Stippvisite

Schwierig.
Sehr schwierig.

Ich reg mich nicht mehr auf, weil es zu erwarten war. Immer eine Schippe mehr, als man gehofft hatte, dass es werden würde, aber im Gesamten doch vorhersehbar.
Und wahrscheinlich würde es das Gleichgewicht der Beziehung auch wieder stören, wenn ich etwas dazu sage.

Dass ich am Mittwoch nicht würde bei ihm bleiben können, war mir klar. Seine Wohnung sah vor der Abreise aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen – mild ausgedrückt – da würde er mich nicht mehr rein lassen.
Aber Donnerstag und Freitag könnten wir doch miteinander verbringen, wenn er Samstag und Sonntag schon Fallschirm springen gehen möchte. Zumindest dann ab Donnerstagnachmittag.

Tja – Rechnung ohne den Kardiochirurgen gemacht. Gestern haben wir uns trotz mehrfacher Nachfrage meinerseits nicht gesehen – auch nicht zum Abendessen und heute…? Mal sehen.
Es wäre wirklich schlauer gewesen, wir wären mit zwei Autos gefahren – dann wäre ich einfach noch bei meiner Schwester geblieben. Warum man den Urlaub auf vier Tage einkürzt, wenn man eine ganze Woche Zeit hat, habe ich ohnehin nicht verstanden.

Der August wird ein schwieriger Monat. Sommer. Ferienzeit. Vor allen für diejenigen mit Kindern. Die anderen arbeiten dann meist ein bisschen mehr. Ich habe an drei von vier Wochenenden Dienst, davon zwei Samstage – da kann man das Wochenende eigentlich komplett knicken. Und was mit dem September – Urlaub ist, weiß ich nicht. Ich habe trotz mehrfacher Nachfrage kein Statement vom Kardiochirurgen gehört. Ich weiß gar nicht, ob er zumindest eine der beiden Wochen frei hat oder gar keine… ?

***
Ich hab viel an ihn gedacht, die letzten Tage.
An den verstorbenen Freund.
Es ist immer schwierig, wenn es so knallt vor dem Urlaub und man dann plötzlich umstellen soll auf Entspannung. Das geht nämlich nicht so einfach. Ich hätte gern den Austausch mit der Oberärztin noch kurz behalten, bis es wieder stiller in mir geworden wäre.

Florian Künstler hat „schwarzer Anzug“ gesungen. Irgendwie war es ein ziemlich emotionaler Abend und ich war zum Glück nicht die Einzige im Publikum, aber ich musste so sehr weinen, dass ich nicht mal ein kurzes Video vom Song gemacht habe. Musik fühlen, sich im Griff haben und ein bisschen mitfilmen war wirklich zu viel.

Ich hab mich gefragt, ob er je die Dinge gesehen hat, die ich gesehen habe in diesen vier Tagen. War er je in der jetzigen Heimat meiner Schwester? Hat er je die Nordsee gesehen? Die Inseln? Robben am Strand? Und wenn ja, hat er es genauso genossen, wie ich?

Wir kannten uns in einer Zeit, in der Geld ein knappes Gut war. Wir waren nie zusammen weg. Ich frag mich, wie das bei uns geklappt hätte. Wie unser Miteinander im Urlaub gewesen wäre, das irgendwie noch mal anders ist, als der Alltag. 

 

Noch ein Bild vom See



***

Ich war kurz auf der Arbeit gestern.
Hab einen Zettel gesucht, auf dem der Geburtstag einer Kollegin steht, der in den nächsten Tagen ist. Ich war mir nur nicht mehr sicher, wann.
Irgendwer hat das Fenster auf Kipp gestellt. Wahrscheinlich die Putzfrauen.
Und wenn ich schon mal da war, habe ich kurz das Telefon eingeschaltet, nachgeschaut, wer etwas von mir gewollt hat und kurz den PC hoch gefahren und nach meiner Gruppe geschaut. Ich muss am Wochenende mal eine Runde Briefe schreiben gehen, aber das wusste ich auch schon vorher. Die Interviews der Neuaufnahmen sind nicht gemacht – aber die Oberärztin ist alleine diese Woche; ich habe schon ein schlechtes Gewissen und bin andererseits froh, dass die Gruppe doch recht gut zu laufen scheint, da kann ich die Interviews Anfang nächster Woche machen. Aber dann sollte ich keine Briefe mehr schreiben müssen.
Ich stelle fest, ich werde es vermissen. Den Job dort. Die Menschen. Den Bezug zu meinen Patienten.
Je näher der Oktober kommt, desto nervöser werde ich.
Ich will nicht zurück in die Neuro. Einfach überhaupt gar nicht.

Ich spür viel Traurigkeit in mir. Viel Unsicherheit.
Versuche es ein bisschen weg zu schieben, weil wir es ohnehin nicht wissen.
Aber was ist, wenn das hier nur ein paar Pirouetten im Licht sind?
Was ist, wenn alles was jetzt da ist, wieder geht?
Was ist, wenn das mit dem Kardiochirurgen nicht hält? Das kann ja so nicht ewig weiter gehen.
Was ist, wenn ich den Absprung aus der Neuro nicht so schaffe wie geplant?
Was ist, wenn wir irgendwann in ein paar Monaten dort raus kommen, wo wir so lange waren. Den Rest von 2020. Ab September. Als ich nach der Psychiatrie wieder alleine in meiner Wohnung stand und erst langsam begriffen habe, dass ab jetzt für lange Zeit alles anders sein wird? 2021, was wahrscheinlich so ziemlich das traurigste Jahr war.
Was ist, wenn die guten Zeiten sich nicht halten lassen? Während um einen herum das Leben in geregelten Bahnen ankommt. Sich weiter dreht, nur bei einem selbst nicht. Freunde heiraten, kriegen Kinder, mein Schwesterchen schafft den Absprung auch irgendwie. Was ist, wenn nur ich ihn wieder verpasse?

Ich denk über die Worte der Oberärztin nach. Über dieses ganze Therapie – Thema.
Eigentlich wüsste ich nicht, was ich da sollte.
„Man muss die Geschichte so oft im Kreis erzählt haben, bis man das Gefühl hat, ein Mal gehört worden zu sein“, sagte mal Jemand.
Ich merk, dass es gut tut, sprechen zu können. Über das, was sich im Innen bewegt. Und sowieso da ist. Meine erste Therapeutin war und ist so etwas wie eine „Ersatz – Mami“. Weil in der Familie nun mal nichts halten konnte. Ich bin ihr echt dankbar, dass sie da aber sehr auf den professionellen Rahmen bedacht war und ist, den trotzdem soweit dehnt, wie es eben möglich ist und es dadurch eben machbar wird, dass wir uns ab und an noch hören und sehen. Und ich sie dann aber auch immer wieder gut gehen lassen kann.
Bezug haben und sprechen können. Das war immer so mein Sinn dahinter. Aber wahrscheinlich nicht das Ansinnen der Therapeuten. Ich merk das auch bei mir. Ich will mehr von den Patienten. Ich will, dass die sich bewegen. Neue Beziehungserfahrungen machen. Positive. Mit denen sie vielleicht Altes besser verstehen, überschreiben und integrieren können.
Und gleichzeitig merke ich bei mir, dass ich dem auch nicht vertrauen kann. Ich habe teilweise wirklich gute Erfahrungen mit therapeutischen Beziehungen gehabt. Und dennoch sind das nüchtern betrachtet rein vertikale durch die Krankenkasse finanzierte Arbeitsbeziehungen, die sich nicht auf das Leben an sich übertragen lassen.
Und wie will man ein Ereignis integrieren, das so schrecklich war, so sehr am Selbstbild, am Selbstvertrauen und an den Glauben in das Gute im Leben gewackelt hat, dass da für immer ein Grundmisstrauen übrig bleiben wird? Und es war ja auch „nur“ die Krönung einer Verkettung von so vielen Dingen, die sich irgendwie nicht integrieren ließen.
„It´s a long way down, when you´re far from the ground. I´ve been falling most of my life“, singt Ronan Keating in einem Song, den ich schon in den ersten Jahren des Studiums auf Dauerschleife gehört habe. Lange vor der Katastrophe. Und ich hab mich da sehr verbunden gefühlt. Es war ein Schablonenpressen. Für die meiste Zeit meines Lebens. Den Weg gehen, den die Erwachsenen vorgegeben haben, weil ich mit meinem verträumt – künstlerischen Sein irgendwie nicht in diese Welt gepasst habe. Und heute habe ich eigentlich keinen Plan, wo ich hin will. Es ist alles schon irgendwie okay, aber nichts so richtig gut. Es fühlt sich im Gesamten falsch an. Und manchmal versuche ich die Grashalme doch noch ein bisschen zu biegen. Mit der Psychosomatik zum Beispiel. Ich find`s cool, dass meine neue Oberärztin sich viele Jahre mit Kunst beschäftigt hat.
Ich konnte es wirklich kaum ertragen, dass meine Schwester und der Kardiochirurg ewig über die Intensiv gequatscht haben. Die Intensiv war für mich die endgültige Bestätigung in diesem Job einfach super falsch zu sein. Und manchmal fühle ich mich in dieser ganzen Mediziner – Bubble irgendwie so falsch. Und doch hänge ich da jetzt fest. Hab die allermeisten Kontakte dort. Verbringe den Hauptteil meiner Zeit damit.
Und alle Dinge, die gut waren, die ein Ausbrechen waren, die konnten nicht lange bleiben.

Manchmal denke ich, um wirklich auf so etwas wie einen grünen Zweig zu kommen, müsste ich wahrscheinlich mein halbes Leben auf den Kopf stellen. Was unendlich viel Mut erfordern würde. Sich erstmal sicher auch nicht richtig anfühlen würde.
Und manchmal denke ich, vielleicht geht es nicht darum. Vielleicht geht es manchmal nur darum, seinen Blickwinkel auf die Ereignisse mal um 90 Grad zu drehen. Vielleicht geht es darum es auszuhalten, wenn Jemand anders einen mal an die Hand nimmt. Vielleicht geht es darum zu lernen, den anderen mal sein zu lassen und zu vertrauen, dass er schon wieder kommt. Vielleicht geht es auch irgendwann darum zu Begreifen, dass alles was passiert, immer ein Fließen ist. Dass wir keinen Anspruch haben, dass Dinge bleiben, wie sie sind. Dass viele Menschen unseren Lebensweg kreuzen, mit dem wir kurz Pirouetten tanzen und die wir dann wieder ziehen lassen, dankbar für das, was wir erleben durften. Vielleicht geht es darum zu lernen, dass man immer ohne Sicherung tanzt, so gern man die auch hätte. Und dass man nie weiß, wo man aufschlägt, wenn man fällt.

Vielleicht werden wir darüber noch sprechen können. Die Oberärztin und ich. Wie schon mal erwähnt – das Kind ist jetzt ohnehin in den Brunnen gefallen, nach der letzten Woche. Jetzt muss ich auch nichts mehr verheimlichen. Mir ist letztens der Gedanke gekommen, das hat sich ein bisschen angefühlt wie damals beim letzten Therapeuten in der Klinik. Wir kannten uns fünf Minuten, aber das Fass war so voll, dass es wahrscheinlich bei Jedem explodiert wäre, egal wer mein Gegenüber gewesen wäre.

Ich finde es ein bisschen erstaunlich. Dass ich oft so eine genaue Vorstellung davon habe, was die Patienten in ihrer Therapie tun müssten. Während ich für mich eigentlich gar keine Idee habe, was denn da passieren müsste, damit ich besser zurecht komme.
Und irgendwie ist glaube ich auch jeglicher therapeutischer Prozess an einem bestimmten Punkt auch immer wieder zum Stillstand gekommen. Ich hab so oft gehört „wir drehen uns hier im Kreis.“ Weshalb meine erste Therapeutin und ich uns glaube ich auch irgendwann still darauf geeinigt haben, dass ihr Job ist, mich einfach ein bisschen durchs Leben – damals durch das Studium – zu begleiten. Und ehrlich gesagt wüsste ich auch nicht, ob ich es geschafft hätte ohne sie.

Und manchmal ist’s schon komisch. Der wichtigste Mensch aus dem privaten Umfeld von damals lebt nicht mehr und die zweite wichtige Beziehung ist eben eine Vertikale, von der ich ein oder zwei Mal im Jahr etwas höre. Manchmal fühlt sich das irgendwie nachträglich sehr einsam an. In fünf Jahren wird es vielleicht Niemanden mehr geben, zu dem man sagen kann: „Weißt Du noch, damals…“

So – genug jetzt. Ich muss mal langsam etwas schaffen hier. Von allein tun sich die Dinge leider auch nicht.

Mondkind
 

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