Psychiatrie #10 Fortschritte?


Freitagnachmittag.
Ich habe den Tag ganz gut durchgestanden, bis der Psychologe nochmal vorbei schaut und mich mitnimmt. Er hatte es gestern angekündigt, aber irgendwie wundert es mich noch immer, dass er auch in bisher allen Fällen das gemacht hat, was er zwischen Tür und Angeln mal irgendwo erwähnt hat.

Die Räume der Tagesklinik, zwischen denen sein Büro liegt, sind schon dunkel und zum Teil abgeschlossen, weshalb wir den „Geheimweg“ nehmen.
Wenig später sitzen wir uns gegenüber. Blaue Stühle. Zwischen uns ein flacher Holztisch, auf dem auf seiner Seite eine halb leere Teetasse steht. Ich ziehe einen Pantoffel aus, ziehe das Knie hoch und stelle meinen Fuß auf die Sitzfläche. Das ist unhöflich, aber ich brauche irgendetwas, an das ich mich klammern kann.

Wie es mir geht, möchte er wissen. „Es geht so…“, antworte ich und murmle etwas vor mich hin. Das hört er sich eine Weile an, ehe er mich unterbricht. „Frau Mondkind – Sie wissen schon, dass das Team sich untereinander austauscht. Und so wie ich das mitbekommen habe, geht es hier um etwas ganz anderes…“
„Mh…“, murmle ich. Setze an zu reden, hole tief Luft und verstumme wieder. Ein paar Versuche später übernimmt er das Zepter. „Wenn ich das von den Kollegen richtig verstanden habe, geht es um Suizidgedanken…“

Er bietet mir an, darüber zu reden. Manchmal werde es dann leichter, sagt er. Und ich… - ich nehme das Angebot dankend an. Erkläre, dass mir bewusst ist, dass das immer wieder nur ein temporärer Zustand ist. Und dass es sich dennoch in diesen Momenten so real anfühlt – zu real. Dass es weder rational erklärbar, noch ebenso rational zu bekämpfen ist. Denn der Teil, der ist einfach nicht rational. Dem kann man nicht damit um die Ecke kommen, wie viel diese Welt noch zu bieten hat. Der hat einfach aufgegeben vor so vielen Jahren. Und der möchte nichts mehr davon wissen, was wir alles noch für Chancen und Möglichkeiten haben, da sich das bisher selten als Vorteil erwiesen hat. Ein schlechtes Gewissen macht das – vor allem vor dem beruflichen Hintergrund – immer.
Ich erkläre, dass ich es manchmal bereue, das Thema hier je ausgegraben zu haben. Es bringt mich in eine Position und lässt mir eine Aufmerksamkeit zu Teil werden, die ich gar nicht haben möchte. Bringt mich ungewollt in Schwierigkeiten. Und irgendwie scheint das ja hier auch keiner sonst zu haben. Es gibt hier niemanden, der Meldebögen führen muss, oder Ausgänge gestrichen bekommt. Statistisch gesehen haben 60 % der Depressiven Suizidgedanken, aber irgendwie scheint die Statistik auf der Station nicht zu stimmen. Aber wenn ich nicht darüber rede, passiert genau das Gleiche wie beim letzten Mal – nämlich nichts und ich gehe mit den gleichen Gedanken, mit denen ich einst gekommen bin.
Er hakt ein, dass hier sicher noch welche davon betroffen sind, aber nicht alle darüber reden und ich das schon ganz richtig mache.

„Was brauchen Sie von mir?“, fragt er.
Ich überlege lange. „Naja… - diesen gefühlt unerträglichen Zustand kann mir ja keiner abnehmen. Manchmal braucht es nicht mehr als jemanden, der einfach da ist. Das ist dann schon okay…“
„Und was brauchen Sie von mir?“, wiederholt er.
Ich überlege. Kann ich das sagen?
Ich hole tief Luft. Das mache ich oft in letzter Zeit. „Manchmal gibt es da das Bild von diesem Menschen vor der Heizung. Der in Krisensituationen einfach mit einer Tasse Tee neben mir sitzt. Der muss gar nichts sagen, denn zu sagen gibt es ja oft wenig. Einfach da sein. Und das einige Zeit mit aushalten. Mir zeigen, dass ich nicht alleine damit bin.“
Er schaut sich um. Sein Blick trifft die Heizung im Büro. „Das können wir ja mal machen…“, schlägt er vor. „Mh…“, murmle ich. Ich bin gespannt. Wundern würde es mich irgendwie nicht. Er gibt sich mit allen seinen Patienten extrem viel Mühe und mit ihm habe ich echt Glück gehabt – wenngleich er leider bald Urlaub hat.

„Darf ich etwas sagen?“, frage ich. „Klar…“, entgegnet er.
„Ich finde es immer schwer, Hilfe überhaupt zuzulassen. Wenn jetzt jemand zum Beispiel mit mir vor der Heizung sitzen würde oder generell die Krisen mit aushält - was mache ich dann, wenn ich wieder alleine bin? Bisher war ich oft alleine damit. Und ich habe immer die Angst, dass ich es nicht mehr alleine schaffe, wenn ich ein Mal Hilfe dabei hatte, weil es dann noch mehr weh tut. Die Erinnerung daran, wie das war, nicht alleine damit zu sein. Verstehen Sie, wie ich das meine…?“
Es ist eine berechtigte Überlegung, sagt er. Und dann erzählt er von einem Kontaktabbruch, den er mal erlebt hat. „Und irgendwann habe ich mir gesagt, dass die Erinnerungen an die gemeinsame Zeit ja bleiben. Ein Stück davon ist immer da…“, erklärt er. Trotzdem erlebe ich meist eher, dass es weh tut. Und obwohl die Erinnerungen gut sind wünsche ich mir manchmal, ich hätte es nie erlebt – was viele Dinge im Ort in der Ferne nachträglich schwierig gestaltet.
Und dann überschwemmen mich die Erinnerungen und die Dämme brechen. Er wartet eine Weile. „Ich habe gerade das erste Mal wirklich Tränen bei Ihnen erlebt“, merkt Herr Therapeut irgendwann an. „Ich sage ja… - den Funktioniermodus kann ich langsam nicht mehr halten“, erkläre ich, nachdem ich mich gefasst habe. 

Unser aller Freund "Tavor" 🐱


Zuletzt möchte er natürlich wissen, wie stark die Suizidgedanken sind. Ich schweige eine Weile. „Mondkind, Du musst am Wochenende nach Hause und die Unterlagen für die Versicherung holen, bei der Du am Mittwoch den Termin hast“, sagt es im Innen. „Was haben Sie denn am Wochenende vor?“, fragt Herr Therapeut. Ich antworte wahrheitsgemäß, dass ich dringend nach Hause muss, um ein paar Sachen zu drucken, Mails zu verschicken und Unterlagen zu holen.
„Ich glaube, ich werde es schon schaffen zu Hause“, erkläre ich. Langes Schweigen. „Ich spiele jetzt mal mit offenen Karten“, erklärt Herr Therapeut. „Sie beantworten die Fragen so geschickt, dass Sie sie zwar beantworten, aber mehr oder weniger daran vorbei reden. An Ihrer Wortwahl erkenne ich, dass Sie sich nicht sicher sind, ob da nur Suizidgedanken, oder Suizidabsichten im Spiel sind. Deshalb würde ich Sie am Wochenende gern auf der Station behalten.“ Und nach einer kurzen Pause. „Jetzt sind Sie dran…“
Irgendwie bin ich ihm fast ein bisschen dankbar. Das Spiel, das ich bei meiner Therapeutin immer spiele und über das ich mich zu Hause immer ein ärgere, weil die Frage eher funktional als ehrlich beantwortet wurde, funktioniert bei ihm nicht.
Ich lenke ein. Erkläre, dass ein Teil in mir gerade auf die Barrikaden geht, weil ich diese Unterlagen eben dringend brauche und ich es mir gefälligst nicht noch schwerer machen soll, aber dass ich mir auch nicht sicher bin.
„Dann müssen wir jetzt noch den Ausgang klären“, sagt Herr Therapeut. „Aber ich muss jetzt nicht noch mit der Ärztin reden?“, frage ich etwas entsetzt. „Naja ich kann die Ausgangsregelung nicht ändern. Das muss die Ärztin machen“, erklärt Herr Therapeut. „Aber ich kann mitkommen“, fügt er hinzu. Das halte ich für eine gute Idee. Denn langsam bin ich im Igelmodus. So Zusammenrollen und Stacheln raus. Aber mit ihm ist es einfacher, als beim letzten Mal.

Wir gehen eine Etage hoch. Er fragt im Schwesternzimmer wo die Ärztin sei.
Wenig später sitzen wir auf den Klappstühlen vor dem Arztzimmer. Komisches Gefühl, da mit dem Therapeuten zu sitzen. Aber wenigstens habe ich nicht so starkes Herzrasen wie beim letzten Mal. Ich habe ja einen Sprecher und Verteidiger bei mir. „Welchen Tee trinken Sie eigentlich gern?“, fragt er plötzlich. Und auf meinen verwirrten Blick: „Es ist nur eine allgemeine Frage…“
Eines Tages werden wir da wirklich mit Teetasse und Decke vor der Heizung sitzen. Und vielleicht werde ich dieses Bild wirklich immer durch meine kleine Welt tragen.

Wenn man jemanden hat, der die ganze Geschichte nochmal in wenigen Sätzen zusammen fassen kann, wird im Arztzimmer auch Vieles leichter. Der Ausgang ist gestrichen, aber ich darf zumindest auf kurze Spaziergänge. Wie ich bis Mittwoch an die Unterlagen komme, weiß ich immer noch nicht. Entweder die lassen mich Montag kurz fahren, wenn das ja zeitlich nach den Therapien sehr begrenzt ist und ich mich mehr als bemühen muss, pünktlich zur Abendrunde zu kommen. Oder wir müssen den Termin bei der Versicherung verschieben.
„Dienstag machen wir an genau dieser Stelle weiter“, kündigt Herr Therapeut an. Vielleicht ist das keine schlechte Idee. Endlich zu hinterfragen, woher die Gedanken eigentlich seit mehr als zehn Jahren kommen. Vielleicht können wir das endlich klären. Und vielleicht kann ich dann endlich loslassen. Nur stört mich seine Anmerkung, dass das vielleicht System habe, dass es zwei Mal hintereinander freitags passiert ist. Meiner Meinung nach ist das mehr oder weniger Zufall. Hätte ich diesen Mittwoch und Donnerstag nicht wichtige Termine gehabt, wäre das schon eher zusammen geklappt. Die beiden Tage musste ich mich schon sehr bemühen, den Kopf im Zaum zu halten. Aber in alter Mondkind – Manier: Was irgendwie funktionieren muss, funktioniert. Mal sehen, ob er mir das abnimmt am Dienstag.

In meinem Kopf schreit und brüllt es. Real würden wahrscheinlich Gegenstände durch die Räume fliegen. Mich kostet das viele Tränen. „Das kann passieren, wenn der „distanzierte Beschützer“ sich verabschiedet“, erklärt Herr Therapeut auf meine verzweifelte Frage, wieso das nach fünf oder sechs Wochen (ich habe aufgehört zu zählen) passiert. Und wieso ich jetzt nicht mal mehr in den Ausgang darf, während andere nach sechs Wochen schon längst wieder zu Hause schlafen. Es sei okay, höre ich. Ich müsse das nur auch akzeptieren, begreifen und annehmen. Und mir keinen Stress machen.

Wenig später habe ich meinen Vater in der Leitung. Er möchte eine Planung zum Thema Umzug und Küche hören, um die ich mich noch kümmern muss. Ein Wochenende gäbe es im August noch zum Umziehen, das er nicht verplant habe. Und ich… - ich bin schon wieder gestresst.

„Ich hoffe, eines Tages werden wir tanzen“, denke ich mir, während ich abends im Bett liege. Und eine schmale Gestalt, fast durchsichtig, barfuß, in einem Kleid das etwas über dem Knie endet, vor meinem geistigen Auge an den Klippen entlang tanzt.


Allen Lesern wünsche ich ein schönes Wochenende!
Mondkind

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