Emotionale Löcher
Und wenn ich geh, dann geht nur ein Teil von mir
Und gehst du, bleibt deine Wärme hier
(Peter Maffay – So bist Du)
„Mondkind, Du hast das Studium die letzten sechs Jahre als Skill
genutzt.“
„Naja, wenigstens war es ein produktiver Skill…Wenn ich ein was
wirklich kann, dann ist es, im spannenden Moment zu funktionieren.“
Wenn ich bedenke, dass ich genau heute vor einem Monat noch beim
Seelsorger saß. Ich erinnere mich an sein Bild von den Beiden Achsen, die im 90
Grad – Winkel aufeinander stehen. Die eine Achse als „Belastungsachse“, die
andere als „Unterstützungsachse“. Dummerweise sind jetzt beide Personen weg,
die die „Unterstützungsachse“ getragen haben.
Dafür ist die Therapeutin wieder da – das läuft aber eben nicht
bedarfsgesteuert…
Es wäre Zeit, dass zwischen den anstrengenden Tagen in der Chirurgie
am Wochenende mal ein bisschen Ruhe einkehrt. Nur, dass ich die Ruhe im Moment
nicht aushalte.
Wahrscheinlich hat mich das wovor ich am meisten Angst hatte, über die
letzten Wochen gerettet, seitdem ich das Dorf in der Ferne verlassen habe – die
Geschäftigkeit. Erst Umzug, dann Weihnachten, danach musste ich mich hier
wieder etwas einrichten, habe Freunde besucht und dann war ich schon wieder
unterwegs ins Elternhaus.
Am Wochenende ist es trotz der Bücher neben mir auf dem Schreibtisch
über mich herein gebrochen. Da gibt es auch nicht mehr viel zu sagen: Ich
vermisse diesen Ort, die Menschen, das Lebensgefühl, die Sicherheit.
Ich wusste immer, was ich an diesem Ort in der Ferne habe. Ich habe versucht
so viel davon aufzusaugen, wie es geht. Die schlechten Zeiten nicht zu lang
werden zu lassen und eher die vielen Sommertage im Park im Gedächtnis zu
behalten. Die vielen Dinge, die ich über mich gelernt habe, die Wärme von den
Menschen, die ich gespürt habe.
Aber manchmal merkt man noch viel mehr, was man da eigentlich hatte,
wenn es nicht mehr da ist. Ich hatte schon ein bisschen vergessen, wie es war,
nicht mehr sicher zu sein. Sich jeden Tag von Tag zu Tag zu hangeln. Allein mit
überlaufenden Fässern dazustehen und es trotzdem irgendwie zu machen, weil man
eine andere Wahl ja ohnehin nicht hat.
Bis Mittwoch ist es immer noch weit – und was ich der Therapeutin
erzähle, muss ich mir gut überlegen, weil ich direkt danach noch zum Psychiater
muss, den ich nicht kenne. Und ich kann denen nicht völlig verschieden Dinge erzählen. Das wird mal wieder ein Spagat, ehrlich zu sein und
die Situation dabei nicht zu brenzlig werden zu lassen.
Aber ich kann mit diesen emotionalen Löchern in mir einfach nicht
leben. Und selbst das Lebenskonzept in diesem Ort in der Ferne steht auf
wackeligen Füßen – die Zeit diese Löcher aufzureißen oder zu stopfen ist meiner
Auffassung nach mit dem Ende der Kindheit vorbei. Für mich ist es ein kleines
Wunder, dass ich dort streckenweise so gut leben konnte.
„Ich finde es ja wirklich wunderschön, aber ich weiß gar nicht, warum
Sie das mit mir alles machen. Das muss doch furchtbar anstrengend sein“, habe
ich dem Neuro – Oberdoc mal gesagt. „Mondkind – hinterfrage es einfach nicht
mehr. Du hast es Dir mit Deiner Geschichte und Deiner Art verdient. Wir mögen
Dich einfach. Punkt.“ Nachdem man eigentlich das ganze Leben erfahren hat, dass
man so wie man ist, nicht richtig ist, ist das so schön, dass ich das manchmal
gar nicht glauben kann, dass das tatsächlich jemand ernst meint… - ernst
gemeint hat.
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Was mich momentan hält ist, dass der Neuro – Oberdoc gesagt hat, dass
er nicht hören möchte, dass ich im Januar irgendwelche unüberlegten Aktionen
angestellt habe. Er wäre einfach super enttäuscht.
Dennoch weiß ich, dass es – selbst wenn ich zurück kehre - nie wieder
genauso wird, wie es war. Die Zeit für die ich so lange gelebt habe, ist
vorbei. Das ist einfach so. Als Assistenzärztin werden sich viele Dinge ändern.
Und vermutlich werde ich auch nicht alleine dort sein, sondern der
Rest meiner Familie wird mitziehen. Jedenfalls basteln gerade die Chefs zwei
verschiedener Kliniken daran, wie sie meiner Schwester dort die
Facharztausbildung ermöglichen können. Es sei denn meine Schwester sieht irgendwann
mal ein, dass es aktuell keine gute Idee ist, wenn wir an einem Ort sind und
aufeinander treffen – es eskaliert immer.
Es ist auch traurig… - zwischen meiner Schwester und mir. Da es ja
auch meinen Eltern nur um Noten ging, war da immer eine Geschwisterrivalität,
die uns wahrscheinlich mehr geprägt hat, als ich das gehofft hatte. Vielleicht
hört es irgendwann auf, wenn jeder von uns seinen eigenen Weg gefunden hat. „Ich
bin mir sicher, dass es besser wird – Du musst der Sache nur Zeit geben“, sagte
mal jemand. Allerdings fügte er nicht hinzu, wie viel Zeit es braucht.
Solange wie meine Schwester das zwar nie zugeben würde, aber
wahrscheinlich ziemlich neidisch um das ist, das ich in den letzten Jahren auf
die Beine gestellt habe, wird es nichts. Obwohl es ja nach außen hin besser aussieht,
als es eigentlich ist – weshalb man mir ja nicht selten das Recht abspricht,
immer noch psychiatrische Betreuung zu brauchen.
Eigentlich wollte ich noch etwas über die Erfahrungen aus der
Chirurgie am Freitag schreiben. Aber mit dem Start der Woche wird es schon
genug Stories geben – im Moment ist das emotionale Chaos größer. Die Angst vor
dem Januar war schon berechtigt – auch wenn jeder das für etwas übertrieben gehalten
hat.
Wobei ich viele Dinge aus der Chirurgie glaube ich auch gar nicht
schreiben kann. Das ist so unglaublich, dass ich es selbst nicht für möglich
gehalten hätte, wenn ich es nicht selbst mitbekommen hätte.
Am Wochenende habe ich auch heraus gefunden, dass sich Westlife wieder
vereinigt hat. Vielleicht finde ich noch einen alten Tagebucheintrag von 2012
über das letzte Konzert der Band im Croke Park in Dublin, bevor sie sich
aufgelöst haben. Eigentlich ist die Reunion schon seit Oktober bekannt. Zwar
höre ich die Lieder im noch regelmäßig auf meinem mp3 – Player (ein bisschen
old – school, ich weiß… ), aber ich schaue nicht ständig auf die Homepage.
Jedenfalls gibt es dann dieses Jahr neue Musik und eine neue Tour – ich glaube
allerdings kaum, dass ich jemanden finde, der mit mir nach Dublin dafür fliegt.
Wenn ich mal einen Kopf dafür und Zeit habe, bastle ich mal einen Post
darüber, wie die Band mich bis 2012 über die schwierigen Zeiten getragen hat.
Musik war neben dem Schreiben mein Ventil – immer schon. Ich habe mir gestern
mal die Pressekonferenz dazu angehört. Bester Satz von Kian: „After everyone
was on its own path, we realized that it is better to be back in the Westlife –
bubble…“
Erstmal mache ich jetzt mit meinem Fallbuch weiter, schiebe nebenbei
ein bisschen Panik wegen des Examens, warte darauf, dass meine Mitbewohnerin
heute irgendwann wieder kommt und versuche, den Sonntag ohne Katastrophen über
die Bühne zu bringen. Wünscht mir, dass die Zeit bis Mittwoch nicht mehr so
lang wird…
Mondkind
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