Zwischen Geburtstag und Erschöpfung

11. Mai. 2024
Irgendwann morgens.
Die Sonne schaut schon durch die Schlitze der Jalousien herein.
Ich erkläre mich innerlich bereit, zumindest mal ein Auge auf zu machen.
Seine Augen sind noch geschlossen. Er atmet ganz ruhig. Neben mir.
Verrückt.
Fast vier Jahre danach.
Vor vier Jahren um diese Zeit gab es ein kurzes Telefonat in die Psychiatrie. Zwei Monate danach stand die Welt schon seit knapp zwei Wochen. Noch für viele Wochen und Monate danach. Und dass ich das hier nochmal erleben könnte, habe ich lange nicht für möglich gehalten. Den Geburtstag mit dem Freund zu starten. Direkt neben mir.
 
Selbstverständlich war das indes mal wieder nicht.
Rufdienst des Kardiochirurgen.
Da kann immer alles und nichts passieren.
Freitagabend gab es noch vier Notfälle.
Irgendwann gegen Mitternacht bin ich erstmal auf mein Sofa umgezogen. Habe ihm geschrieben, dass er sich bitte melden und mich wecken soll, ich stehe dann wieder auf uns komme zu ihm, wenn irgendwann Ruhe in die Nacht kommt. Aber es ist wichtig, den nächsten Morgen gemeinsam zu starten.
Irgendwann halb 2 in der Nacht hat er geschrieben, dass er sich gleich meldet und etwa 20 Minuten später klingelte mein Telefon. „Mondkind, ich stehe vor Deiner Tür. Lässt Du mich rein? Ich wollte nicht, dass Du Dich mitten in der Nacht ins Auto setzt und durch die Stadt fährst, deshalb bin ich zu Dir gekommen.“
Fünf Minuten später ist das Licht gelöscht und wir liegen gemeinsam in meinem Bett. Was nicht für zwei Menschen ausgelegt ist. (Merke an mich selbst: Es braucht ein größeres Bett). Ich brauche etwa eine halbe Stunde, bis ich meine Gliedmaßen so um mich herum sortiert habe, dass ich irgendwie schlafen kann. Er berichtet, dass er irgendwann mal nachts aufgewacht ist, weil er auf dem Holzrahmen gelegen hat und das unbequem geworden ist. Aber insgesamt schlafen wir bis 11 Uhr am nächsten Morgen.
 
Mit dem Frühstück wird es schon fast wieder etwas stressig. Um 12 Uhr muss er zu Hause sein, da kommt der Vermieter vorbei. Ich bin froh, dass ich für den Notfall immer irgendwelche Aufbackbrötchen im Schrank habe, denn zum Bäcker fahren schaffen wir nicht mehr. Ganz so entspannt ist das Frühstück generell nicht und um viertel vor 12 fährt er rüber zu sich.
 
In den nächsten Stunden räume ich die Wohnung zu Ende auf, mache ein bisschen Neuro und werde langsam schon ein bisschen ungeduldig, bis er sich dann gegen 16 Uhr mal meldet. Wir wollen noch ein bisschen ins Umland fahren und spazieren gehen. Es ist schon bald 20 Uhr, bis wir zurück kommen, aus dem restlichen Pizzateig der letzten Tage noch ein Pizza zaubern und dann ins Bett gehen.
 
***
Es war ein guter Tag. Auch, wenn ich ihn dafür gefühlt 50.000 Mal ermahnen musste.
Es scheint aber alle Kapazitäten gefressen zu haben.
Wir haben uns nicht gesehen seitdem.
Zu lange auf der Arbeit. Im Dienstfrei zu erschöpft. Irgendetwas ist immer. Wir werden keinen einzigen der ganzen vielen Feiertage zusammen verbracht haben. Wir werden kein Wochenende bis zum nächsten Urlaub miteinander verbringen – und schon einige Zeit ja auch nicht mehr verbracht haben.
Sonntag und Dienstag habe ich nur einen Satz von ihm als whatsApp bekommen. Warum sollte man eigentlich auch Guten Morgen oder gute Nacht sagen? Warum sollte man vermelden, ob man nach seinem Nachtdienst, in dem offenbar einiges los war, jetzt arbeiten muss, oder nicht? Warum sollte man überhaupt innerhalb von 24 Stunden mal antworten?
 
Es geht gar nicht so viel um die Frage, ob er das kann.
Offensichtlich kann er das. Er ist ja auch schließlich immer gut beschäftigt, hat wenig Zeit zum Vermissen, liegt bestimmt nicht allein deshalb die halbe Nacht wach, weil er nicht weiß, wo ich bin und was ich gerade mache. Das melde ich schon zuverlässig; er im Umkehrschluss halt leider nicht.
Es geht um die Frage, ob ich das kann. Es ist ja nicht absehbar, dass sich das irgendwann mal ändert. Es ist keine „Durststrecke“, die man jetzt irgendwie noch überstehen muss. Es ist der Alltag und der besteht eben weiterhin zu großen Teilen aus Unverbindlichkeit, Vermissen, Warten, mal schnell eine halbe Stunde rein gequetscht werden.
 
Ich weiß nicht, ob ich mir das für den Rest meines Lebens vorstellen kann. Zumindest bis zur Rente, aber das ist ziemlich sinnlos, sich das so zu überlegen. 

Neue Blüten auf dem Wintergarten

 
***
Wie Ihr merken könnt, ist es gerade etwas stiller hier.
Das hat den Grund, dass ich mit meinen Kapazitäten wirklich am Ende bin. Und dann denke, ich müsste vielleicht über markante Dinge – wie den Geburtstag – mal schreiben. Aber es fällt mir schwer mich aufzuraffen und die Worte zu finden.
Ich habe jetzt meiner alten Therapeutin in der Studienstadt geschrieben. Auch diese Mail hat lange gedauert, ich habe das schon vor Wochen überlegt. Aber weil ich sie ja auch erstmal aufs Pferd heben muss und das ein bisschen Geschreibselarbeit ist, habe ich immer keine Kraft mehr gefunden, wirklich strukturierte und sachliche Texte zu schreiben. Gestern habe ich es gemacht. Mitgeschrieben, dass mir schon klar ist und dass ich gelernt haben sollte, dass ein Leben mit Dauerbaustellen an vielen Enden nicht ewig funktioniert, ehe ich darüber wieder depressiv einbreche und ich vermute, dass das gerade passiert. (Und wie froh war ich heute, als ich mit einer Kollegin nach Hause gelaufen bin, die mir erklärt hat, dass sie sich vorstellen kann, dass ich sehr gestresst bin allein mit Facharztvorbereitung und Stellenwechsel jetzt und das ist ja nur die Hälfte – maximal). Jedenfalls habe ich die Therapeutin gefragt, ob wir mal wieder telefonieren könnten – wann ich das nächste Mal in die Studienstadt komme, ist ja nicht absehbar. Ich war schon mal richtig froh, dass nach dem Absenden keine Mail vom Abwesenheitsassistenten zurück kam, habe aber doch damit gerechnet, dass sie ein paar Tage braucht zum Lesen und Antworten. Jetzt hat sie mir aber heute am Nachmittag direkt einen Termin für den nächsten Dienstagnachmittag vorgeschlagen. Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie dankbar ich dafür bin. Einziges Manko – ich habe Dienst nächsten Dienstag. Jetzt klingelt ja das Diensttelefon sehr selten vor der regulären Dienstzeit in der Psychosomatik, aber theoretisch kann auch da jederzeit der Alarm losgehen. Ich denke, ich werde ihr das so sagen, sie fragen, ob sie eventuell noch einen anderen Termin in der Woche hat und wenn nicht, das geringe Risiko einfach in Kauf nehmen. Und mich noch fünf Mal bei ihr bedanken. Ich habe es gar nicht so dramatisch formuliert. Aber sie hat es wohl schnell verstanden.

Mondkind
 


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