58 Monate

Mein lieber Freund,
da ist doch schon wieder ein Monat vorbei.
Ehrlich gesagt hätte ich es heute fast vergessen, Deinen Brief zu schreiben. Nicht, weil ich nicht an Dich gedacht hätte – ich habe erst heute Morgen beim Intensiv – Oberarzt, den ich nach sehr langer Zeit mal wieder besucht habe über Dich gesprochen. Sondern, weil das Leben gerade so „aus der Zeit gefallen“ ist. Ich war gerade – ich wollte jetzt wirklich schreiben „beim Kreuzen“ - aber ich kreuze ja nicht mehr Fragen für das M2, sondern beim Online – Fälle bearbeiten, als mein Blick auf das Datum gefallen ist.

Es war richtig heiß die letzten Tage und ich hatte Dich mehrmals im Ohr, wie Du sagst, dass es viel zu warm ist. Wahrscheinlich hättest Du Dir Sorgen über das Klima, diesen Planeten und damit verbunden auch unsere Zukunft gemacht, wenn es Ende April schon knapp 30 Grad gehabt hätte. Ich glaube, 28 Grad hatten wir am ersten Mai und ich war in meinem Dienst ehrlicherweise auch ein bisschen irritiert, dass so viele Menschen in kurzer Hose herein geschlappt kamen.

Ich habe viel gelernt in diesem Monat. Sehr viel. Für die Psyche habe ich mit den „einfachen“ und wichtigen Themen angefangen. Schlaganfall, Hirntumore und MS sind durch. Das ist irgendwie zu wenig für einen ¾ Monat strukturiertes Lernen. Aber ich habe eben auch gar keine Ahnung, wann diese Prüfung ist. Irgendwann im Sommer? Im Herbst? Oder doch erst nächstes Jahr?
Ich versuche mich nicht mehr verrückt zu machen, sondern einfach dran zu bleiben.

Letzten Monat war ich so gestresst, dass ich nicht bei der AGUS – Gruppe war, obwohl ich es hätte schaffen können. Mal sehen, irgendwie hilft es mir ja schon und ich mag gern wieder hingehen diesen Monat. Es ist eine Balanceakt im Moment. Was kann ich mir noch erlauben? Und was nicht mehr?
Aber der Intensiv – Oberarzt hat heute gesagt, dass ich nach dem Facharzt eine Weile nur noch tun sollte in meiner freien Zeit und am Wochenende, was ich möchte. Ich vermisse die Studienstadt ganz arg; ich bin sehr, sehr traurig sie schon den zweiten Frühling in Folge nicht erleben zu dürfen. Und das kann man in ein paar Monaten ja auch nicht nachholen. Aber im nächsten Frühling dann und ich hoffe, das Leben wir noch lang genug für so einige Frühlinge dort.

Der Intensivoberarzt hat heute übrigens angeregt, dass ich mir nach dem Facharzt sehr genau Gedanken machen soll, wie das weiter geht. Ich habe ihm nämlich gesagt, dass ich das schon ein bisschen schade finde, dass ich jetzt so viel lerne und so viel weiß und es echt manchmal ganz cool ist, wenn man so viele differentialdiagnostische Überlegungen in den Raum schmeißen kann, die sich am Ende bewahrheiten. Ich habe einen MS – Patienten kürzlich auf die Stroke gepackt, weil es mir untypisch für einen Schub erschien, obwohl er jung war – bei eher älteren Patienten ist das ja ohnehin selten ein Schub. Und es war ein Schlaganfall. Bei einer NMOSD – Patientin letztens war es genau dasselbe.
Der Oberarzt meinte dann, dass das ja alles Verhandlungssache ist. Ich könnte ja zur Hälfte in der Psychosomatik und zur Hälfte in der Neuro arbeiten und wenn ich einen Facharzt habe, dann darf ich ja auch Forderungen stellen. Man hat lieber einen halben Facharzt, als gar keinen Facharzt. Und irgendwie denke ich mir: Das wäre ja mega cool: In der Nähe der Notaufnahme bleiben, die Dienste noch zu machen, die ja nicht nur blöd sind. Ich mag die Dienste, nur die Länge macht mich kaputt – insbesondere die Sonntagnächte, wenn Du noch den ganzen Tag danach arbeiten musst. Und mit dem zweiten Facharzt – so meinte er – kann ich mir ja Zeit lassen. Dann habe ich ja erstmal etwas in der Hand und wenn mich das eben so sehr interessiert, dann kann ich ja zusehen, dass ich das auch in meinen Alltag integriert bekomme.

Naja – wahrscheinlich ändern sich meine Ansichten diesbezüglich nur öfter und irgendwie habe ich gerade den Eindruck, Du würdest den Kopf über mich schütteln… 

Dieser Anblick wird hier geradae arg vermisst...


Ich spreche im Moment auch viel mit einer Kollegin, die mich so an mich selbst erinnert, als ich angefangen habe Dienste zu machen. Sie ist vollkommen erschöpft von diesen Diensten – nicht nur von den Diensten an sich, sondern, weil sie sich da auch so verrückt macht und so viel Angst hat. Ich versuche ihr Mut zu machen, dass es irgendwann besser wird, biete ihr an, sich bei mir zu melden und habe ihr sogar schon angeboten, ihr einfach mal einen Wochenend – Dienst abzunehmen, wenn sie mal Ruhe braucht – auch mental. Aber ich hätte das damals auch nicht annehmen können. Und irgendwie mache ich das nicht, weil ich glaube, dass ich das muss, sondern weil sie mich einfach so an mich erinnert und ich einfach ein bisschen der Mensch für sie sein möchte, den ich damals gebraucht hätte. Mir hat damals niemand gesagt, dass das okay ist, so zu fühlen. Eher habe ich immer den Eindruck vermittelt bekommen, an der Stelle auch viel Inkompetenz zu haben.

Ansonsten… - genieß halt den Sommer für mich mit. Ich habe gestern die erste Fahrradtour am Abend nach der Arbeit gemacht; den Fluss ein bisschen hoch und runter. Es war super schön, einfach mal anderthalb Stunden auf dem Rad zu sitzen, sich zu bewegen, frische Luft um die Nase zu haben. Wird aber eher eine Seltenheit bleiben. Dafür werde ich diesen Sommer mal wieder zur Hobygärtnerin. Ich habe einige Tomaten, zwei Baby – Gurken, eine Kumquat, ein paar Kräuter und ein Rankgitter mit ein paar blühenden Pflanzen. Ich mag es total gern und ein bisschen gärtnern kann man auch in einer Lernpause…

So – ich mache noch ein paar Fälle.
Ganz viel Liebe in Richtung Universum
Mondkind


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