Ideen und Anstöße

„Ich weiß, wir waren verabredet, aber mit mir ist heute nicht mehr viel los, ich glaube das wird nichts mehr. Mondkind, Du hast Deine Kollegen doch nicht mehr lange, Du kannst mit denen etwas machen.“
Danke für die Erinnerung. Hätte ich sonst fast vergessen, dass der Oktober unaufhaltsam näher rückt.
Aber Du hattest dienstfrei. Und wir waren verabredet. Das wird so nicht stehen bleiben.

***
Manchmal schlägt es wie eine Welle ein.
„Es sind nie die schweren Momente, in denen das Fehlen groß wird“, geht mir durch den Kopf, während ich mit dem Handtuch über den Schultern raus aufs Meer sehe. „Wir haben das doch schon besprochen“, würde der Mensch neben mir murmeln, wenn ich das laut sagen würde.
Es sind die Wellen, die gerade noch über unseren Köpfen zusammen geschlagen sind, uns überspült haben, die wir gesucht haben, um uns auf ihnen tragen zu lassen, bevor sie laut tosend zerbrechen, die nun nur noch in meinem Kopf sind.
„Es gibt einen Song von Florian Künstler, der heißt „Wie geht`s Dir eigentlich?“. Und der ist so bewegend, weil er thematisiert was passiert, wenn man die Frage ehrlich meint und ich habe das Gefühl, ich kann seit vier Jahren kaum noch sagen, wie es mir geht“, werde ich wenige Tage später erzählen. „Denn da schwingt immer etwas mit. Immer ein bisschen Schwere. Und vielleicht muss ich das akzeptieren.“ Es kommt immer mal wieder vor, dass ich die alten Bücher raus krame, alle Dokumentationen, die ich finden kann. Zeiten, in denen ich das immer und immer wieder im Kreis hören muss, nicht aufhören kann, mich damit zu beschäftigen.

Nach vier Jahren erzählt man die Geschichte irgendwie anders.
Abgeklärter.
Windet sich irgendwo zwischen Verstand und Gefühl. Der Kopf hat es verstanden. Alles. Die Verantwortlichkeiten. Das Schuldprinzip. Die Notwendigkeit, weiter zu leben und irgendwie glücklich zu werden, weil alles andere ohnehin keinen Sinn hat.
Das Gefühl hinkt immer noch hinterher. Glaubt daran, ein Leben lang eine Schuld abarbeiten zu müssen, nicht mehr glücklich werden zu dürfen, versagt zu haben. Vielleicht wäre er nicht gestorben, hätten wir uns nicht gekannt. Vielleicht habe ich ihn indirekt umgebracht.
Das Gegenüber seufzt. „Ich würde Sie am liebsten schütteln.“ „Ich mich auch manchmal“, entgegne ich.

„Ich glaube, ich kann Ihnen nichts Neues mehr erzählen“, höre ich nach einer Weile und ich befürchte schon, dass das die Einleitung von „Es ist hoffnungslos mit Ihnen“ ist, die ich so viele Male gehört habe.
„Sie haben das alles verstanden. Sie haben das auf einer kognitiven Ebene bis zum Ende durchgearbeitet. Und das ist gut, das hat sie sicher voran gebracht, aber das hilft Ihnen nicht mehr. Sie brauchen da eine emotionale Verarbeitung.“ „Und wie soll das gehen?“, frage ich. „Da rennt Kopf gegen Gefühl, schon seit Ewigkeiten und ich kann es nicht abstellen“, füge ich hinzu. „Naja, Sie brauchen eine andere Therapieform. Hypnose oder EMDR, ich könnte mir vorstellen, dass Ihnen das weiter helfen kann, weil das eher auf eine emotionale Form der Verarbeitung abzielt.“ Ich nicke langsam.

Irgendwie fühlt es sich gut an, dass Jemand noch Ideen hat. Dass vielleicht doch mehr möglich ist, als für den Rest meines Lebens zwischen den Polen gefangen zu sein. 


***

Abends.
Ich liege mit dem Kardiochirurgen auf dem Sofa, mein Kopf auf seiner Brust, während er mir mit den Fingern durch die Haare fährt.
Es war eher ein überfallsartiger Besuch, er hat den Tag mit Paragliden verbracht und ist eigentlich müde, aber ich wollte ihn trotzdem sehen und konnte nicht einsehen, dass die Energie fürs Fliegen gereicht hat, aber für die Freundin nicht mehr.
Ich frag mich, ob ich es ansprechen soll, was ich heute gehört habe. Überlege eine Stunde und mache es dann doch.

„Da waren wir doch schon mal“, kommentiert er dazu nur.
Echt? Ist mir neu. Manchmal wünsche ich mir, er hätte mehr Zugang zu diesen Themen.
„Mondkind – die wichtige Frage ist doch die: Muss da überhaupt irgendetwas gemacht werden? Kann man das nicht einfach so laufen lassen?“
Vielleicht ist das mein selektives Gehör, aber es fühlt sich an, als wolle er sagen: „Bisher ging es doch auch.“ „Und wenn Du Dich für eins von beiden entschieden hast, ist alles andere eher zweitrangig. Irgendwen, der diese Therapieform mit einem macht, wird man schon finden, das ist dann nicht mehr das Problem.“ Oh man… - er kennt sich nicht aus in der Therapeutenlandschaft.
„Naja, aber weißt Du was – überall wo das Thema auftaucht, hören Menschen die vom Fach sind, fünf Minuten zu – meiner erster Oberarzt hat es ja auch mehr oder weniger unfreiwillig mitbekommen – und sind der Meinung, dass es so nicht geht.“
„Und was denkst Du?“
„Naja, ich weiß es nicht. Auf der einen Seite habe ich mich irgendwie eingerichtet damit die letzten vier Jahre, auf der anderen Seite weiß ich nicht wie es sein könnte, wenn es besser wäre.“ Ich überlege eine Weile. „Und natürlich ist jedes Verarbeiten auch eine Form von Loslassen. Solange wie er täglich an die Tür klopft, habe ich ihn täglich bei mir und selbst das ist ambivalent. Auf der einen Seite will ich das nicht mehr, auf der anderen Seite kann niemand, als die Hinterbliebenen ihn im Leben halten.“
„Naja und da musst Du Dich entscheiden Mondkind.“
„Dummerweise finde ich, eigentlich würde selbst das schon zum Therapieprozess gehören.“

Und ich glaube, das ist dieser Punkt, auf den sich aktuell viel Wut richtet. Warum musste ich – unfreiwillig – in diese Position rutschen jetzt diejenige zu sein, die ihn noch durch die Welt tragen kann – mit ziemlich hohen persönlichen Kosten? Ich will das nicht - ich will aber auch nicht, dass er untergeht und er selbst kann in dieser Welt nicht mehr die Hand heben. Er braucht jemanden, der das stellvertretend für ihn tut und wenn ich das nicht mehr mache, dann macht es keiner mehr.

„Ich hab keine Neuro mehr gemacht die letzten Tage. Das hat die Kapazitäten irgendwie gesprengt.“
„Vielleicht ist das gerade nicht dran. Vielleicht müssen Sie sich gerade um anderes kümmern.“

Mondkind


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