich kann mich erinnern, ich wollte das auch gar nicht machen, aber die Eltern haben geglaubt, man könnte da einfach eine gute Note bekommen. Turns out – nein. Es war Theorien lernen ohne Ende für den Pädagogik – Teil. Und im Psychologie – Teil haben wir Freud auseinander genommen und Essstörungen behandelt. Ich fand es super spannend und man sieht schon an meiner Art Notizen zu machen, wie viel Mühe ich mir da gegeben habe. „Jetzt hast Du es in der Hand“, denke ich mir, während ich weiter blättere. Mit 32 Jahren hat mich dieser Facharzt befreit – nur manchmal denke ich, ich bin zu tief in dieser Neuro – Sache, um da einfach auszusteigen. 
Ich stelle den Pädagogik – Ordner zurück und finde einen Anatomie – Ordner aus dem Studium. Daran kann ich mich absolut überhaupt nicht erinnern. Überhaupt – irgendwann ist mir mal aufgefallen, an wie wenig ich mich eigentlich erinnern kann und die ersten Jahre Studium gehören definitiv dazu. Ich weiß nicht, an wie viel sich andere Menschen erinnern können aus Kindertagen und natürlich kenne ich die Straßen hier, die Schulwege, habe eine ungefähre Ahnung davon, wie der Alltag ausgesehen haben muss, kenne all die Mantras von damals, die in unseren Köpfen waren, aber von Erlebnissen kann ich nicht viel berichten. Neu ist allerdings, dass ich irgendwie ein Gefühl zu diesem Ort habe und ich frag mich ein bisschen, wie sich Kindheit eigentlich anfühlen sollte. So retrospektiv.

Mondkind


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