Zusammenfassung eines Gesprächs
Wir gehen spazieren. Ich bin heute nur im T – shirt unterwegs, aber die Jacke habe ich mitgenommen.
Wir wollten uns eigentlich bei ihr im Büro treffen, haben dann aber aufgrund des Wetters kurzfristig entschieden, ein wenig durch die umliegenden Wiesen zu spazieren.
Es geht hauptsächlich um den Facharzt. Um meinen Umgang damit, dass ich jetzt wohl doch den ganzen Sommer lernen werde, um meinen Umgang mit Prüfungssituationen, um meinen Umgang mit mir.
Sie versucht es mit kognitiver Umstrukturierung.
„Irgendwie habe ich mich jetzt als wir in München für das Konzert waren das erste Mal gefragt, wie das wohl sein wird, wenn ich das nächste Mal hier bin. Und was ich fühlen könnte, wenn ich dann wieder nach Hause fahre und das Ding bestanden habe. Vielleicht ist es ja positives Karma oder so, dass die letzten Erinnerungen an diesen Ort so gut waren.“
„Haben Sie sich denn je vorgestellt wie das sein wird, wenn Sie die Prüfung bestehen?“
„Naja, ich habe mir wesentlich häufiger vorgestellt was ist, wenn ich die nicht bestehe…“
„Aber vielleicht brauchen Sie diese Gedanken ja gar nicht…“
Ich denke eine Weile nach. „Irgendwie habe ich das Gefühl, dass es wirklich mal richtig emotional werden könnte, diese Prüfung zu bestehen.“ Sie schaut mich fragend an. „Ehrlich gesagt haben mich die Prüfungen im Studium zwar immer immens gestresst, weil ich quasi meine Daseinsberechtigung an das Bestehen der Prüfung geknüpft habe. Und natürlich weiß ich, woher das kommt. In der Familie wurde man nur über die Leistung definiert. Ich war so viel wert, wie ich gut in der Schule war. Und in manchen Fächern waren schon eigentlich gute Noten zu schlecht. Und dann kam irgendwann dieses Medizinstudium und ich wurde da schon eher rein gedrängt. Es ist noch gar nicht so lange her, dass ich mal mit meiner Oma gesprochen habe und aus dem Gespräch deutlich wurde, wie sehr man sich endlich Mediziner in dieser Familie wünscht. Seit Generationen. Und da habe ich verstanden, dass ich nur der verlängerte Arm meiner Eltern bin, die das nicht geschafft haben und grundsätzlich einer ganzen Idee von Vorfahren, die ich nicht mal kenne. Ich glaube, ich war emotional schon immer sehr intuitiv unterwegs und habe mich auch immer eine Familie gewünscht. Ich glaube, mein 19 – jähriges Ich hat irgendwie geglaubt, vielleicht könnte es diese Familie retten, wenn ich das tue, was die wollen. Aber nach dem Physikum konnte ich das nicht mehr aushalten so gegen mich zu handeln und so instrumentalisiert zu sein. Zumindest glaube ich das heute, damals konnte ich das nicht so verbalisieren. Und dann musste ich ganz schnell raus zu Hause. Und jede Prüfung hat mich näher an ein Leben gebracht, das ich gar nicht leben wollte. Und irgendwann war man dann fertig mit dem Studium und irgendwie musste ich ja auch mal Geld verdienen. Aber glücklich hat mich das Examen nie gemacht.
Ich konnte mich wenig motivieren die letzten Wochen und Monate fürs Lernen. Aber vielleicht kann das eine Motivation sein. Diese Überlegung, diese Vorstellung, was für ein krasser Befreiungsschlag es sein muss, nach dieser Prüfung heim zu kommen. Zu wissen, dass ich alle Schuldigkeiten getan habe, die ich wahrscheinlich nie hätte tun müssen. Und dann ein Kapitel schließen zu können.“
Das findet sie gut. Diese Motivation. Weil das etwas ist, das wirklich für mich ist.
Wir reden ein bisschen weiter über meine Prüfungsangst.
„Naja, ich habe das ja alles erlebt. Alles zu können und es nicht an den Mann bringen zu können. In der achten bis zehnten Klasse habe ich in allen Fächern, die etwas mit Zahlen zu tun hatten, nur fünfen geschrieben. Das war so ein Teufelskreislauf. Dann kam ich wieder mit einer schlechten Note heim, dann haben meine Eltern wieder gesagt, dass ich ja sowieso nichts kann und nichts anderes zu erwarten gewesen war und dass ich irgendwann unter der Brücke lande, wenn das so weiter geht.“
„Das haben Ihre Eltern Ihnen gesagt?“, fragt sie und bleibt stehen.
„Ja“, entgegne ich.
„Naja was erwarten Sie, was mit einem Gehirn passiert, wenn man da so viel Druck drauf gibt?“
„Obwohl ich mich da natürlich sehr in Frage gestellt habe, war mir schon bewusst, dass das kein mangelndes Wissen ist. Ich konnte es ja. Aber ich kam nicht raus. Und der Lehrer hatte auch kein Verständnis für mich damals, weil ich jedes Mal seine Klassenarbeit dadurch torpediert habe, dass ich hyperventilierend und weinend auf meinem Platz saß und alle anderen auch gestört habe. Ich habe mal irgendwo in meinem Tagebuch notiert, dass es sich anfühlt, als würden von allen Seiten Betonwände auf mich zukommen und mich irgendwann dazwischen zerquetschen. Und meine Mama war Lehrerin… - die hätte doch irgendwie pädagogisch wertvoller handeln können.“
Wie ich das auflösen konnte, will sie wissen. Ich denke an meine Mathelehrerin in der zehnten Klasse, die mir eigentlich meine ganze Zukunft gerettet hat. Natürlich saß ich auch bei ihr genauso verzweifelt in der Klassenarbeit, aber sie hat mir dann einen Tipp gegeben, was ich als nächstes rechnen soll. Und dann hatte ich das Gefühl: Wenn ich gerade gar nichts mehr weiß, dann hackt sie nicht auf mir rum und lässt mich hängen, sondern hilft mir. Und das hat diese Blockade gelöst und die Mauern gesprengt. Danach ging es zunehmend besser und ich habe sogar wieder Einsen in Mathe geschrieben.
Natürlich prägt das alles. Ich bin bis heute in mündlichen Prüfungen sehr viel schlechter als in den Schriftlichen und auch schlechter, als es meinem Wissenstand entspricht, weil ich so Angst habe, dass alles im spannenden Moment meinem Gehirn entfleucht, ich nicht bestehe und es schlimme Konsequenzen gibt. Die es objektiv nicht geben wird. Denn wir haben auch festgestellt, dass ich diese Prüfung nicht brauche für meinen weiteren Lebenswegs. Es ist okay, nach all den Jahren noch die Lorbeeren ernten zu wollen, einen defintiven Strich unter die Sache zu setzen - statt sich dann zu sagen, dass man die Prüfung ja vielleicht irgendwann nochmal machen könnte. Es ist okay, dass ich mir vielleicht auch selbst etwas beweisen möchte. Aber ich werde trotzdem in die Psychosomatik können - egal wie das ausgeht. Vielleicht dann nur etwas später.
Und natürlich hält man die Überzeugungen der Eltern als Kind für uneingeschränkt wahr. Natürlich weiß ich, dass es Bullshit ist, sich so krass über die Leistung zu definieren, aber es ist schwer das für mich selbst anders zu bewerten, wenn ich es mein ganzes Leben anders erfahren habe. Die Oberärztin sagt, dass sie sich vorstellen könnte, dass man mich dann nicht für inkompetent halten würde, denn das würde zumindest in der Psychosomatik niemand tun und in der Neuro sicher auch nicht. Sondern, dass man vielleicht sogar Bedauern äußern würde und mitfühlen würde, wenn ich es nicht schaffen würde. Weil eine Prüfung realistisch gesehen eben auch immer an den Umgebungsbedingungen hängt. Natürlich könne ich das nicht glauben und das sei auch so okay, dann müsse eben erstmal das Vertrauen reichen, dass es so sein könnte.
„Und natürlich wird es sich falsch anfühlen, wenn Sie jetzt in der Vorbereitungsphase auch mal schöne Dinge machen. Weil Sie das nicht kennen und für falsch halten. Aber Sie wissen ja, wie das mit den neun Gewohnheiten ist. Die fühlen sich immer erstmal falsch an. Ich glaube, wir müssen mit der Abteilung ganz oft essen gehen, um Sie da ein bisschen raus zu holen.“
Und still denke ich für mich, dass ich das ja auch mal als sportliche Herausforderung sehen kann. Prüfungsvorbereitung einfach mal anders zu gestalten und zu schauen, ob das nicht auch gehen kann. Das wäre dann Punkt 2 – nach der implementierten Vorstellung, dass ich das Ding bestehen werde. Und das macht echt Motivation merke ich hinterher. Ich möchte sinnvoller mit solchen Situationen umgehen lernen.
Was mir hilft mich zu erden und positive Momente zu schaffen, möchte sie wissen. Da muss ich nicht lange überlegen. „Konzerte und Musik.“ „Dann haben Sie Ihre Aufgabe für den Sommer. So viele Konzerte wie möglich. Diese Euphorie nach den Konzerten können Sie doch so gut in der Vorbereitung nutzen und umsetzen. Man darf sich Motivation schaffen. Ich erlebe Sie glücklich nach diesem Konzert und das ist eine gute Voraussetzung zum Lernen.“
Später kommen wir auf den verstorbenen Freund zu sprechen.
Ich bin dieser Frau so dankbar, dass er bei ihr immer einen Platz haben darf.
Weil eine Freundin kürzlich notfallmäßig in der Psychiatrie war, ist da Vieles wieder hoch gekommen. „Wir hatten das so oft durch“, sage ich leise. „Und ich habe immer gedacht, wir schaffen das. Im Nachhinein ist das so unglaublich naiv und jedes Mal wenn ich darüber nachdenke, dann fühlt es sich an, wie wenn man einen Zug verpasst und dem gerade noch hinterher rennt, aber er fährt schon aus dem Bahnhof. Meistens weiß man das ja nicht, dass man den Zug verpassen wird, während man ihn noch versucht zu erreichen.“
„Tut Ihnen das gut, sich da so für Ihre Freundin rein zu hängen?“
„Naja, es ist halt das, was ich mir in der Situation auch von anderen wünschen, aber nicht unbedingt erwarten würde. Und gleichzeitig will ich nicht nochmal Schuld sein. Wenn man sie jetzt in dieser Situation alleine lässt – das kann auch schief gehen.“
Wir reden nochmal über die Schuld. „Eigentlich geht es gar nicht um Schuld“, sagt sie irgendwann. „Das ist nur einfacher zu ertragen, als diese absolute Hilflosigkeit, die ein Suizid auslöst.“
„Ich weiß, das habe ich auch gelesen“, sage ich und berichte, dass ich ungefähr alles gelesen habe, das es darüber zu lesen gibt.
Und dann reden wir über seine letzten Tage. Den Beschluss, den er hat aufheben lassen und irgendwie ist das ein neuer Aspekt die Aufhebung des Beschlusses damit in Verbindung zu bringen, dass es schon lang geplant sein muss, weil das furchtbar aufwändig ist, so einen Beschluss aufheben zu lassen – gerade wenn es einem so schlecht geht, wie es ihm ging.
„Ich habe mich tausend Mal gefragt, was ich in diesem letzten Telefonat gesagt habe. Was ich entgegnet habe, als er wieder meinte „Ich weiß nicht, ob ich mir etwas antun soll.“ Ich weiß, dass ich mir dachte „Ich kann es nicht mehr“ und ich bin mir sicher, dass ich es nicht so gesagt habe, aber vielleicht habe ich zu schwer geseufzt, vielleicht habe ich ihn zu sehr abgelehnt, vielleicht war es zu schlimm, dass ich nicht in der Stadt bleiben konnte, als er entlassen wurde, weil ich schon auf dem Rückweg war und am nächsten Tag Dienst hatte.“
„Ich glaube nicht, dass es Ihnen heute besser gehen würde, hätten Sie ihn damals nochmal gesehen“, postuliert sie. „und ich glaube, dass es auch überhaupt keine Rolle spielt, was sie in diesem Gespräch gesagt haben. Seine Entscheidung wird gestanden haben.“
Wir sind mittlerweile wieder da, sitzen in ihrem Büro und ich nehme das ganze Setting als seltsam tragend wahr. Meine Stimme zittert, weil es so schwer ist darüber zu sprechen, aber hier fühle ich mich irgendwie beschützt und da ist das okay.
Und irgendwie kommen wir am Ende solcher Gespräche oft darauf zu sprechen, ob das alles so okay ist. Ist es, sagt sie. Für sie schon. Ich bin reflektiert, ich kann so vieles sehen, ich brauche nur manchmal ein bisschen Unterstützung. „Ich mag Sie so gern und es tut mir so leid, was Sie alles schon erleben mussten, dass ich Ihnen da gern ein bisschen helfe. Und mich trotzdem freue, wenn Sie wieder zurück kommen, weil Sie ein ganz angenehmer Mensch sind, mit dem man super zusammen arbeiten kann und die mit ihren ganz feinen Antennen auch genau hier rein passt.“
Es ist doch schon komisch. Dass ich das Gefühl habe, dort den Platz gefunden zu haben an dem ich bleiben möchte und dass die anderen das auch so sehen.
Mondkind

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