Vier Jahre

Mein lieber Freund,
vier Jahre.

Es fühlt sich an, als wäre es gestern gewesen. Frühmorgens, noch vor sechs Uhr. Ich habe mich mit meinem Kaffee in der Hand im Schneidersitz auf dieses blaue, sehr hässliche Sofa gesetzt, das seit diesem Tag schon gefühlt 500 Mal raus fliegen sollte, aber immer noch dort steht. Meistens habe ich morgens kurz im Handy herum gescrollt und dann hat mich eine Minute vor sechs Uhr Deine Mum erwischt. „Mondkind, er lebt nicht mehr.“ Das waren ihre Worte.
Und selbst, wenn ich zu dem Zeitpunkt längst das Schlimmste befürchtet hatte – nein, sogar sicher war, dass es so war – glaube ich nicht, dass Du jemals auf so etwas vorbereitet sein kannst.
Man hat mich später gefragt, wie sich das für mich angefühlt hat, dieser Moment. „Als würde alles an meinem Körper unterhalb meines Kopfes zerfallen.“ Besser konnte ich es nicht sagen. Ich habe wortwörtlich den Boden unter den Füßen verloren.

An diesen Moment erinnere ich mich ziemlich gut.
An die Wochen vor Deinem Tod und die Wochen danach nur noch ziemlich schemenhaft.
Irgendwann bin ich dann in der Studienstadt angekommen und ich glaube, die haben sich schon bei dem Satz „Mein Freund hat sich suizidiert“ gedacht, mich mal lieber auf die Geschlossene zu stecken. Und dann haben die mich erstmal zugeknallt mit Tavor und selbst, wenn ich mich an irgendetwas hätte erinnern wollen, war es mit diesem lahmgelegten Hirn nicht mehr möglich.
Mir hat es keine Angst mehr gemacht dort zu sitzen und nicht zu wissen, ob ich so weiter leben kann. Ob es ein „Danach“ geben kann.

Eines der größten Paradoxen war, dass der Mensch, um den ich da getrauert habe derjenige war, den ich am Meisten gebraucht hätte. Wäre irgendwer anders in meinem Umfeld gestorben wärst Du der Erste gewesen, den ich angerufen hätte und ich weiß, Du wärst bis zum nächsten Tag da gewesen und hättest mich bis dahin wahrscheinlich nicht mehr aus der Telefonleitung gelassen.
Ich war von Anfang an alleine damit, dabei hätte ich Jemanden gebraucht, mit dem ich reden kann. Mehr als alles andere. Ich verarbeite Dinge nie mit mir alleine. Ich kann so etwas nicht. „Es war ja nur der Freund“, habe ich vom leitenden Psychologen gehört. „Hör auf, Dich in der psychiatrischen Hängematte auszuruhen“, war der Kommentar vom Oberarzt aus der Klinik, in der ich damals gearbeitet habe.
Und irgendwann wusste ich selbst nicht mehr, was ich glauben sollte. Natürlich habe ich damals schon die AGUS – Gruppe entdeckt, aber ich hätte mich nie getraut die zu kontaktieren, denn es war ja nur der Freund. Nicht schlimm genug, um sich dort melden zu dürfen. Das lief Jahre später über den sozialpsychiatrischen Dienst.

Weißt Du, manchmal fühle ich mich immer noch wie eine Lügnerin. Als Du gestorben bist, da wusste ich gar nicht genau, was ich denn nun sagen sollte. Wir haben eigentlich in all der Zeit nie so richtig über unseren Beziehungsstatus geredet. Ich wusste, dass wir uns einen Tag vor Deinem Geburtstag das erste Mal begegnet sind, aber wir haben das nie zelebriert. Ich war manchmal seltsam überfordert, wenn Du mir gesagt hast, dass Du mich liebst. Weil ich ja auch eigentlich keinen Freund haben durfte. Ich habe das immer so ein bisschen in der Schwebe gelassen – auch, damit es einfacher für mich war.
Irgendwie wurde das plötzlich zum Problem nach Deinem Tod. Ich habe wenige Tage später mit einer lieben Kollegin geredet – eine der wenigen Frauen in dieser Geschichte. „Naja, er war irgendwie DER Mann in Deinem Leben, Ihr habt zusammen geplant, Ihr wolltet zusammen ziehen – nur, weil es nicht dezidiert so festgenagelt war und nur weil Ihr nicht oder nur sehr wenig miteinander geschlafen hat, heißt das nicht, dass es keine Beziehung war. Es gibt tausend Formen von Beziehungen und für mich hört sich das an, als sei das Eine.“
Es gab zwei bis drei hilfreiche Kommentare den ganzen Sommer nach Deinem Tod über und das war einer davon. Seitdem habe ich immer gesagt „mein Freund“. Nicht, weil ich lügen wollte. Sondern, weil ich die Dinge vereinfachen wollte. Weil es sowieso schwer war und die Leute unglaublich respektlos waren und so super intime Fragen gestellt haben, die eigentlich niemanden etwas angingen. Ich war nicht gewohnt über uns zu reden, ich wollte nicht das, was ich so sehr versucht habe zu schützen und zu retten in allen Einzelheiten vor der Welt ausbreiten. Und eigentlich habe ich immer wahrgenommen, dass es den Leuten ohnehin nur darum ging, meinen Schmerz zu relativieren. „Wenn Ihr nicht verheiratet wart, ist es nicht so schlimm.“ „Wenn Ihr keine Kinder hattet, um die Du Dich nun alleine kümmern musst, ist es nicht so schlimm.“ „Wenn Ihr nicht miteinander geschlafen habt, hattet Ihr vielleicht nicht mal eine Beziehung.“
Ich hatte Angst noch weniger ernst genommen zu werden, wenn ich das mit uns anders betiteln würde. Ich glaube, um ganz zu verstehen, was das mit uns war und welche Bedeutung Du in meinem Leben hattest, hätte ich Jedem noch meine Biographie erklären müssen und das konnte und wollte ich nicht. Ich wollte, dass die Tragik Deines Todes für mich erfasst wird. Und außerdem haben wir fünf Jahre unseres Lebens geteilt, Du hast mich geprägt, Du kanntest meine Seele besser als irgendwer davor oder danach und das sollte den Stellenwert bei anderen erreichen, den es für mich hatte.



Ich habe die letzten Tage viel nachgedacht. Was Dein Tod eigentlich alles geändert hat.
Es hat meine Welt geändert und auch meine Sicht auf eben diese. Es hat meinen Umgang mit den Menschen verändert, mich wachsam, vorsichtiger und ängstlicher gemacht und gleichzeitig ein Bewusstsein geschaffen, dass jeder Moment vielleicht für die Ewigkeit reichen muss.
Es hat aber auch die Ideen von davor und therapeutische Zielsetzungen komplett verändert. Bevor Du gestorben bist, ging es viel um mich. Darum, was eigentlich das Aufwachsen in doch etwas zwischenmenschlich schwierigen Verhältnissen bewirkt hat, wie es mich geprägt hat und meinen Umgang mit der Umwelt und den Mitmenschen. Es ging um hinderliche Leitsätze, Perfektionismus, Ängste und viel um die eigene Identität. Es ging darum, wie schlimm es für mich war unter den Umständen zu Hause raus zu müssen, unter den es geschehen ist, es ging darum damit zurecht zu kommen, nahezu keine Bindung mehr zur Familie zu haben und zu realisieren, dass dieses Mäntelchen der „heilen Welt“ nicht nur nach Außen hin präsentiert wurde, sondern auch ich das lange übernommen habe, dabei war an dieser Familie nichts heil. Ehrlichen und aufrichtigen familiären Zusammenhalt habe ich wahrscheinlich nie erlebt. All das kam plötzlich zu einem Stillstand, denn danach ging es nur noch um Dich, um mich und um uns. Oft kam es mir vor, als seien die Jahre davor komplett sinnlos gewesen, weil ich von vorne anfangen konnte, meine Welt zu verstehen und mich irgendwie darin zurecht zu finden.
Ich frag mich so manches mal nicht nur, was aus uns geworden wäre, wenn Du nicht gestorben wärst, sondern auch, was aus mir geworden wäre. Was für ein Mensch wäre ich jetzt?

Ich kann mich erinnern, es muss ungefähr zwei Jahre gewesen sein, nachdem Du gestorben bist, etwas mehr glaube ich, da saß ich irgendwann am Ende der Herbstes, fast schon im Winter, abends bei Deiner Mum. Noch in der alten Wohnung. Sie hat mich angeschaut und hat mir gesagt: „Du bist noch so jung. Du brauchst wieder einen Mann an Deiner Seite.“
Und dann haben wir beide geweint. Weil wir beide wussten, dass sie Recht hatte und trotzdem hat sich das so unendlich falsch angefühlt. Die Zeit läuft jetzt eben gegen Dich. Die Besuche bei Deiner Mum sind immer schwer, aber eben auch sehr wertvoll. Ich denk mir, dass Du sicher okay mit einem neuen Freund wärst, auch wenn ich weiß, dass Du sehr eifersüchtig warst. Aber Du hattest auch ein großes Herz und immerhin bist Du der Sohn von Deiner Mutter und ich will glauben, dass Du die Dinge ähnlich siehst. Auch, wenn ich Dich nicht mehr fragen kann.

Ich war selten wütend auf Dich in diesen vier Jahren, aber manchmal kann ich es so schwer verstehen. Deine Mum zitiert Dich ab und an und irgendwann hast Du ihr gesagt: „Die Mondkind wirkt so zerbrechlich, ich muss gut auf sie aufpassen.“ Nicht, dass ich das immer und für alle Zeiten erwartet hätte, auch wenn ich mich natürlich geehrt fühle, aber was Du gemacht hast, war halt schon irgendwie das Gegenteil davon.
Obwohl ich manchmal schon glaube, dass Du jetzt von woanders auf mich aufpasst.

In der Zeit nachdem Du gestorben bist, war ich „Diejenige, die ihren Freund durch einen Suizid verloren hat.“
Auf der einen Seite war das kein besonders attraktives Attribut mit dem ich mich schmücken wollte, auf der anderen Seite konnte ich niemand anders sein. Dieses Ereignis war permanent in meinem Kopf, es gab bestimmt die ersten beiden Jahre keine paar Stunden am Stück, in denen ich nicht darüber nachgedacht habe. Die subjektive Schuld, die ich mit Deinem Tod auf mich geladen hatte, die Verantwortung, Dich jetzt noch eine Weile imaginär auf meinen Schultern durch die Welt zu tragen, das Fehlen, weil ich mit Dir nicht mehr meine Tage teilen konnte – all das war so überpräsent, so einnehmend, dass es mein ganzes Denken, Handeln und Fühlen bestimmt hat. Es gibt diese Momente immer noch. Den Frühling hindurch, die Zeit, in der ich immer geglaubt habe, wir können noch etwas retten, wir kriegen das hin. Und natürlich um Deinen Geburtstag, um den Todestag herum, immer wenn ich in der Studienstadt und bei Deiner Mum bin, die die Besuche schon regelhaft einfordert.
Aber ich bin nicht mehr „nur“ das. Ich bin auch wieder Jemand anders. Und ich muss lernen zu akzeptieren, dass der Weg zurück ins Leben mich immer weiter weg von unserem letzten gemeinsamen „Wir“ führt. Das tut manchmal immer noch unendlich weh und gleichzeitig weiß ich, dass es für mich der einzige Weg ist, das zu überleben. Du kannst nicht stehen bleiben in einer Welt, die sich weiter dreht.

Vor einem halben Jahr war ich zuletzt in der Studienstadt und irgendwie hat es sich dort friedlicher angefühlt als sonst. Ich glaube, auch wenn es immer noch oft schwer und ziemlich präsent ist, entwickle ich langsam eine Dankbarkeit dafür, Dich gekannt zu haben. Du hast mir gezeigt wie es sich anfühlt, sich bedingungslos auf Menschen verlassen zu können. Du hast mir gezeigt, dass ich eine Bedeutung im Leben anderer haben kann. Du hast mir die Stadt gezeigt, in der ich damals gelebt habe. Du hast mich an die Hand genommen, hast mir die Welt und das Leben gezeigt, nachdem ich von zu Hause raus war und von nichts einen Plan hatte. Manchmal hast Du Dich amüsiert, wenn ich wieder wegen der einfachsten Dinge auf der Leitung stand, aber Du hast es mir nie krumm genommen. Du warst der Mensch, bei dem ich mich nie geschämt habe, ich selbst zu sein.

Und manchmal, in einer stillen Minute, denke ich mir: Du wärst stolz auf mich. Auf Deine Lieblingsärztin. Auf all das, was ich seitdem geschafft habe. Auch, wenn es sicher nicht besonders bahnbrechend für die Meisten wirkt.
Ich hoffe, Du bist glücklich dort wo Du jetzt bist und ich hoffe, Du denkst ab und zu an mich.
Ich hör manchmal in einer stillen Minute noch unsere alten Revolverheld – Songs. Dann fühle ich ganz viel Verbindung und genieße kurz die alten Erinnerungen. Und glaub mir, ich werde noch wenn ich 80 bin und im Schaukelstuhl sitze von Dir erzählen. „Die ersten Male bleiben immer etwas Besonderes“, sagte ein Kollege mal bezogen auf meine erste Fortbildung, im Rahmen der wir nach München gefahren sind. Für die erste Liebe trifft das wohl auch zu.


Ganz viel Liebe Richtung Universum
Mondkind

Irgendwo zwischen der Studienstadt und Hier


Kommentare

  1. deine Worte berühren so sehr. ich lese deinen blog seit über vier jahren und es ist beeindruckend zu sehen, wie du mit den jahren gewachsen bist, wie du versuchst mit deiner last, deinem Schicksal umzugehen und irgendwie weiterzuleben. man merkt wie sehr du kämpfst, aber du bist so Stark, so mutig und du bist eine Kämpferin. das leben ist nicht leicht und ich hatte schon oft angst das das dein letzter Beitrag sein würde. aber du machst weiter und das hilft auch mir ein bisschen, so komisch das klingt. dein leben ist wie ein buch, dass ich seit über vier jahren lese und ich warte immer noch auf dein Happy End, denn das hättest du dir verdient. deine Worte berühren mich immer und immer wieder und ich bin mir sicher, dass der freund stolz auf dich wäre. bleib tapfer, mutig und stark

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  2. Hey,
    Danke für die lieben und sehr schön formulierten Worte.
    Und tatsächlich ist es auch nach all den Jahren immer noch berührend zu hören, dass der Blog nicht nur meiner persönlichen Entlastung dient, sondern auch einen Mehrwert hat.
    Ich weiß, mein Leben ist schon auch noch oft eine Achterbahnfahrt und ich habe die meisten Dinge nicht so gut im Griff, wie ich es gern hätte. Aber ich versuche, in die richtige Richtung zu gehen, um irgendwann doch noch anzukommen. Ich glaube langsam verstehe ich, dass die Welt noch so viel mehr zu bieten hat, als diese ständige Schadensbegrenzung der letzten Jahre. Manchmal bricht da schon ganz viel Licht zwischen den Wolken durch.

    Mondkind

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