Vom Start in ein Wochenende
Freitag.
Der Tag auf der Station ist ziemlich langweilig. Kopfschmerzen, Schwindelabklärung und Rückenschmerzen im Kreis. Der einzige Patient, bei dem man wirklich mal nicht genau wusste was er hat war beim Kollegen, hatte am Morgen keinen Bock mehr auf weitere Diagnostik und hat sich gegen ärztlichen Rat entlassen lassen.
Heute Abend ist das Sommerfest (naja, im September, aber passend dazu hat das Wetter nochmal aufgedreht – da haben alle Glück gehabt). Ich hatte eigentlich gedacht, dass ich den Abend mit dem Freund verbringe, aber das war bevor er mir gesagt hatte, dass er die Woche für eine Fortbildung in Berlin ist und wahrscheinlich recht spät zurück kommt. Allerdings wahrscheinlich wiederrum auch nicht so spät, als dass es sich nicht mehr lohnen würde, sich zu sehen. Eine Oberärztin hat am Morgen schon gesagt, dass sie noch ein Eintrittsbändchen übrig hat – ich hatte mich nämlich aufgrund der Pläne mit dem Freund auch gar nicht angemeldet. Allerdings scheue ich mich noch ein bisschen sie zu fragen, ob ich es bekommen kann. Die Veranstaltung ist bis zwei Uhr in der Nacht angesetzt, aber ich muss noch einkaufen und kann ohnehin bis maximal 22 Uhr bleiben, weil ich am Samstag Dienst habe. Am Nachmittag kommen wir aber nochmal auf unsere Abendpläne zu sprechen. „Ich wäre wirklich gerne hingegangen, aber dann kam ein privater Termin mit der Familie dazwischen“, erklärt sie. Ich berichte, dass ich keine Ahnung habe, wann mein Freund aus Berlin kommt, aber vielleicht zwei Stunden gehen könnte, wenn ich ein Eintrittsbändchen hätte. „Ich habe es noch und es ist fast 16 Uhr. Ich glaube, das braucht niemand anders. Du kannst es bekommen“, sagt sie und ich nehme es ihr dankend ab. Später reden wir noch ein bisschen weiter über Privates und irgendwann sagt sie, dass doch – wenn es mit der privaten Situation passen würde – jetzt der geeignete Zeitpunkt für Kinder wäre. „Die ideale biologische Situation und die ideale soziale Situation klaffen immer weiter auseinander, aber ich denke, Du wärst soweit“, sagt sie. Ich finde den Kommentar jetzt nicht mal unangebracht – mit 32 Jahren darf man darüber reden. Es macht mir aber auch wieder deutlich, dass meine ehemals aufgestellten Pläne eben gerade nicht funktionieren. Vor dem Facharzt hätte ich keine Kinder gewollt – die meisten sagen, dass eine Facharztvorbereitung mit Kleinkind doch nochmal ein anderes Kaliber ist und das glaube ich gern. Aber jetzt wäre Zeit für solche Dinge. Nur leider nicht die Gelegenheit.
Ich wollte eigentlich eine andere Kollegin auf dem Sommerfest treffen, aber die ruft mich an und erklärt, dass sie spontan auf einem Geburtstag eingeladen ist und deshalb nicht kann. „Hat Dein Freund ein Bändchen?“, fragt sie. „Ich weiß es nicht, aber ich denke nicht“, entgegne ich. Ich hatte mir schon überlegt, dass ich dann halt so lange bleibe, bis er kommt, damit wir noch etwas Zeit am Abend haben, nachdem wir uns die ganze Woche nicht gesehen haben. „Dann lege ich meins ins Fach und Du kannst es abholen, vielleicht könnt Ihr beide zusammen gehen, dort zumindest etwas essen und ein bisschen was trinken“, schlägt sie vor. „Danke Dir“, entgegne ich und füge hinzu, dass ich irgendwie ganz gerührt bin, dass man so an mich und uns denkt. Und wie cool wäre das auf einer Veranstaltung mal zusammen mit dem Freund gesehen zu werden. Mal zu zeigen: Hey, wir gehören zusammen.
Auf dem Heimweg unterbreite ich die Pläne dem Freund, der nicht ganz so begeistert ist, wie ich. Außerdem ist viel Stau auf den Straßen und er hat schon ewig aus Berlin raus gebraucht.
Ich gehe schnell einkaufen, stelle mich unter die Dusche, mache mich kurz zurecht und trabe zur Location, die in einer Burg ganz in der Nähe ist.
Da das alles so spontan war, habe ich mich gar nicht mit irgendwelchen anderen Kollegen abgesprochen, ob die auch hingehen. Ich laufe erstmal eine Weile in der Gegend herum und halte die Augen offen, ehe mich zwei Kolleginnen aus der Psychosomatik aufgabeln, die mich dann auch mit zu den anderen Kollegen nehmen. Zwischenzeitlich kommt einer meiner Neuro – Oberärzte vorbei und berichtet, dass er bisher auch kaum Neurologen gesehen hat und scheinbar nicht viele da sind, weshalb ich beschließe dort zu bleiben, wo ich bin.
Es gibt leckere Snacks und für mich nur ein kleines bisschen Alkohol, obwohl es offiziell „Weinfest“ heißt. Da mir aber nach dem ersten Aperol schon dezent schwindelig ist, beschließe ich, dass es wahrscheinlich reicht für heute. Keine Ahnung, was die da rein gemacht haben. Aber ich trinke ja nie viel, wahrscheinlich merke ich es dann auch sofort.
Der Freund meldet sich irgendwann später, dass er jetzt zwar da ist, aber nicht mehr kommt. Schade eigentlich, aber erwartbar war es schon auch irgendwie. Eine Kollegin schlägt vor, dass wir uns doch nächste Woche nochmal mit jeweiligen Partnern zum Essen treffen können.
Wie ich mir vorgenommen hatte verabschiede ich mich um 22 Uhr und gehe zurück nach Hause. Der Freund kommt heute rüber zu mir; wir haben vereinbart, dass er bei mir schläft. Als es klingelt, hüpfe ich durch den Flur, öffne die Tür und will ihm mehr oder weniger in die Arme springen, was er erstmal abwehrt. Okay, vielleicht war ich zu enthusiastisch – ein paar Minuten später starte ich einen zweiten Versuch einer Begrüßungs – Umarmung, aber auch hier nimmt er meine Arme energisch von seinem Körper. „Wieso hast Du schlechte Laune? Was ist passiert?“, frage ich. „Keine Ahnung. Ich habe eben schlecht Laune.“ Ja… - okay.
Wir gehen dann ziemlich still ins Bett und auch am nächsten Morgen wechseln wir nur wenige Worte, ehe er ein wenig vor mir auf die Arbeit düsen muss.
Während ich unter der Dusche stehe, überlege ich mir, dass es mir wahrscheinlich besser gegangen wäre, wir hätten uns gestern Abend nicht mehr gesehen. Ich hatte Spaß auf dem Fest, kam wirklich glücklich nach Hause und dann hat mich seine schlechte Laune irgendwie auch angesteckt. Und es hat mich nachdenklich gemacht, dass er sich offensichtlich gar nicht so auf mich gefreut hat. Wir konnten auch nicht absprechen, wer heute Abend zu wem fährt und meine Frage, ob er Lust hat sich nächste Woche mit zwei anderen Kollegen zu treffen, hat er auch nicht beantwortet.
Keine Ahnung, ich weiß einfach nicht, wie wir demnächst zwei Wochen Urlaub miteinander verbringen sollen, wenn er ihn denn bekommt. Und zum ersten Mal komme ich wirklich auf den Gedanken, dass es doch vielleicht besser ist, seine Abende zu Hause alleine zu genießen. Auf niemanden warten müssen, alleine entscheiden zu können, wann Zeit zum Artikel lesen, Roman lesen, Keyboard spielen und essen kochen ist, wann das Licht gelöscht wird. Und nicht irgendwie sich um halb acht am Abend Gedanken machen zu müssen, was man jetzt noch essbares aus dem Hut zaubern kann, das nicht zu lange dauert. Oder durch die halbe Stadt fahren zu müssen und bis kurz vor 22 Uhr sicher nicht zurück sein.
Keine Ahnung. Ich habe doch jetzt so viele Freiheiten in meinem Leben, aber diese Beziehung macht so unfrei.
Die Arbeit am Samstag beginnt direkt mit ein paar Patienten, ehe es dann zwischendurch doch nochmal etwas ruhiger wird. Am Nachmittag wird es dann nochmal ziemlich wild und neben der Tatsache, dass sich die Patienten in der Notaufnahme stapeln gibt es einen jungen Mann, der mit seiner Schlaganfalldiagnose komplett überfordert ist. Ich wundere mich sowieso ab und an, wie gelassen Menschen ihre Schlaganfalldiagnose nehmen – ich glaube, ich würde richtig panisch werden, wenn ich realisieren würde, dass gerade ein Teil meines Gehirns stirbt. Wurde er dann auch. Ich war stundenlang immer wieder mit Krisenintervention beschäftigt und habe nebenbei verzweifelt versucht, den anderen Patienten auch noch gerecht zu werden. Bis zur Übergabe um 22 Uhr habe ich dann zwar alle versorgt und an ihre Zielorte verfrachtet – der Patient mit dem Schlaganfall hat ein Einzelzimmer bekommen und die Ehefrau durfte ausnahmsweise mit dort übernachten – dokumentiert habe ich allerdings noch nichts. Das ist glaube ich das erste Mal seitdem ich zurück in der Neuro bin, dass mein Zeitmanagement so eine Katastrophe ist – im Regelfall versuche ich immer schnell die Anamnese und Untersuchungsbefunde mitzuschreiben, aber heute war es nicht machbar. Um ein Uhr in der Nacht fallen mir fast die Augen zu und ich beschließe, den Rest am nächsten Tag nachzuholen.
Da ich noch den Schlüssel vom Freund habe, den er mir kürzlich mal aus organisatorischen Gründen gegeben hat und den sogar mitgenommen habe, beschließe ich – nachdem er am Abend gesagt hatte, dass es ihm egal ist was ich mache – bei ihm rein zu schleichen. Ich betrete im Dunklen die Wohnung, schleppe mein ganzes Zeug einfach ins Bad und stelle es dort ab, putze meine Zähne und ziehe mich um und schleiche zu ihm hoch ins Bett. Interessanterweise bekommt er davon tatsächlich gar nichts mit. Keine Ahnung, wann er realisiert hat, dass ich neben ihm liege. Ich wache jedenfalls um kurz nach sechs wieder auf, als er auf der Bettkante sitzt und seine Brille sucht, die ich am Abend vorher zum Glück noch auf dem Bettlaken ertastet habe, bevor ich mich dort lang gemacht habe und sie auf meinen Nachtschrank gelegt habe. Ich werde nie verstehen, wieso der Kerl seine Brille immer im Bett liegen lässt und warum die bisher nicht 20 Mal kaputt gegangen ist.
Ich fahre ein paar Stunden später auch nochmal auf die Arbeit, nehme einen Kaffee beim Bäcker mit, weil der des Freundes ausgegangen ist und dokumentiere den Rest zu Ende und – wenn ich schon mal da bin – schaue, wie ein meinen Patienten von gestern geht. Bei den meisten ist es zum Glück besser geworden – nur bei dem Patienten mit der Gangataxie weiß man immer noch nicht, warum er die hat und besser geworden ist es auch nicht.
Am Nachmittag wollte ich eigentlich vor dem Regen nochmal raus in die Natur fahren, aber dafür bin ich dann leider zu spät. Auch das letzte Sommerwochenende ist mal wieder ein Opfer der Arbeit geworden. Also hoffe ich mal, dass ich bald im Urlaub nochmal in die Sonne komme.
Mondkind

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