In die Klinik katapultiert



An jenem Freitag führte mich mein Weg wie jeden Morgen in die Uni. Am Tag vorher hatte mir ein Dozent noch eröffnet, dass ich am nächsten Tag würde einen Vortrag halten müssen und deshalb hatte ich die halbe Nacht damit verbracht, einen Vortrag über Pertussis zusammen zu zimmern.
Den Kopf frei dafür hatte ich nicht. Ich war einfach nur noch müde. Gelernt hatte ich die ganze Woche über nicht und es war unmöglich das Thema bis zum nächsten Tag halbwegs zu beherrschen, weshalb ich mir mit Karteikarten aushalf, auch wenn das eigentlich verboten war.
Der Vortrag war nur halb fertig geworden, den Rest wollte ich am nächsten Tag in der Uni zwischen den Vorlesungen fertig machen.
Ein ganz normaler Freitag. Zwei Stunden Pädiatrie und zwei Stunden Geriatrie und danach waren die ersten vier Stunden meines 10 – Stunden – Uni – Tags vorbei.
Zwischendurch hatte ich noch irgendwie einen Termin in der Ambulanz beim Psychiater eingeschoben. Ich wusste noch nicht, was ich der Ärztin heute erzählen sollte. Dass ich nicht mehr kann, weiß sie, dass jede Faser meines Körpers sich dagegen wehrt das Semester jetzt zu schmeißen auch und dass ich am liebsten sterben würde konnte ich nicht sagen, ohne mich auf eine Einweisung auf die Geschlossene (äh… sorry Geschütze heißt es ja offiziell, ohne dass das jemand hier je so sagen würde…) gefasst zu machen.

„Mondkind, ich muss Sie eben vorziehen“, wurde ich in der Ambulanz begrüßt und in das Büro der Ärztin geleitet
„Wir haben ein Bett für sie frei, aber das ist nur bis 12 Uhr geblockt. Sie müssen sich JETZT entscheiden.“ Mein Blick wanderte auf die Uhr. 3 Minuten vor 12.
Jeder Muskel in meinem Körper spannte sich augenblicklich an. Es gab nur eine vernünftige Antwort. Ich würde das Semester in dem Zustand ohnehin nicht schaffen und wenn wir es ambulant nicht hinbekommen, aber ich die Hilfe einer Klinik auch nicht annehmen kann – was soll ich dann noch auf dieser Welt?
„Mondkind, ich brauche eine Entscheidung“, wiederholte die Ärztin und hatte schon den Telefonhörer in der Hand. „Ja“, erwiderte ich kaum hörbar und schon wählte sie die Nummer des Oberarztes, bevor ich überhaupt richtig begriff, was da gerade passierte.

„Also fahre ich jetzt nach Hause, packe meine Sachen und fahre dann in die Klinik?“, fragte ich. „Nein, der Oberarzt möchte Sie heute noch sehen, Sie fahren da jetzt hin.“ Nächster Schlag. Ich wollte nie alleine los, sondern das mit einer Freundin machen, weil ich befürchtete vollkommen durchzudrehen.
10 Minuten später saß ich im Taxi.

Wiederrum zwei Stunden später stand ich hyperventilierend auf der Station, hatte bereits meine Mutter am Telefon gehabt, die völlig außer sich war und dachte, ich kippe gleich um. Zum Glück hatte ich jemanden, der mich ins Bett begleitete, sonst hätte ich mich wohl mal wieder  mal auf dem Fußboden wieder gefunden.

Hätte ich gewusst, was da auf mich zukommt, hätte ich es mir vielleicht doch genauer überlegt.
Es geht nicht darum, dass man hier nicht nett ist. Ich wurde super lieb hier aufgenommen und es ist fast eigenartig, wie viel Hilfsbereitschaft hier untereinander herrscht. Das beeindruckt mich wirklich sehr.

Es ging um den „Entzug“ von der Uni. Die Uni ist bis letzte Woche mein Leben gewesen. So sehr man vielleicht das Leben da draußen auch braucht, aber ich bin mit Scheuklappen durch diese Welt gelaufen und plötzlich hatte man mir die vermeintlich einzig sinnstiftende Tätigkeit weg genommen.
Ich war davon so gestresst, dass auch mein Körper zu Extremformen auflief. Den ganzen Tag waren all meine Muskeln angespannt – so sehr, dass ich kaum noch vernünftig laufen konnte. Nachts war ich ungefähr jede Stunde wach und essen konnte ich auch nicht.
So nach und nach ist mir klar geworden, dass ich das zu Hause niemals hinbekommen hätte. Ohne das Wissen Ansprechpartner zu haben, hätte ich das nicht aushalten können und ohne das ein oder andere Benzo wäre das auch schwer geworden

Langsam wird es weniger mit der Unruhe. Dafür kommt langsam das durch, was dahinter kommt. Die Leere und Sinnlosigkeit.
Die Uni war das Mittel zum Zweck. Um die Augen vor der Realität zu verschließen. Um nicht sehen zu müssen, wie viel schief läuft, wie sehr ich immer damit beschäftigt bin, mich um andere zu kümmern und zu vergessen, dass es auch noch ein „ich“ gibt.
Es wird noch ein weiter Weg, glaube ich.

Erste Erfolge habe ich aber wirklich schon zu vermelden. Gestern waren ein Mitpatient und ich zusammen einkaufen und ich bin wirklich das erste Mal seit ganz langer Zeit relativ stressfrei durch den Einkaufsladen gelaufen.
Und heute Morgen konnte ich ganz ruhig rund eine Stunde am Frühstückstisch sitzen.

Ganz langsam werde ich jetzt auch in die Therapien eingeflochten. Wie Singen, Tanzen und Malen zur Heilung beitragen sollen, weiß ich noch nicht, aber das werde ich in den nächsten Wochen mit Sicherheit heraus finden. 

Alles Liebe
Mondkind

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Drittes Staatsexamen - ein Erfahrungsbericht

Reise - Tagebuch #2

Von einem Gespräch mit dem Kardiochirurgen