Ein paar Gedanken

Freitagabend. 
Ich weiß gar nicht genau, wie spät es ist. Gerade sind 100 % Fokus nötig. Ich habe den Neuroradiologen in der Leitung, um eine Thrombektomie zu besprechen. „Vielleicht können wir es in Sedierung versuchen – ich habe schon Angst, dass wir einen 87 – jährigen Herrn danach vielleicht nicht extubieren können und er dann zum nächsten traurigen Fall auf unserer Intensivstation wird“, sage ich gerade, als sich die Tür der Notaufnahme öffnet und mir einer der Oberärzte einen Brief aus einem Krankenhaus hunderte Kilometer weit weg bringt über einen Patienten, den ich gerade parallel im Schockraum versuche aus dem Status zu holen und den das andere Haus netterweise her gefaxt hat. Levetiracetam hat nichts gebracht, Lacosamid läuft, aber ich sehe das sehr kritisch. Mit einem halben Auge lese ich, dass er wohl schon häufiger im Status war und auch schon öfter intubiert. „Wir können das versuchen“, höre ich den Neuroradiologen wieder, „aber Sie müssen die Angehörigen halt trotzdem demtentsprechend aufklären.“ „Mache ich, ich rufe Sie wieder an“, entgegne ich und während ich die Nummer der Angehörigen wähle, sprinte ich durchs Haus auf die Kardiochirurgie, weil da auch noch ein Patient mit einer neuen Hemiparese liegt, nachdem er aus seiner OP wieder aufgewacht ist. 
Innerhalb von drei Stunden gibt es 12 Patienten abzuarbeiten, einen davon intubieren wir im Status, zwei thrombektomieren wir, ein paar Patienten schmeißen wir einfach erstmal auf die Station und werden uns später darum kümmern, zwei gehen in die Neurochirurgie und der ein oder andere auch nach Hause. 
Ich habe der Oberärztin im Hintergrund zwischendurch alles herunter gerattert, was ich gemacht habe und plane zu tun und gerade, als ich zwischendurch wieder in die ZNA gefegt komme, um eine Telefonnummer zu suchen, steht sie vor mir. Ich habe sie nicht gebeten zu kommen, aber sie hat wohl bemerkt, dass ich Stress habe. Der Spätdienst wird dann auch noch auf der Station in das Geschehen aktiviert und dann arbeiten wir alles ab. 
Und so chaotisch wie sich das auch anhört, sind das die Nächte, die ich am meisten liebe. Insbesondere, wenn am Ende doch alles rund wird und wir ein paar Patienten helfen konnten. (Auch wenn der Nutzen von Thrombektomien mit 87 Jahren durchaus kritisch zu hinterfragen ist... - I know).

Nachdem es auch in der Nacht nicht wirklich ruhig war, fallen mir bei der Übergabe fast die Augen zu. 
„Mondkind, ich habe gehört Du möchtest in die Psychosomatik“, sagt die Oberärztin, die an dem Tag Hintergrund hat zu mir. „Woher weißt Du das?“, frage ich. Und dann berichtet sie, dass sie mit einer Oberärztin aus der Psychosomatik befreundet ist und es sei wohl durchgesickert, dass das mehrere Gespräche gelaufen sind, aber irgendwie niemand weiß, was gerade mit mir los ist. 
Ehrlich gesagt finde ich das schon beeindruckend, wie viel man in diesem Thema über mich spricht und wie wenig mit mir. Langsam ist es halt echt nicht mehr lustig – mich sprechen pro Woche mindestens drei Menschen an, was denn nun ist und ich denke mir, dass ich nicht jedem meine Lebensgeschichte erzählen kann und will und wo ich gerade fest hänge, deshalb wird es meist ein unspezifisches „ich muss noch ein paar Sachen klären“, was möglicherweise langsam wenig authentisch rüber kommt. Und ich merke schon, dass da ein Interesse besteht, mich zurück zu holen - ich kann auch dankbar dafür sein, aber aktuell machen solche Konversationen nur Stress. Das ging zwei Wochen nach dem Facharzt so los und hört seitdem einfach nicht auf.

Meine Lieblingsoberärztin aus der Psychosomatik hat mir letztens geschrieben „Falls Sie unzufrieden sind…“ [mit der aktuellen Jobsituation] und ich dachte mir: Was zur Hölle macht denn dieses „falls“ da an der Stelle? 

Ich glaube, ich habe mich viele Jahre lang von den Umständen hin und her geschubst gefühlt. Ich habe so Vieles nicht gesehen, geschweige denn irgendetwas verstanden und die Dinge wirklich zu sehen, macht es nicht einfacher. 


Viel zu schön, um nicht noch ein paar Urlaubsbilder zu teilen... 

Ich war 19, als ich angefangen habe Medizin zu studieren. Und dieser Sommer davor, war einer der schlimmsten überhaupt. Mit dem Abi sollte mir die Welt offen stehen, aber ich habe mich eher gefühlt, als würde ich mich begraben. Ich wollte das alles nicht. Ich wusste, dass ich damit nicht glücklich werde, aber durchsetzen konnte ich mich auch nicht. „Dann eben später irgendwann mal“, habe ich mir gedacht und habe Trost darin gefunden, dass man mit diesem Medizinstudium auch noch irgendwie auf die Psychologieschiene kommt. Mit vielen Jahren Umweg eben. 
Ich saß in der ersten Anatomievorlesung und wusste: Das ist es einfach nicht. Ich war gut in diesem Fach, man musste ja nur alles auswendig lernen, aber ich mochte es nicht besonders. In Physio war ich ganz gut – Neurophysiologie hat mir gefallen und das war zum Glück ein Schwerpunkt bei uns. Vorklinische Psychologie war mein Lieblingsfach und ich habe mich irgendwie gefreut, dass es zumindest ein Fach in diesem ganzen Studium gibt, das ich irgendwie mag. 

Beinahe jedes Praktikum in diesem Studium war einigermaßen desillusionierend. Medizin ist sicher in vielerlei Hinsicht faszinierend, aber ich habe es nie besonders gern gemacht. Aber wie kann man sagen, dass man Medizin nicht mag? Wo das doch so ein angesehener Beruf ist, wo so viele Menschen auf Studienplätze waren, wo es doch das erklärte Ziel der Eltern war, aus den Kindern Ärzte zu machen? 
In der Studienstadt konnte ich kein Krankenhaus finden, an dem ich es mir irgendwie vorstellen konnte zu bleiben und auch der Ort hier war eher eine Notlösung. Hier konnte ich mir zumindest vorstellen, irgendwie in diesem Job zu überleben – um Spaß an der Sache ging es da nie. 

2019 war ich fertig mit diesem Studium. Stand das erste Mal in dieser Notaufnahme. Angewurzelt wie ein Baum, weil ich keine Ahnung hatte, was ich da überhaupt machen sollte. „Du musst Dich schon um die Patienten kümmern“, hat der Oberarzt zu mir gesagt, aber mein Innerstes hat einfach nur Angst und Ohnmacht verspürt. „Vielleicht wäre es besser, Du würdest in die Anatomie zurück gehen“, hat mir mein damaliger Oberarzt ans Herz gelegt und er meinte das sicher nich böse, aber in dem Moment hat es sich doch eher wie Versagen angefühlt.
Manchmal weiß ich selbst nicht, wie ich das noch hinbekommen habe, aber wahrscheinlich war das eine der größten Leistungen meines Lebens, über so viele Ängste und Schatten zu springen und manchmal bin ich darauf auch sogar ein bisschen stolz.

13 Jahre nachdem ich in diese Medizinerbubble geschmissen wurde kann ich wenn es sein muss, alles was die Neurologie zu bieten hat, gleichzeitig jonglieren. Zwei Schockräume parallel betreuen, die richtigen Entscheidungen treffen. Heute renne ich los, wenn wir einen Notfall haben und bleibe nicht mehr wie angewurzelt stehen. Heute weiß ich was zu tun ist, oder habe zumindest erstmal eine Idee. Heute habe ich ein Bauchgefühl zu den Patienten, das immer sicherer wird. Heute bin ich Fachärztin, heute weiß jeder, dass ich eine der verlässlichsten Mitarbeiterinnen im Team bin. Die einspringt, wenn kein anderer mehr kann, die länger bleibt wenn es sein muss, ohne sich komplett zu überfordern - und das darf man trotzdem hassen. Auf die man sich verlassen kann, mit der die Oberärzte gerne Dienst machen. Heute bin ich Teil der Neuro – Familie, ich bin an und mit ihr gewachsen, ich kenne Kollegen, die die Jüngeren nicht mehr kennen. Heute werde ich bisweilen nach meiner Meinung zu bestimmten Themen gefragt, heute heißt es „kannst Du mal kurz gucken kommen?“
Heute lebe ich in einer Welt, in der meine Schwester auch Ärztin ist, in der ihr Freund im Rettungsdienst arbeitet und in dem mein Freund in der Kardiochirurgie arbeitet. Ich hänge bis zu letzten Faser in einem System drin, von dem ich mich so schwer getan habe, darin anzukommen. 

Wenn man mich heute fragen würde, ob ich lieber Psychosomatik oder lieber Neuro machen möchte, dann kann ich fast sehen, wie eine jüngere Version von mir aufspringt, den Finger hebt, auf und ab hüpft und „Psychosomatik natürlich“ ruft. 
Und dann sehe ich die etwas ältere Mondkind daneben, die Facharzt – Mondkind, die einmal tief seufzt und nicht genau weiß, was sie sagen soll. Die Medizin hat sich nicht nebenbei gemacht. „Neurologin“ ist ein großer Teil meiner Identität. Wer bin ich eigentlich, wenn ich keine Neurologie mehr mache? Wer bin ich, wenn ich nicht mehr die Nächte durch die Flure fege, diese Klinik neurologich durch die Nächte navigiere? Diese Dienste sind eine Hass – Liebe, je wilder, desto besser. Wo gehöre ich hin, wenn ich nicht mehr Teil dieser Neuro – Familie sein kann, die so viel ersetzt hat, als das eigene Umfeld nicht halten konnte? Wie wird das sein, wieder von etwas so ganz weg zu gehen, nur noch als Gast wiederzukommen? In ein Fach zu gehen, das unglaublich stigmatisiert ist und selbst wenn ich davon überzeugt bin, dass es sinnstiftend ist, gibt es so viele Leute in meinem unmittelbaren Umfeld, die dazu eine andere Meinung haben und manchmal lässt sich das schwer aushalten. Psychosomatik ist ein Fach, zu dem jeder irgendeine Meinung hat und meistens ist es irgendwie keine Gute. 

Und gleichzeitig sehe ich diese jüngere Version von mir. Die sich da gar nicht so die Platte macht. Die nicht über Identität nachdenkt, nicht darüber, ob sie in den Augen der anderen an Wert verliert, wenn sie sich für einen anderen Weg als den entscheidet, der für sie gewollt war. 

Ich habe das nichts bedacht. Damals, als ich 19 war. Ich bin wegen der Neuro hierher gekommen, ich müsste hier gar nicht mehr bleiben, wenn ich nicht mehr in der Neuro bin. Damals war der Plan, dass der Freund seine Ex – in – Ausbildung macht und dann quasi wartet, bis ich komme. Und es wieder Sinn macht, dass wir abends Klaus Grawe lesend auf dem Sofa sitzen. 
Damals war nicht der Plan, dass der Freund bis dahin tot ist, dieser Tod ein Dreiviertel meines sozialen Umfeldes ausgetauscht hat und ich heute mit einem Kardiochirurgen zusammen bin, der von Psychologie gar nichts versteht und den ich manche Wochen mehr auf der Arbeit, als irgendwo anders sehe. 

Ich befürchte, dass all diese sozialen Gründe, die für mich aktuell so wichtig sind, keine echten Gründe sind. Denn ehrlich gesagt, kann es sein, dass der Freund und ich in zwei Monaten nicht mehr zusammen sind. Kollegen kommen und gehen immer. Und die Arbeit ist ja streng genommen auch nicht fürs Socialising gedacht. 
Und wenn man ehrlich ist, dann sehe ich mich halt einfach nicht in der Neurologie. Weder in irgendeiner Praxis, noch als Oberärztin. Wahrscheinlich könnte ich das machen. Aber ich hätte mutmaßlich auch mein ganzes Leben das Gefühl, in der falschen Branche hängen geblieben zu sein. Ein paar Jahre Psychosomatik – Oberärztin zu sein und dann irgendwann mal eine eigene Praxis zu haben, könnte ich mir nämlich gut vorstellen. 

Und ehrlich gesagt frage ich mich, wie eine Lösung finde, die sich gut anfühlt. Oder ich muss akzeptieren, dass es sich eventuell auch erstmal nicht gut anfühlt. Dass es auch schwierig sein kann, wieder in einen Weg rein zu wachsen, von dem man sich so sicher war, den zu wollen und der jetzt - nach all den Jahren - eben eher eine Nebenstraße geworden ist. Aber eben nie vergessen wurde. Und ich war nie in meinem Leben so glücklich mit dem was ich tue, wie in der Psychosomatik. Ich habe mich nach all den Jahren mal wieder ein bisschen, wie ich selbst gefühlt. Es für sinnvoll erachtet, was ich da tue. Ich glaube, es gibt für mich kaum etwas Schöneres, ein kleiner Impulsgeber sein zu dürfen, wenn Menschen beschließen ihr Leben zum Besseren ändern zu wollen. Es ist ein krasses Privileg dabei sein zu dürfen, das auch noch einen „Job“ nennen zu dürfen, für den man auch noch bezahlt wird. Und auch wenn man das Ergebnis häufig gar nicht mehr so richtig mitbekommt und es sicher nicht in allen Fällen gut endet, darf man vielleicht doch vertrauen, manche Dinge auch zu bewegen. 

 Mondkind 

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