Anfänge

Mein lieber Freund,
ich habe Tee – Momente oder Café – Dates selten so vermisst, wie in den letzten Tagen.
Gefühlt stellt sich mein halbes Leben auf den Kopf. Das ist natürlich völlig übertrieben, aber es fühlt sich so an.
 
Ich war beim Chef am Freitag und es ging um meine berufliche Zukunft. Ich habe viel geübt vorher, damit ich die Dinge, die ich mir wünsche auch klar formulieren kann und natürlich ist es mit ihm sehr viel einfacher, als mit dem Neurochef.
Ich konnte sagen, dass ich gern zurück kommen würde, er allerdings der erste Vorgesetzte ist, mit dem ich das bespreche und ich deshalb nichts Konkretes abstecken kann, aber ihn gern fragen würde, wie er dazu steht. Er fand die Idee sehr schön und hat sich gefreut, dass ich eine Interesse für die Psychosomatik entwickeln konnte. Er hat mir dann die Steilvorlage geliefert, angemerkt, dass ich ja ziemlich herumgeschoben wurde die letzten Monate und wie es mir denn damit ging. Hier konnte ich sagen, dass ich mir gewünscht hätte, dass es eher und transparenter kommuniziert worden wäre, aber dass ich jetzt gerade sehr glücklich bin und sehr viel Unterstützung von den Kollegen bekomme und von meiner Oberärztin, die auch sehr um Aus- und Weiterbildung bemüht ist und ich da in der Psychosomatik auch ein großes Interesse hege, dass ich etwas lernen kann, ist das sehr wertvoll. Und deshalb würde ich mir schon wünschen, zurück in meine Gruppe zu kommen, wenn ich wieder komme. Er meinte, wenn die Oberärztin das auch so sieht (ja, tut sie…), dann würde er das berücksichtigen und denkt, dass es möglich wäre.
 
Danach habe ich erstmal geweint in meinem Büro. In dem Moment vorrangig, weil es so gut gelaufen ist. Weil ich nicht erwartet hätte, dass ich mich gar nicht an ihm abarbeiten muss, dass er den Wunsch annimmt, dass ich auf den Arbeitsplatz zurück möchte, von dem ich jetzt weg gehe.
 
Ich glaube, Du wärst einer der wenigen Menschen gewesen, der aber auch all das dahinter hätte sehen können. Mit dem ich hätte sitzen und dem ich hätte sagen können: Es ist alles so gut, aber ich kann noch nicht sagen, dass es sich gut anfühlt.
Es ist Schwellenerleben. Schwellenerleben war noch nie gut. Ich habe mich nie für den richtigen Weg an einer Weggabelung entschieden. An einer, die wirklich wichtig war. Nach dem Abi ging es ins Medizinstudium. Und von da aus in die Neuro. Ich habe einen alten Tagebucheintrag gefunden, in dem ich geschrieben habe „Irgendwie gibt es einen Plan für „nach dem Examen“ und gleichzeitig ist da immer noch das „Nichts“. Die Neuro war alles und Nichts zugleich. Der Einzige Plan, den ich hatte, an dem ich verbissen gehangen habe und gleichzeitig war da immer das Wissen, dass ich dort nicht würde bleiben können, so sehr wie ich es mir auch gewünscht habe. Und dann war das immer eine seltsame Verstrickung aus der Suche nach einer „Ersatzfamilie“ mit der potentiellen Bezugsperson und der Frage, ob mir das dort gut tut.
 
Die Oberärztin nimmt ein bisschen Deinen Part ein. Ist ein bisschen das, was all die Jahre danach gefehlt hat. Ich glaube, therapeutische Prozesse sind manchmal auch ein stückweit Lebenserfahrung. Ich glaube schon, dass ich heute sehr viel reflektierter bin, als ich es noch vor ein paar Jahren war. Dass ich das mittlerweile trennen kann: Das Gefühl von der Realität.
Etwas zu tun, das man noch nie getan hat, wird sich immer ein bisschen „falsch“ anfühlen. Plötzlich den eigenen Standpunkt zu vertreten, sich plötzlich für einen Job entscheiden, den man selbst richtig gern mag, obwohl er in dieser Medizinerwelt eher auf dem Abstellgleis steht. Aber es geht darum etwas zu tun, in dem man aufgeht und unabhängig davon welchen Oberarzt ich hatte und dass ich jetzt gerade sehr glücklich in meiner Sektion bin, aber ich war in dem ganzen Jahr nie so unglücklich mit meinem Job, wie über weite Strecken in der Neuro.
Entscheidungen können wir immer nur für den Moment treffen, sagte die Oberärztin. Ob das richtig ist, das kristallisiert sich erst heraus. Am Anfang können wir nur auf unsere Intuition hören. Und wenn mir irgendwann die Neuro wirklich fehlen sollte, dann kann ich doch zurück. Aber dann vielleicht auch mit einer anderen Einstellung. Dann mit einem: Jetzt kommt es von mir aus, jetzt bin ich diejenige, die das will und die Neuro nicht nur als Alternative betrachtet.
Heute hat sie gesagt, dass wir ja nur dieses Leben haben und dass es unsere Aufgabe ist, das so gut wie möglich und im Einklang mit uns selbst zu leben. Und dass das nicht gesund ist und auf Dauer krank macht, ständig gegen die eigenen Intuitionen und Gefühle zu kämpfen. Natürlich erzählt sie da nichts Neues, aber ich habe mich in dem Moment gespürt, dass ich an dem Punkt „Krankheit“ mit diesem Leben ja schon war. Es hat sicher einen Grund, dass das gegen Ende des Studiums und auch in der Neuro immer wieder dramatisch dekompensiert ist. Ich habe gegen mich selbst gekämpft. Und das kann ein ausdauernder Mensch wie ich dann ziemlich verbissen.
 
„Sie sind eine zielstrebige, junge Frau mit ganz, ganz feinen Antennen“, hat sie zwischendurch gesagt. „Und die brauchen Sie auch in diesem Job.“
Ich glaube, ich muss noch lernen, die ein bisschen zu sortieren in der nächsten Zeit.
 
„Ich hab gar keine Neuro gemacht in der letzten Woche“, habe ich irgendwann gesagt. „Ich wollte es wirklich machen und ich saß auch davor, aber ich habe wirklich nur Durcheinander in meine Zusammenfassungen geschrieben.“
„Ich bin fast froh, dass Sie mir das sagen. Sie haben nämlich etwas viel Wichtigeres gemacht – Sie haben sich mit sich selbst auseinander gesetzt.“
„Danke, dass Sie mich so sehr unterstützen bei diesen Schritten jetzt. Das ist wirklich gar nicht einfach, aber ich bin sehr froh, dass Sie das gerade ein bisschen begleiten.“
„Mich hat das berührt, was ich von Ihnen erfahren habe und ich kann das nur immer wieder sagen: Ich wünsche mir für Sie, dass Sie Ihren Weg gehen und ich wäre sehr froh, wenn ich weiter mit Ihnen arbeiten könnte. Sie machen das nämlich sehr gut.“ 



Ehrlich gesagt, ich wünschte Du hättest diese Zeit hier miterleben können.
Ich weiß, Du wärst stolz auf mich gewesen. Wahrscheinlich stolzer, als ich selbst.
Und ich hätte Dich gebraucht. Jetzt. Hier. Ich bin schon oder erst so halb auf dem Weg. Und wenn es jetzt schon so ein Chaos ist, wie soll es erst werden, wenn es dann wirklich festgezurrt ist…?
 

Ganz viel Liebe
Mondkind

 Bildquelle: Pixabay

Kommentare

  1. WOW, MONDKIND, DU BERÜHRST MICH AUCH GERADE TOTAL....HAB GÄNSEHAUT!!!!! ALLES LIEBE FÜR DICH! LG NICOLE

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Danke Dir Nicole. Ich bin noch nicht so überzeugt von allem, das hier gerade läuft, aber vielleicht wird das ja noch...

      Mondkind

      Löschen

Kommentar veröffentlichen

Beliebte Posts aus diesem Blog

Drittes Staatsexamen - ein Erfahrungsbericht

Reise - Tagebuch #2

Von einem Gespräch mit dem Kardiochirurgen