Von Therapietelefonat und Stationsarbeit

 Es ist weiterhin viel.
Und ich weiß, dass mich das früher viel mehr an meine Grenzen gebracht hätte. 
Manchmal frage ich mich  aber, ob ich die mittlerweile einfach nur nicht mehr spüre.
Weil es ohnehin wenig Wahl gibt. 

Dienstag. 
Ich habe Frau Therapeutin in der Leitung. Den Termin hatten wir schon in der Woche davor gemacht und eigentlich war er für etwas ganz anderes gedacht. 
Ich rede über die neuesten familiären Entwicklungen. Auf allen Seiten. Auf der einen Seite muss ich mich kümmern. Menschlich und fachlich. Ich bin halt Neurologin, da muss ich zumindest in der eigenen Familie ein Auge auf die Dinge haben. Und auf der anderen Seite gibt es diese Anschuldigungen. 
„Das kam ziemlich unerwartet“, höre ich mich sagen. 
Es geht um das Warum.
„Ich weiß auch nicht, warum man nach all den Jahren diese Dinge wieder hoch holt. Es gab kaum Kontakt in den letzten Jahren, ich kann rein objektiv kaum etwas falsch gemacht haben“, sage ich. Und reflektiere. „Ich bin aber heute soweit, dass ich mir überlegen kann, ob ich mir den Schuh anziehe, oder nicht. Ich kann heute sehen, dass primäre Bezugspersonen nicht immer Recht haben. Denn manchmal sehe ich Dinge einfach anders.“
Und manchmal geht es auch einfach um objektive Tatsachen. „Wie kann der Teil der Familie, der einfach gegangen ist, denn Anspruch darauf erheben, wirklich da gewesen zu sein?“
Frau Therapeutin ermahnt, dass es um das Dahinter geht. Um Ablösung, um Autonomie. „Sie haben sich unglaublich entwickelt, seitdem sie von ihrer Familie weg sind. Und ihre Familie hat sich auch entwickelt. Nur wahrscheinlich in völlig verschiedene Richtungen. Und einfach aus dem Kontakt zu gehen nachdem man schon angefangen hat, sagt wahrscheinlich mehr über die anderen aus, als über Sie.“
Und am Ende ist das Resümee: Ich darf es traurig finden. Ich darf mir eine Familie wünschen, die wirklich da ist. Ich darf mir Bezugspersonen wünschen, die nicht in vertikalen Beziehungen stecken. Ich kann mir überlegen, ob es mir das wert ist, das alles wieder hoch zu holen, obwohl ich wahrscheinlich in den Augen der anderen immer schuldig bleiben werde. Ich gewinne gerade nichts. Aber ich verliere auch nichts wirklich. Denn verloren habe die alle schon vor so langer Zeit.
Und das ist es jetzt auch erstmal wieder an Statement.


Mittwoch
Ich habe einen stockdepressiven Opi in einem meiner Zimmer liegen. Am Anfang war er mir nicht besonders sympathisch, weil da häufiger mal aggressive Durchbrüche vorkommen und mir das etwas unangenehm ist und Angst macht. Eigentlich war er da zur Demenzabklärung. 
Und dann habe ich mir mal wieder Zeit genommen. Mir einen Stuhl ran gezogen und mich hingesetzt. Zugehört. Seine Sicht der Dinge angehört. Beziehung aufgebaut, Verständnis signalisiert. Er wollte unbedingt nach Hause und wollte, dass ich ihm verspreche, dass er Donnerstag gehen darf. Wir konnten uns einigen: Wenn das Langzeit – EKG okay ist, darf er gehen. Wenn nicht, dann lässt er sich zumindest auf eine Abklärung ein. Ob er sich dann behandeln lässt, ist noch ein anderer Schritt. 
Wir machen einen Mini mental Test an diesem Nachmittag. Und dieser Mensch, der schon halb als dement abgestempelt ist, ist gar nicht dement. Er weiß sogar das Datum, obwohl viel Rentner das einfach wirklich nicht wissen. Eine Aufgabe formuliere ich etwas um. Die Patienten sollen einen Satz aufschreiben, der normalerweise vorgegeben  ist. „Jetzt dürfen Sie mal einen vollständigen Satz aufschreiben“, sage ich ihm und lasse das offen. Ich will wissen, was er macht. „Ich bin sehr traurig“, schreibt er. Ich muss kurz inne halten. 
Solche Menschen sind schwer. Aus einer Generation, in der es psychische Erkrankungen nicht gab. In der Durchhalten das Credo war. In der man eben einfach mal einen schlechten Tag hatte. Bisher wollte er partout keine psychiatrische Vorstellung. 
Heute war das EKG auffällig. Natürlich gab es Diskussion. „Was war die Abmachung gestern?“, frage ich. „Dass ich bleibe, wenn es auffällig ist, bis es abgeklärt ist“, erwidert er. „Machen Sie das auch?“, frage ich. Er könnte sich immer noch gegen ärztlichen Rat entlassen lassen. Er nickt. 
Am Nachmittag kommt eine Angehörige und ist da, als ich gerade nochmal ins Zimmer gefegt kommt. Sie instrumentalisiert mich ein bisschen für ihre Zwecke, spaltet ein bisschen, aber ich hoffe, dass ich ihn morgen noch bei mir habe. Ich würde ihm so gern ein kleines bisschen helfen können. Denn eigentlich ist er sehr lieb. Aber selbst depressiv und komplett überfordert mit einer pflegebedürftigen Frau.
Ich möchte der Teil sein, der ihn zumindest mal hört. 

Am Abend ist Fortbildung. Von Kardiologen und Neurologen. Wir sind lange dort. Der Kardiochirurg hat Rufdienst und wir verabreden, dass er nach der Arbeit bei mir schläft, wenn er Donnerstag auf Fortbildung geht. 
Am Abend kommt er nicht. 

Donnerstag
Am Abend gab es keine OPs mehr in der Kardiochirurgie. Das weiß ich sehr sicher
Und trotzdem wird der Kardiochirurg auf Fortbildung fahren. 
Da hat sich wieder jemand nicht an den Plan gehalten. 

Am Wochenende will ich zu meiner Oma fahren. Nachdem ich vor zwei Wochen ein Hotel gebucht habe, wurde das heute storniert und ich musste neben der Arbeit allerhand organisieren, damit das noch klappt. 

Und heute kläre ich auch endlich mal, dass morgen Früh die Heizungsmonteure kommen und sich um meine ausgefallene Heizung kümmern. Ich gehe dann wohl etwas später zur Arbeit und hoffe, dass ich trotzdem gut durch den Tag komme.

Ich denke nochmal an Dienstag.
An das Gespräch mit der Therapeutin.
„Naja, ich bemerke schon eine gewisse Affektverflachung. Negative Emotionen spüre ich ziemlich gut – die positiven aber nicht so sehr. Das fühlt sich dann irgendwie recht neutral an.“
„Ich muss Ihnen nicht sagen, dass das ein Warnsignal ist“, meinte sie. 
Natürlich nicht. Wir sind erstmal bei Intensivierung von Abgrenzung und Selbstfürsorge geblieben. Und sie meinte, sie weiß auch, dass das nicht einfach ist, wenn es an allen Ecken seit Monaten kracht und eher mehr dazu kommt, als umgekehrt. „In all den großen Lebensbereichen“, meinte sie. „Familie, Partner und Job sind gerade große Herausforderungen.“
Ich würde sagen, ich gebe mir Mühe. Und wir sehen uns in zwei Wochen sowieso nochmal. Dafür bin ich dankbar. 

Mondkind

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Drittes Staatsexamen - ein Erfahrungsbericht

Ein kleines Review des PJs und Prüfungskomission fürs m3

Über Absprachen