55 Monate

Mein lieber Freund,
wie geht es Dir?
 
Gestern habe ich die Nase ein bisschen in den Frühling gesteckt. Zwar war es ziemlich kalt, aber die Sonne hat geschienen und viele Menschen waren unterwegs. Irgendwie hat es dem Gemüt ziemlich gut getan, obwohl ansonsten alles ziemlich schwierig und anstrengend ist.
 
Deine Lieblingsärztin versucht, für den Facharzt zugelassen zu werden.
Aber das ist gar nicht so einfach. Das erste Zeugnis, das ich bekommen habe, kannst Du „zerreißen“, um es mit den Worten einer meiner Oberärzte zu wiederholen.
Ich weiß nicht, wie lange dieser Weg zu einem richtigen Zeugnis noch wird, wie lange es noch dauert bis zur Prüfung und wie viele Ressourcen das noch fressen wird. Aber langsam formieren wir eine kleine „Facharzttruppe“ und das ist etwas Schönes.
Ich habe sogar wieder ein bisschen Motivation zum Lernen gefunden, wenn ich nicht gerade dauermüde bin und lese sogar Fachzeitschriften, was ich nie getan habe.
 
Weiß Du, was ich Dir mal erzählen wollte?
Ich denk immer noch viel übers Sterben nach. Also, über mein eigenes.
Nicht mehr so wie früher, ich weiß nicht, wie real dieser Weg, den Du gegangen bist für mich werden könnte nachdem ich erlebt habe, wie schlimm das für alle ist, die dann bleiben. Nicht, dass das Viele wären, aber um den Ein oder Anderen würde ich mich sorgen.
Manchmal wünsche ich mir einfach so sehr, morgen nicht mehr aufzuwachen.
Oder, dass ich vielleicht irgendwie noch drei Monate hätte. Und wüsste, dass es dann ein Ende hätte. Dann könnte ich all die wichtigen Menschen nochmal besuchen, aber ich müsste mich mit so vielen anderen Dingen nicht mehr herum ärgern.
 
Und natürlich bin ich heute reflektiert und weiß, dass das einfach nur grenzenlose Überforderung ist. Zwei Großbaustellen über mehr als ein Jahr, ist schon mehr als grenzwertig.
Ich habe es noch niemandem gesagt, weil ich nicht weiß, ob wir dann doch wieder stundenlang reden werden und versuchen alles zu kitten, aber ich habe dem Kardiochirurgen gesagt, dass wir uns trennen sollen. Er hat dann gesagt, wir reden erstmal drüber, aber natürlich gab es keine Zeit dazu, weil Dienst und so weiter. Ehrlich gesagt war er aber noch nie so schnell am Handy wie gestern. Ich weiß nicht, wie sich das gerade für mich anfühlt. Auf der einen Seite bin ich unglaublich traurig, dass es jetzt nach allem eben doch so endet, auf der anderen Seite war das Wochenende mal wieder das Paradebeispiel für seine Unfähigkeit hinsichtlich Absprachen und das wird sich halt auch nie ändern. Ich werde immer zurück stecken müssen und dafür bin ich nicht bereit. 



 

Ich bin sehr dankbar für den Intensiv – Oberarzt. Und dieses Vertrauen, dass er mich ein Stück begleitet. Ich war am Samstag erst da – also vor der Kompletteskalation. Am liebsten hätte ich ihm gestern schon wieder geschrieben und habe aber dann gespürt, dass es nur darum geht, dass er neben mir sitzt und mir hilft meine Emotionen zu regulieren und das geht natürlich nicht gut. Und dann habe ich es gelassen. Die Sachlage hat sich ja nicht großartig geändert. Er wäre wahrscheinlich nicht mal überrascht über diese Wendung der Dinge.
Manchmal wünschte ich aber, ich hätte ihn nach Deinem Tod an meiner Seite gehabt. Keine Ahnung, wie wir beide das geschafft hätten – mit der potentiellen Bezugsperson ging es ja gar nicht – aber er findet irgendwie oft die richtige Mischung aus Verständnis und sanften Treten in die richtige Richtung, sodass ich es annehmen kann.
 
Gestern, als die Sonne am Nachmittag geschienen hat, habe ich versucht mich daran zu erinnern, dass es in all dem das schwierig ist, ja auch gute Dinge gibt. Ich habe immer noch meine eigene Wohnung und das ist immer noch ein Privileg. Ich kann aus- und eingehen wie ich will und die Menschen hinein lassen, die ich möchte. Ich habe einen Job, ich verdiene mein Geld. Ich arbeite in einem tollen Team – daran hat es in der Neuro nicht gelegen. Klar, ich könnte jetzt nicht behaupten, dass das mit den Unterschriften auf dem Zeugnis gut läuft und der Chef lässt mich da ziemlich ins Messer laufen, aber ich mag meine Assistenzarzt – Kollegen und ich komme gut mit den meisten Oberärzten zurecht.
Und ich versuche zu vertrauen, dass die Zeiten wieder besser werden.
 
Ich denk viel an Dich. Ich hoffe, ich schaffe es dieses Jahr, Dich zu besuchen. Wahrscheinlich wird das erst nach dem Facharzt etwas und vielleicht erst dann, wenn die Blätter schon wieder von den Bäumen segeln. Ich habe die letzten Wochen oft daran gedacht, dass es mir leid tut, dass ich letztes Jahr nicht da war. Du sollst wissen, dass du weiterhin ein fester Bestandteil meines Alltags bist.
 
Halt die Ohren steif.
Ganz viel Liebe

Mondkind

Bildquelle: Pixabay

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