Vom Todestag und Erkenntnissen

„Was macht denn der Nadelhalter in Deinem Bett?“, frage ich, als er die Treppen zum Schlafzimmer hochkommt.
„Ich hab geübt gestern Abend“, entgegnet er. „Ich hoffe, Du hast Dich nicht drauf gelegt“, ergänzt er, während er ihn wegräumt.
Was man so findet, im Bett der Chirurgen, denke ich mir.

Am nächsten Morgen wird es noch wilder.
Er ist schon los zur Arbeit und ich mache mich bei ihm noch zurecht, ehe ich selbst los muss. Plötzlich klingelt das Telefon. „Mondkind, bist Du noch bei mir?“, fragt er. „Ja“, entgegne ich. „Schau mal, mich hat gerade die Metzgerei angerufen. Meinst Du, Du schaffst es noch eine Bestellung abzuholen, bevor Du auf die Arbeit fährst?“ Ich seufze. Eigentlich wollte ich in fünf Minuten los, aber die Metzgerei ist um die Ecke. „Ich versuche es.“
Nicht so günstig ist es, dass ich in der Metzgerei den Chef von der Psychosomatik treffe. „Was soll denn das für eine Bestellung sein?“, fragt er Verkäufer, der sie erst nicht findet. „Keine Ahnung, ich nehme an, dass es irgendwelche Herzen sind“, entgegne ich. „Ach die Herzen“, sagt er, geht nochmal kurz weg und kommt dann mit einem Päckchen wieder. Ich spüre den Blick des Chefs auf mir, der wahrscheinlich denkt, dass ich völlig durchgeknallt bin. Nein, es gibt keine Herzen bei uns zum Abendessen, denke ich mir. „Die wollte er schon Dienstag abholen“, murmelt der Verkäufer. Ich verdrehe innerlich die Augen. Seine Organisation ist echt unglaublich, aber irgendwie ist es halt so typisch er und tatsächlich kann ich ihn an manchen Stellen sogar dafür mögen und innerlich schmunzeln.
Die Herzen schmeiße ich beim Kardiochirurgen noch schnell in den Kühlschrank und dann renne ich auf die Arbeit. Bin schon klatschnass geschwitzt, bevor ich überhaupt da bin, aber ich bin pünktlich.

***
Ich habe mir vor vier Jahren oft gewünscht, mit einer Art Glaskugel in die Zukunft schauen zu können. Ich wollte wissen, ob es wieder okay werden kann. In irgendeiner Form. Ich wollte wissen, ob es sich lohnt weiter zu machen, für eine Zukunft zu kämpfen, von der ich nicht wusste, ob es die geben kann. Es war ein ständiges Pendeln zwischen Aktivität und passiven Treiben lassen.

Und deshalb sind solche Tage und Abende etwas Besonderes.
Der Tag gestern ging eigentlich. Dienstag war AGUS – Gruppe und ich denke, es war richtig, dass ich dorthin gegangen bin, weil ich mich schon dort gedanklich gut beschäftigen konnte und nicht alles auf den Mittwoch gefallen ist. Tatsächlich hatte ich sogar gut zu tun und war recht abgelenkt.
Aber hätte mir jemand vor vier Jahren gesagt, dass ich auf den Tag genau vier Jahre später neben einem Menschen einschlafe, den ich liebe, vielleicht hätte ich entspannter sein können. In gewisser Hinsicht ist es immer noch eine Zerreißprobe. Die Frage, ob es überhaupt „so schnell“ wieder gut sein darf. Ich hätte, nachdem ich das Ausmaß ansatzweise begriffen habe, nie mit vier Jahren gerechnet - obwohl andererseits Zeit so wertvoll ist, gerade jetzt wo sich beruflich und in puncto privater Ziele noch viel bewegt.

Ich habe im Moment eine Auseinandersetzung in meiner Gruppe über den Sinn, die Ziele und Grenzen von Psychotherapie. Das ist nicht nur sehr anstrengend, sondern auch sehr wertvoll. Konfrontiert mich auch sehr mit meinem Ich von vor ein paar Jahren.
Es rettet einen Niemand. Das kann auch Keiner. Und das meint nicht, dass nicht irgendwer da sein kann, wenn es schwer ist. Dass man sich mal auf wen anders stützten darf. Dass Sätze wie „Wenn sie gerade nicht an eine Zukunft glauben können, dann tun wir es erstmal für Sie“, wie ich das auch gehört habe, nicht gerechtfertigt sind. Aber letzten Endes ist die Therapie eben kein elterliches Nest, in dem man ewig bleiben kann, auch wenn die Erfahrung einer zeitlich begrenzten Nachbeelterung sicher sehr tragend sein kann.
Aber am Ende sind jegliche therapeutische Beziehung vertikal. Der Patient bestimmt nicht das Ende der Beziehungen. Die sind nicht dafür gedacht, zu bleiben.
Am Ende geht es immer darum, den Weg zurück in ein eigenes Leben zu finden, das irgendwann wieder selbst leben zu können und sicher auch nochmal auf Unterstützung zurück zu greifen – die brauche ich ja auch noch – aber sich im Kern bewusst zu sein: Wir müssen es selbst tun. Irgendwann. Wenn es an der Zeit ist. Und wenn es Jahre dauert, aber wir müssen es tun.  



***

Der Kardiochirurg und ich.
Wir haben einiges klären können. Wir sind entspannter miteinander geworden. Und da ist wieder mehr Nähe entstanden.
Zwar haben wie eigentlich nie genau darüber geredet, wie wir jetzt weiter machen wollen, aber wir machen es aktuell einfach irgendwie, nehmen glaube ich mehr Rücksicht, versuchen mehr auf den anderen zuzugehen und gleichzeitig mehr zu tolerieren und das klappt ganz gut.

Und ich spür aber noch was und ich glaub, das ist wichtig.
Ich hab manchmal das Gefühl, je mehr Nähe entsteht, desto mehr davon brauche ich auch. Was eigentlich ziemlich paradox ist, weil ich schon super dankbar bin für das, was wir im Moment haben – auch wenn es natürlich trotzdem auf die Abende beschränkt ist, weil wir auch die nächsten zwei Wochenenden einfach größtenteils arbeiten. (Okay, das Problem bin diesmal tatsächlich eher ich, weil ich diesen und nächsten Sonntag arbeite und auch noch den Dienst eines Kollegen übernommen habe, dessen Papa gestorben ist). Und man kann dann ja auch einfach mal zufrieden sein mit dem, was gerade trotz knapper Ressourcen möglich ist.
Ich glaube aber, ich verstehe langsam besser, was da entsteht. Vielleicht ist es auch das, wie am Anfang unserer Krise alles angefangen hat; zumindest ein Teil davon. Es war ja auch so, dass in meiner Wahrnehmung das Ende der Urlaube oft so ein Auslöser war, was ich wenig verstehen konnte, weil es doch eigentlich immer recht harmonisch ablief und wir ein Bündel guter Erinnerungen mitgebracht hatten.
Als wir im letzten Urlaub aufgrund unserer Krise so wenig Zeit miteinander verbringen konnten, sagte eine Freundin zu mir: „Mondkind ganz ehrlich – was würdest Du verlieren, wenn Ihr Euch trennen würdet? Ihr verbringt doch eh kaum Zeit zusammen. Vielleicht würden Dir ein paar Stunden in der Woche mit ihm fehlen, aber es wäre nicht der riesige Einschnitt. Rein objektiv betrachtet.“
Natürlich ist Beziehung nicht auf den Zeitfaktor begrenzt, aber paradoxerweise lief es immer besser mit uns, wenn wir mehr Distanz hatten. War jedenfalls meine Wahrnehmung. Und natürlich habe ich da auch viele Überlegungen angestellt, ob wir vielleicht einfach nicht so gut zusammenpassen und es deswegen knallt, wenn wir näher aneinanderrücken.
Ich glaube die letzten Tage ist mir da etwas anderes bewusst geworden. Ich spür manchmal auch viel Angst, wenn wir da so aneinander liegen. Das ist nicht immer friedlich. Ich glaube, das ist schon noch die Angst, dass das so nicht bleiben kann, dass am Ende dieser guten Tage wieder ein Verlust steht und dass der eventuell sogar schwerwiegender sein könnte, als das was es zuvor Gutes gab. Es dauert lange nach einem Bruch in der Beziehung, wirklich nur die guten Momente zu behalten und die Traurigkeit darüber, dass es nicht mehr so sein kann, gut zu integrieren. Und doch sind die Guten eben die Momente, die am Ende mit ein Leben ausmachen. Und ich glaube, meine Form der Angstbewältigung ist der Versuch, ihn noch ein bisschen näher an mich dran zu binden. Denn wenn er gerade da ist, dann muss ich in den Momenten keine Angst haben. Und ich glaube, darüber kann es tatsächlich schnell dekompensieren, weil dann schnell meine Bedürfnisse und sein Gefühl des eingeengt seins aufeinander knallen. Ich glaube, so ist dann auch ein Stück weit diese ganze Wut entstanden.
Denn natürlich kann er nicht immer da sein, mit den Jobs ist es schwierig und wird auch schwierig bleiben. Eigentlich ist diese Situation eben überhaupt nicht zuträglich für die Dynamik in mir. Und das mit der Angst war mir schon bewusst, ich habe das aber eher für ein kognitives Konstrukt gehalten, das ich im Griff habe. Aber wahrscheinlich agiere ich das doch mehr aus, als gedacht.

Aber ich glaube, ich kann mich jetzt auch etwas entspannter zurücklehnen. Und mir sagen: alles gut Mondkind. Nicht innerlich ausrasten. Es hat niemand gesagt, dass er geht. Es kann auch mal einfach okay werden. Und es ist gerade alles gut so, wie es ist. Vielleicht können wir uns einfach etwas treiben lassen und dankbar für die guten Momente sein. Und wir werden genug davon haben.

Mondkind


Bildquelle: Pixabay

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