Verhaltensauffälligkeit versus Erschöpfung

Gestern.
Der Chef und ich kommen vom vierten Stock, von der Privatstation. Ich habe einer Kollegin da oben einen Patienten abgenommen, weil ich ihn aufgenommen habe und sich dann raus stellte, dass er privat versichert ist. Und sie hatte viel zu tun, da habe ich ihn weiter betreut, obwohl sie den vierten Stock macht. Und diesmal habe ich sogar die MS – Diagnostik im Griff. Plötzlich bleibt der Chef mitten auf der Treppe stehen. „Mondkind wie geht es Dir eigentlich?“, fragt er. Ich schaue ihn kurz völlig perplex an. Es ist doch Mittag, so langsam habe selbst ich mich mal beieinander, meine Stimme hat wieder etwas Kraft. Aber nach der Ankündigung, dass er eh mit uns allen sprechen will, wie er in der Frühbesprechung erwähnte… ? (Warum auch immer…) Hat das vielleicht, hoffentlich, gar nichts mit meinem Zustand zu tun. „Ich meine jetzt nicht beruflich, ich meine privat“, schiebt er hinterher, als ich immer noch nichts gesagt habe. „Es geht so“, sage ich. „Ich habe ein Jahr von Dir nichts mehr gehört Mondkind. Ich habe das damals alles mitbekommen, ich kenne Deine Geschichte.“ „Naja, ich müsste ohnehin mal mit Ihnen sprechen; ich habe da schon etwas zu sagen“, erkläre ich zögerlich. Ich kann jetzt schlecht sagen, dass alles supi ist und in zwei Wochen mit ihm darüber reden wollen, dass das Gegenteil der Fall ist. „Aber vielleicht ist das Treppenhaus dafür nicht der geeignete Ort“, füge ich hinzu. „Das ist kein Problem Mondkind. Sollen wir das bei mir im Büro machen? Ich rufe Dich an. Heute oder morgen, okay? Wenn ich Dir ein bisschen helfen kann, dann mache ich das gern. Ich habe Dir doch schonmal gesagt, Du bist wie eine kleine Schwester für mich.“
Ich habe den ganzen Tag latentes Herzrasen, aber er ruft mich nicht an. Keine Ahnung, ob er morgen noch dran denkt. Ich weiß nicht mal, ob ich das will. Es tut mir jetzt schon leid. Denn ob mit „wenn ich Dir ein bisschen helfen kann, dann mache ich das gern" auch ein mehrwöchiger Klinikaufenthalt gemeint ist…? Wohl eher nicht…
Und auch heute meldet er sich nicht, wobei uns heute auch wieder die Covid – Situation um die Ohren geflogen ist. Ich hoffe, er vergisst es nicht. Auch, wenn ich dieses Gespräch eigentlich nie führen will. 


 

Heute.
Spät abends im Büro. Bei der potentiellen Bezugsperson. Wir haben uns lange nicht gesehen, nur geschrieben. Ich gebe vor, ein Einweckglas zurück bringen zu müssen, das ich bei meinem letzten Besuch mit Inhalt bekommen habe. Und da ich eh meine Sachen noch ins andere Haus bringen muss, für den üblichen Dienst am Sonntag…  Aber natürlich hoffe ich, dass wir ein paar Worte wechseln können.
„Bei Deiner vorletzten Mail war ich sehr wütend“, sagt er irgendwann. „Mh… - ich bei Ihrer drittletzten Mail auch. Ab und an muss das mal raus.“ Und vielleicht gibt es manchmal Grenzen von schriftlicher Kommunikation, wie ich ihm letztens schonmal geschrieben habe.
Und langsam spüre ich, wo der Hase im Pfeffer begraben liegt. „Mondkind, wenn wir davon ausgehen, dass das eine Verhaltensauffälligkeit ist, dann kannst Du Dich mal fragen, wofür das gut ist.“ Bitte was… ? Okay, das ist auch eine Sichtweise. „Ich glaube, Sie verstehen das nicht richtig. Ich bin einfach erschöpft. Das ist nur die Erschöpfung, nichts anderes. Ich schaffe irgendwie die Arbeit, obwohl es wahnsinnig anstrengend ist, aber wenn ich nach Hause komme, dann sind die Akkus mehr als leer. Und ich habe nichts davon, wenn ich zu Hause nichts auf die Reihe kriege. Es putzt niemand für mich, es geht niemand für mich einkaufen, es macht niemand die Wäsche für mich und es kocht auch keiner. Und wenn ich es – wie die letzten zwei Wochen – nicht auf die Reihe kriege einkaufen zu gehen, dann ist das nur ein Problem für mich selbst. Und nicht mal dieses apathische auf dem Sofa liegen ist angenehm. Selbst liegen und atmen fühlt sich zu anstrengend an. Ich schreibe kaum noch den Blog – und wenn sind es eher Zustandsberichte, die Stimmung zwischen den Zeilen fehlt einfach - ich telefoniere kaum noch mit Freunden, weil ich nicht so lange und nicht so laut reden kann. Selbst reden ist anstrengend. Und wenn ich nachts da liege und weine, dann weiß ich oft nicht mal warum. Es fühlt sich an, als wäre ich selbst zum Denken zu müde. Dann weiß ich nicht, ob ich traurig oder wütend bin, weiß nicht, welcher Gedanke mich so traurig macht, dass ich darüber weinen muss. Es ist alles so diffus geworden.“

„Mh… - und wenn dann irgendein Impuls von Außen kommt, dann schaffst Du das gerade noch so. Also die Arbeit und wenn ich Dich zu mir einlade. Weil dann wirkst Du eigentlich recht normal. Aber mehr machst Du auch nicht.“
„So ungefähr ja. „Verpflichtende“ Termine im Außen kriege ich gerade noch so auf die Reihe ud absagen fällt mir immer schwer.“
„Mh… - also gerade das mit diesen diffusen Gedanken, was ja so etwas Ähnliches wie völlige Leere ist – das klingt dann doch sehr depressiv.“
Und das ist auch nicht gut. Aber es erleichtert mich doch etwas, dass er das jetzt so sieht. Endlich mal kein „Mondkind Du spielst Theater“ oder „Mondkind Du hast es Dir ausgesucht.“ Nein, ich habe mir die Kacke hier bestimmt nicht ausgesucht.

Und dann geht es darum, dass die Klinik noch nicht ganz in trockenen Tüchern ist, dass es noch einen Monat ist und dass wir ein Problem kriegen, wenn das weiter so rasch bergab geht und sich das nicht stoppen lässt. „Wenn Du mich fragst, ist der Tiefpunkt noch nicht erreicht. Wir haben drei große Probleme. Deinen jetzigen Zustand, den Zeitpunkt kurz vor der Klinik, was Dich sehr stresst und die Weihnachtszeit.“ „Manchmal habe ich Angst, dass das am Ende zu schlecht für die Psychosomatik wird. Das bringt mir nichts, wenn die mich direkt weiter winken in die Psychiatrie. Aber ich merke schon jetzt, dass die Gedanken sehr schlimm werden.“ „Naja Mondkind, im Zweifel geht es erstmal darum, dass Du irgendwo und irgendwie "verwahrt" wirst…“ „Und dann… ? Dann geht die ganze Schleife wieder los. Ich habe die Psychiatrie zu oft von innen gesehen.“ Ich bilde mir mal zumindest ein, dass Psychosomatik für „Fortgeschrittene“ ist.

Wir schauen, wie es weiter geht. Ich hoffe einfach, dass er an meiner Seite bleibt. Dass er mich nicht alleine lässt, wenn das zu kompliziert wird. 

 Mondkind

Bilquelle: Pixabay

Kommentare

  1. Liebe Mondkind,

    ich würde mich gerne ein wenig mit dir austauschen, da ich deinen Blog schon seit über 2 Jahren verfolge und selbst viele Berührungspunkte mit deinen Thematiken hatte/habe (etwas abstrakt formuliert). Allerdings bin ich bei der öffentlichen Kommunikation eher zurückhaltend. Darf ich dir auch "privat" eine Mail schreiben? Falls ja, wo finde ich die Adresse? LG Markus

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    1. Hallo Markus,
      oh, also einer der ganz treuen Leser... - das freut mich :)

      Hier stand zumindest mal eine Mailadresse an der Seite; ich glaube die ist da auch noch... ? Wenn nicht: itsjustanotherway@gmx.de.
      Die landen dann auf meiner ganz normalen Mailadresse, ich habe da mal irgendetwas fusioniert, damit das klappt... Ich freue mich auch immer auf Austauch :)

      Mondkind

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