16 Monate
Hey Du,
na, wie geht es Dir? Ich hoffe, Du fühlst Dich sicher dort, wo Du
jetzt bist. Ich hoffe, Du bist irgendwo auf welche Weise auch immer glücklich.
Ich hoffe, Du denkst ab und zu an mich, schaust vielleicht mal, was ich gerade
so treibe.
Ich habe Deine Ecke ein bisschen umgestaltet. Es sieht jetzt ein bisschen herbstlich hier aus. Ich hoffe, Du magst es…
Crazy. 16 Monate ist dieser Morgen mittlerweile her, der das Leben so
wie ich es kannte, enden ließ. Vor 16 Monaten saß ich morgens um kurz
nach sechs auf dem Sofa, hatte plötzlich die Gewissheit, dass die schlimmsten
Befürchtungen eingetreten sind und wusste nicht wohin mit mir und dieser
Katastrophe. Wen sollte ich anrufen, wenn dieser eine Mensch, der immer
erreichbar war, plötzlich tot war?
Vorerst ist mir nichts Besseres eingefallen, als weiter arbeiten zu
gehen. Die Frühbesprechung hätte ich mir aber damals nicht geben sollen. Ich
wollte oben bleiben, aber eine Kollegin hat mich angetrieben, dass wir
verpflichtet sind, zu gehen. Also saß ich da und habe gehofft, dass man mich in
Ruhe lässt. Aber natürlich wollte der Chef meinen spannenden Fälle der Woche
hören. In meinem Gehirn war es allerdings, als habe man die „Löschen – Taste“
gedrückt. Ich hatte in dem Moment keine Ahnung, ob ich überhaupt Patienten
hatte.
Manchmal kommt es mir vor, als wäre das gestern gewesen. Diese
Blitzlichtmomente sind immer noch präsent dazwischen.
Irgendwann nachmittags habe ich es nicht mehr aushalten. Herr Kliniktherapeut, der ja mal gesagt hatte, ich könne mich melden, hat eine Mail bekommen. Mitten am Tag von meiner Dienstmailadresse. 10 Minuten später klingelte das Telefon mit einer externen Nummer. „Es tut mir leid, ich konnte nicht anders“, war sein erster Satz. Ich wusste nicht, für was er sich da entschuldigt hat. Ich bin erstmal ins Blutabnahmezimmer geflüchtet und habe dort rechts in der Ecke auf dem blauen Stuhl gesessen, die Füße auf den Hocker vor mir abgestützt. Ich habe einfach gehofft, dass niemand uns hört. Ich hatte nichts mehr im Griff. Ich habe geweint, gezittert, hyperventiliert und ich war diesem Menschen am anderen Ende der Leitung einfach so unglaublich dankbar. Er hat gar nicht viel gesagt. Was sollte man auch sagen? Aber er war da. Ich habe ihn atmen gehört und – er muss draußen gewesen sein – im Hintergrund zwitscherten die Vögel auf dem Psychiatrie – Gelände. So viel Leben in der Leitung, so viel Tod in mir.
16 Monate ist es her. Mittlerweile steht Dein Foto auf meinem Tisch im Wohnzimmer. Als ich aus der Klinik kam, habe ich die erste Kerze für Dich gekauft, die hier jeden Tag für Dich leuchten muss. Vorher hatte ich nie Kerzen in der Wohnung, weil ich immer Angst hatte zu vergessen sie zu löschen, bevor ich gehe. Frag mal nicht, wie oft ich schon umgedreht bin vom Weg zur Arbeit weil ich vergessen habe, ob ich sie wirklich ausgepustet habe. Deine Ecke passt sich – wie Du siehst – ein bisschen den Jahreszeiten an. Ich scrolle immer noch oft unsere alten whatsApp – Konversationen durch und suche die Goldmomente zwischen den Zeilen.
Was ist im letzten Monat passiert? Ich war in der Studienstadt. Das
erste Mal seit anderthalb Jahre habe ich den Fluss wieder gesehen.
Es war eine anstrengende Tour. Im Moment ist sowieso alles sehr
anstrengend, ich war glaube ich noch nie über Monate so sehr erschöpft. Aber
mit was soll ich auch die Akkus aufladen? Ich habe mich langsam dran gewagt. Am
ersten Tag bin ich nur bis [in eine Nachbarstadt] gekommen. Sie trägt
eigentlich Erinnerungen von vor unserer Zeit. Erst am zweiten Tag habe ich es
geschafft in die Altstadt zu fahren. Ich glaube, ich habe mir dieses Jahr
nichts mehr gewünscht, als den Fluss zu erleben, wenn es noch ein bisschen
schön draußen ist. Es war etwas kühl, aber
die Sonne strahlte vom Himmel, am Flussufer waren so viele Menschen,
dass es schon fast unangenehm wurde. Ich hatte Dich im Ohr. „Mondkind, ich war
am Fluss und da waren so viele Menschen, als gäbe es gar kein Corona.“ Das hast
Du mir oft erzählt in den Wochen vor Deinem Tod. Als sei das der Beweis dafür,
dass alles normal sein müsste. Und manchmal glaube ich, Du hattest während
meines Besuches in der Studienstadt die ganze Zeit ein Auge auf mich und hast
mir den größten Wunsch des Jahres erfüllt. Ich saß einfach da, habe den Möwen
zugeschaut und mich an Zeiten, die längst vergangen sind erinnert. Es war eine
Begegnung mit der „alten Mondkind“. Und es ist ein Fehler zu glauben, dass es
mir damals hätte besser gehen müssen, weil Du da gewesen bist. Das ist oft
dieser Fehlschluss der Menschen: „Wenn es mir mit Dir nicht gut ging, kannst Du
nicht so wichtig gewesen sein.“ Du hast meine Vergangenheit ja auch nicht
ändern können und die Schwierigkeiten, die ich hatte. Auch, wenn ich Dir
unendlich für Deine Geduld mit uns beiden danke, für all die Nachsicht, obwohl
ich manchmal gewirkt haben muss, wie das am weitesten vom Leben entfernte Wesen
auf diesem Planeten. Es gab allerdings einen entscheidenden Unterschied:
Hoffnung. Die Hoffnung, dass wir nur noch ein kleines Stückchen kämpfen müssen.
Dass es dann vielleicht nicht okay, aber besser wird. Du hättest mir auch meine
fehlende Familie nicht ersetzen können. Nicht die Sehnsucht die ich habe, in
einem familiären Gefüge aufgehoben zu sein. Aber nachdem wir über fünf Jahre
hinweg zusammen gewachsen sind, hätten wir hier unten unsere eigene kleine Welt
begründen können, gemeinsam vielleicht ein kleines bisschen heilen können und
wer weiß, wohin wir es geschafft hätten, hätten wir noch ein bisschen mehr Zeit
gehabt.
Einen Tag war ich an der Uni, bin an Deinem alten Arbeitsplatz vorbei
gefahren, habe das Labor besucht, meinen Lieblings – MTA und die alte
Therapeutin. Ich habe so unglaublich viel geweint an diesem Tag. Nicht mal nur,
weil ich traurig war, sondern weil ich so berührt war. Das Labor war auch mal
eine Übergangsheimat für mich und die Menschen zu erleben die so tun, als
hätten nicht knapp 18 Monate zwischen dem letzten Treffen gelegen, die mich
einfach wieder in ihre Mitte nehmen als sei ich nie weg gewesen, berühren mich.
Als ich Frau Therapeutin gesehen habe, habe ich erstmal ein bisschen geweint. Die
neue Therapeutin stellt sich ja gern als meine „Ersatz – Mami“ dar (das hat sie
sogar schon so gesagt), aber letzten Endes ist das immer eine emotionale
Entscheidung, wen man in dieser Rolle akzeptiert. Und bei der alten Therapeutin
und mir war das so. Das war zwar immer eine sehr distanzierte Beziehung, was
mir am Ende geholfen hat von ihr los zu kommen, aber es hat sich trotzdem ein
bisschen angefühlt wie „nach Hause kommen.“ Kanntet Ihr Euch eigentlich? Hast
Du sie mal gesehen?
Ich habe so viel von uns gespürt in der Zeit. Du bist so untrennbar
mit meiner Studienstadt – Zeit verbunden. Ein paar der Cafe – Date – Plätze bin
ich abgelaufen. Ich glaube beim Letzen das wir hatten, war es recht kühl.
Irgendwie – ich weiß manchmal nicht, was von meinen Erinnerungen wahr ist –
habe ich mich gefragt, warum wir bei dieser Schweine – Kälte draußen sitzen
müssen. Und irgendwie – keine Ahnung, ob
das stimmt – ging mir so durch den Kopf: Genieß es Mondkind, wer weiß, ob es
nochmal wieder kommt.
Jetzt fehlt noch Deine Mum. In der zweiten Novemberwoche habe ich
Urlaub, da war es geplant. Allerdings ist Deine Mutter auch gerade ein bisschen
überfordert damit. Und ich ehrlich gesagt auch. Aber erstmal hat sie die Bremse
rein gehauen. Wenn sie nicht langsam aus dem Quark kommt, wird das auch nichts
mehr. Ich brauche noch ein Zugticket und eine Unterkunft.
Ich glaube, wir haben beide ein bisschen Angst. Für sie bin ich glaube
die „Hauptquelle“, die ihr noch etwas über ihren Sohn erzählen kann. Und für
mich ist sie es. Was ist, wenn da Dinge zu Tage kommen, die man nicht mehr ins
richtige Licht rücken kann? Ich fand schon ihren Kommentar über den Zustand
Deiner Wohnung schwierig. Wie wird das sein, Dich nicht umarmen zu können,
sondern nur mit den Fingern einen kalten Grabstein entlang fahren zu können?
Wie wird das überhaupt sein, in Bezug auf Dich auf einem Friedhof zu stehen? Ich
stand noch nie auf einem Friedhof und hatte irgendeinen Bezug dazu. Wenn wir
nach [Geburtsort] gefahren sind, sind wir immer auch am Grab von Papas Eltern
vorbei gegangen. In meiner kindlichen Naivität fand ich Friedhöfe immer ganz
schön wegen all der Blumen. Aber seine Eltern waren gestorben, bevor wir
geboren worden waren. Für mich waren sie Namen auf einem Stein.
(Interessanterweise – so im Nachhinein – ist Papa nie mitgekommen… das sagt
auch irgendwie etwas, muss ich heute feststellen).
Ansonsten - Ich habe Dir ja schon erzählt, wir basteln gerade an einem
neuerlichen Klinikaufenthalt. Weißt Du was, manchmal finde ich es schwierig
allein den Lebenswillen aufrecht zu erhalten. Also… - eigentlich entsteht der
auch nur dadurch, dass ich das Gefühl habe, dass ich unsere Erinnerungen nicht
mehr in die Welt raus schreien und lebendig halten kann, wenn ich auch noch
gehe. Und erst dann sterben wir beide so wirklich. Ob das irgendwo im Jenseits
noch eine Rolle spielt, weiß keiner so wirklich. Schön ist es nicht mehr hier.
Ich liege wahlweise entweder erschlagen auf dem Sofa und habe das Gefühl, dass
mir die Gefühle das Herz zerreißen oder renne wie so ein Adrenalin – Junkee
durch die Klinik. Leider ist so ein minimaler Lebenswille die Voraussetzung, um
in einer Psychosomatik bleiben zu dürfen.
Ich glaube, das wird hart ohne Dich. Meinen Eltern rund sechs Wochen
verkaufen zu müssen, dass ich brav arbeiten gehe und mir irgendwelche
Geschichten über Dienste auszudenken, wird schwierig. Und ich hoffe, mein Dad
kommt nicht auf die Idee einen persönlichen Kontrollbesuch abzustatten, wenn es
ihm komisch vorkommt. Ich hoffe, ich werde diesmal gesehen. Ich hoffe, ich
stoße diesmal nicht auf taube Ohren, wenn ich erkläre, dass mit all der
Geschichte die ich mit mir trage, Dein Tod so ziemlich das Schlimmste war, das
mir passieren konnte und ich trotzdem versuchen muss, das beste Leben daraus zu
machen. Weil es eben auch irgendwie mehr erschüttert hat, als uns Beide.
Ich habe viel Angst davor. Du und ich, wir waren immer ein Team, wenn
es um Klinikaufenthalte ging. Es jetzt alleine machen zu müssen mit all den
Ängsten in Bezug auf die Klinik und auf die Menschen um mich herum, scheint
aktuell fast schwieriger zu sein, als einfach weiter zu machen.
So, ich bin müde nach meinen drei Diensten in sechs Tagen.
Ich frage mich manchmal wie das laufen würde, wenn Du noch hier wärst
und ich so erschlagen von der Arbeit nach Hause käme. Ob Du für uns gekocht
hättest? Ob wir noch ein bisschen auf dem Sofa liegen würden, ehe ich meinen
müden Körper einfach ein Zimmer weiter ins Bett legen würde? Ob Du schimpfen
würdest, dass ich so viel arbeite?
Was wären unsere gemeinsamen Ziele? Wie würde die Wohnung aussehen?
Wie würden wir in die Zukunft blicken?
Ich husche gleich wieder ins Bett. Irgendwie ein bisschen fit werden
für morgen
Ganz viel Liebe. Halt die Ohren steif.
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