Der Druck aus dem Gestern
Was für ein Tag… - ich bin jetzt so froh mit einem Tee am Schreibtisch
zu sitzen und an alle Tätigkeiten für heute einen Haken machen zu können.
Schon die Fahrt zum Krankenhaus ist mit dem Fahrrad – seitdem es
geschneit hat – kein Vergnügen mehr. Man muss nämlich höllisch aufpassen nicht
auf dem in der Nacht wieder gefrorenen Schneematsch wegzurutschen. Einen
Schwenk über die Unfallchirurgie möchte ich jetzt eigentlich nicht machen –
obwohl da im Moment nette PJler arbeiten… ;)
Da ich in den letzten Tagen nicht viel im OP stand und heute auch die
9 – stündige Whipple – OP wegen mehrerer Termine im Tagesverlauf absagen
musste, sollte ich heute mal in den zweiten von unseren drei OP – Sälen gehen. Mit
den Unterleibsschmerzen des Todes (wirklich nicht gelogen), ist das keine gute
Idee. Ich weiß auch nicht, warum ich manche Monate fast gar nichts merke und es
in anderen eigentlich nur noch mit Wärmflasche im Bett aushalte.
Immer mal wieder wurde mein Atem etwas schwer, ich habe unfassbar
gefroren und hatte das Gefühl gleich umzukippen. In dem Zustand war dann mal
drei Stunden Haken halten angesagt – danach stand zum Glück das Gespräch mit
dem Personaltypen aus dem Krankenhaus im Dorf an – ansonsten wäre ich gar nicht
da raus gekommen. Als ich beim vorbei gehen in den Spiegel gesehen habe, sah
ich auch weiß wie die Wand aus.
Da meine Ablösung aber zu spät kam und ich noch auf der Station vorbei
wollte, um wenigstens ein Schmerzmittel einzuschmeißen, habe ich es nicht mehr
geschafft, die Stelle aufzusuchen, die ich eigentlich zum Telefonieren nutzen
wollte. Also saß ich irgendwo halb auf dem Flur, auf dem sich auch noch zwei
Bauarbeiter gestritten haben. Zum Glück kam der Anruf mit sechs Minuten Verspätung,
sodass die Streithähne bis dahin weg waren. „Also das soll jetzt hier kein
Bewerbungsgespräch werden“, leitete der Mensch am anderen Ende der Leitung ein.
„Für den Chef und den leitenden Oberarzt ist das ja ohnehin schon klar und die
hätten auch nicht so über Sie gesprochen, wenn die Sie nicht unbedingt haben
wollten. Es geht also im Prinzip nur darum, dass wir ein Mal den zeitlichen
Ablauf klären und ich Ihnen den Tarifvertrag erkläre.
Wir haben uns geeinigt, dass er die Verträge jetzt fertig macht und
auf den ersten Oktober datiert – je nachdem wann meine Prüfung ist, könnte man
den Startzeitpunkt aber auch vorziehen – dann soll ich mich nur bei ihm oder
dem leitenden Oberarzt melden. Das klingt doch mal nach einer guten Lösung.
Damit ist der erste Oktober der späteste Startzeitpunkt und ich kann, aber muss
die Klinik nicht einbauen.
Auf der Station sind wir heute überhaupt nicht fertig geworden. Es
mussten unfassbar viele Verbände neu gemacht werden, sodass ich mich dann halb
vier einfach abseilen musste und es noch geschafft habe auf die Minute
pünktlich in der Ambulanz zu erscheinen.
„Ich halte es fest – Sie waren pünktlich, ich war zu spät“, erklärte
die Therapeutin, als sie mich mit sieben Minuten Verspätung aus dem
Wartebereich abholte.
Der Termin war gut, aber die Verzweiflung konnte er auch nicht
auflösen. Wir haben eine Menge über das PJ auf der Chirurgie gesprochen, über
die Bewerbung, über das Dorf in der Ferne und über meine Beziehung zum Oberdoc.
Das Problem ist aktuell, dass ich überhaupt nicht zur Ruhe komme. Ich
bin dauergestresst, jede Kleinigkeit wirft mich aus der Bahn und manchmal laufe
ich mit Tränen in den Augen über die Station, weil ich einfach nicht mehr kann.
Das Examen hängt mir wie eine Krake im Rücken. Nur daran hängt es
jetzt noch, ob ich zurück gehen werde, oder nicht.
Die Erinnerung an all die Momente in der Ferne stresst mich einfach
nur noch - es macht mir nur noch Druck und Angst. Ich bin einen Schritt – einen einzigen nur von einer Zukunft
entfernt, von der der Neuro – Oberdoc prophezeit, dass sie besser werden soll.
Und ich bin auch die Einzige, die mir das noch verbauen kann.
Aber selbst wenn es klappt: Bis zum Ende des Sommers wird es nicht
geklärt sein, ob ich alleine da runter gehe, oder ob der Rest meiner Familie
mitzieht. Und mir dieses winzige Stück zu Hause, das ich mir dort erschaffen
hatte, wieder weg nimmt.
Ich habe so lange so sehr für eine Zukunft gekämpft und ich bin auch
immer noch dabei und ich weiß trotzdem nicht, ob es die geben wird, wenn ich
alles bewältigt habe.
Und gleichzeitig habe ich auch Angst davor. Während ich zu Beginn
meiner Zeit dort noch dachte, dass das Thema Familie längst abgeschlossen ist,
ist mir in dem Dorf immer mehr klar geworden, dass es das nicht ist. Ich hatte
dort ein Stück Familie, ein Stück zu Hause. Und dadurch, dass diese Löcher
temporär gestopft werden konnten, konnte ich manchmal innerlich zur Ruhe
kommen. Allerdings hatte das manchmal den Preis, dass sie nur Momente später,
noch viel tiefer wieder aufrissen und mich das unglaublich hat verzweifeln
lassen. Aber ohne diese temporäre Ruhe hätte es viele Erfahrungen dort nicht
gegeben – auch für mich selbst. In mir selbst ruhend im Park zu sitzen ging
nur, wenn die in mir sonst vorherrschende Sehnsucht mal ein bisschen gestillt
wurde.
Werde ich das auf Dauer mit diesem emotionalen Chaos, dieser Zerrissenheit zwischen Geborgenheit und Verlust und der Trauer um etwas, das ich nie hatte, aushalten?
Werde ich das auf Dauer mit diesem emotionalen Chaos, dieser Zerrissenheit zwischen Geborgenheit und Verlust und der Trauer um etwas, das ich nie hatte, aushalten?
Und wer würde nicht wahnsinnig werden, wenn er nicht wüsste, ob es das
alles noch mal geben wird – insbesondere, wenn man so lange dafür gekämpft hat…
Eigentlich wollte ich mich am Wochenende mit einer Freundin treffen.
Aber auch solche eigentlich schönen Dinge machen mir aktuell so viel Druck,
dass es eigentlich nicht möglich ist, ohne dass ich vollkommen durchdrehe. Es
ist mir schon wichtig, aber ich kann es einfach nicht. Es wird nur gehen, wenn
ich bis morgen Abend fertig bin mit dem kompletten Haushalt und mich Samstag
ganz früh an den Schreibtisch setzen kann, um vorzuarbeiten.
Da ich aber schon auserkoren wurde, morgen den OP zu schmeißen, wird
das wohl eher nichts.
Im Moment wirkt der Tag morgen nicht unbedingt machbar, weil ich
eigentlich nur noch weine. Und es macht mir wahnsinnig Angst morgen wenn es
blöd kommt, mehr als 12 Stunden mit dem OP belastet zu werden. Aber was will
man machen?
Soll das jetzt wirklich noch bis Sommer dauern, bis dieser Wahnsinn
hier mal aufhört…? Das halte ich nicht aus.
Mondkind
P.S. Ich muss mal wieder Fotos machen… - aber man ist ja nur noch im
Dunklen draußen…
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