Vom Besuch bei der Mutter des Freundes und Klinikplanungen

Atmen.
Einfach nur atmen.
Es war die wahrscheinlich schwierigste Reise meines Lebens.

Ganz alleine. Vielleicht mit gedanklicher Begleitung der potentiellen Bezugsperson.

Bahnhof. In einer Stadt, in der er mal gelebt hat.
Ich frage mich, wann er zum letzten Mal hier war. Es muss lange gewesen sein, bevor er gestorben war. Ich frage mich, ob er weiß, wie es hier aussieht. Ob er mich ein bisschen verloren auf den Straßen wandeln sieht auf der Suche nach den richtigen Bushaltestellen.

Ich habe Angst. Ich habe immer Angst vor Neuem. Aber das hier ist ein anderes Kaliber. „Komm Mondkind, die Frau ist seine Mutter. Die Mutter des Menschen, den Du geliebt hast. Sie kann kein Unmensch sein.“

Als ich in die Straße einbiege, steht sie schon auf dem Balkon und winkt.
Wir kochen Tee, holen uns ein paar Kekse und setzen uns.

Und dann erzählt sie. Von einem beschwerlichen Leben. Sie malt ein Bild von meinem Freund, das irgendwie ein bisschen anders ist als das, was ich kenne, auch wenn ich ihn darin noch sehe. „Er hat sein ganzes Leben gekämpft und gesucht“, fasst sie irgendwann zusammen. Und „nachdem er Dich kennen gelernt hat – ich glaube, das war seine ruhigste Zeit in all der Rastlosigkeit.“ Ich höre von ständigen Umzügen, von viel Arbeitslosigkeit, von einer Kindheit im Abseits, von einer Trennung der Eltern, die danach wohl so mit sich selbst beschäftigt waren, dass für ihn nur noch wenig Platz war.
Bei ihr klingt das Bild von ihm tatsächlich gar nicht mehr so sehr nach starker Schulter zum Anlehnen, sondern nach einem Leben, das eigentlich nur aus Ängsten, Selbstzweifeln und der Suche nach einem zu Hause bestand. Und irgendwie finde ich erstaunliche Parallelen zu meinem Leben. Vielleicht haben wir uns so verbunden gefühlt, weil wir – in anderen Nuancen und mit anderen individuellen Erlebnissen – so viele ähnliche Erfahrungen gemacht haben und so sehr dasselbe gesucht haben ohne zu wissen, dass wir es in dem jeweils anderen finden, wenn wir dem anderen und dem Wert in uns vertrauen hätten können. „Er hat dem glaube ich nie so richtig getraut. Obwohl er wirklich glücklich mit Dir war. Aber er konnte nicht glauben, dass er so wichtig war in einem Leben, das auf einem gesellschaftlich anderen Niveau war.“ „Naja, nur weil ich Medizin studiert habe, bin ich kein besserer Mensch. So läuft es nicht“, sage ich. Hat er wohl anders gesehen. Und ich habe mich auch immer gefragt was ich in einem Leben zu suchen habe, das nach außen hin so stabil und geordnet wirkte.

„Er hat eigentlich immer von Dir erzählt, wenn er angerufen hat. Und er hat Dich wirklich sehr geliebt…“, erklärt seine Mutter. „Ich habe ihn selten glücklich erlebt, aber wenn er von Dir erzählt hat, dann haben seine Augen geleuchtet. Er hat Dich sehr bewundert. Wie Du das alles gemacht hast, obwohl Du ja auch Deine Vergangenheit hast. Er hat immer gesagt: „Mama sie wirkt so stark, aber eigentlich ist sie auch so zart und zerbrechlich. Ich muss auf sie aufpassen.“ „Hat er…“, sage ich. Und spüre plötzlich wie sehr das heute fehlt und dann weinen wir beide. Dieses Kommentar ist eigentlich noch mehr wert, als ich „ich liebe Dich.“

„Manchmal frage ich mich, was sein Leben für einen Sinn gehabt hat“, sagt seine Mum irgendwann. „Er hat doch nur gekämpft. Und am Ende nicht gewonnen.“ „Er hat mein Leben verändert“, erwidere ich. „Ich wäre nicht der Mensch, der ich heute bin, wenn er nicht gewesen wäre. Er hat mich an die Hand genommen und mir das Leben gezeigt, mich durch die schwierigsten Zeiten nach meinem Auszug zu Hause begleitet. Was eine noch viel größere Leistung ist, wenn man bedenkt, wie zerbrechlich er selbst war.“

Er ist anonym beerdigt. Das hat Gründe, die ich noch nicht ganz durchschaut habe. Und zunächst war es wirklich ein Schock für mich. Nachdem ich über 16 Monate geglaubt habe, dass er noch einen Platz irgendwo hat, ein Ort, an dem sein Name verewigt ist und ein Stück Grün, das man für ihn gestalten kann. Seine Mum hat aber einen kleinen Gedenkort für ihn in der Wohnung. Ich komme zum ersten Mal seit so langer Zeit dazu mit dem Finger über die Ringe zu fahren, die er immer an den Fingern hatte. Und die mich auf dem ersten Bild das sie mir geschickt hat so irritiert haben. Denn da gehörten sie hin. An seine Finger. An diese wundervollen Hände, die ich auf meinem Rücken vermisse. Ich sehe die Armbänder, die er immer getragen hat, dort liegen. Ein wunderschönes Foto von ihm.
Sie überlässt mir das Schlafzimmer von ihr. Und mit einem dröhnenden Kopf, Ohrenschmerzen und – als ich endlich alleine in diesem Zimmer bin – ganz vielen Tränen schlafe ich das erste Mal so nah neben ihm, wie ich ihm seit langer Zeit nicht war.

Auch am nächsten Morgen bin ich noch erledigt. Seine Mutter war bis heute nicht auf dem Friedhof und schafft es auch nicht dorthin zu gehen. Er ist am anderen Ende der Stadt sagt sie, schon fast außerhalb. Ich kann mich kaum auf den Füßen halten in der Früh und beschließe, dass ich das jetzt einfach körperlich nicht mehr schaffe. Alleine fünf Stunden auf den Schienen im Rahmen der Rückreise sind eigentlich mehr, als machbar ist. Ich fühle mich so schuldig, dass ich es nicht mehr schaffe, aber andererseits… - wenn es anonymes Grab ist und man vor einem grünen Hügel steht und nicht mal etwas für ihn dort ablegen darf… irgendwann komme ich nochmal und gehe ihn dann auch dort besuchen.

Mitbringsel für den Freund...

 

Zeitgleich während ich bei seiner Mutter bin, muss ich mich mit dem Dienstplan für nächsten Monat auseinander setzen. Es läuft jetzt auf die Klinik hinaus. Ab kurz vor Weihnachten, so wie es aussieht. Und auch daran habe ich unendlich doll zu knacken. Das sollte eigentlich nicht mehr passieren, mit den steigenden Corona – Zahlen wird es auch sicher ein bisschen unangenehm. Und abgesehen davon ist es der zweite lange Ausfall in knapp über zwei Berufsjahren.
Ich habe meinen Job im Griff – immerhin habe ich auch meine drei Dienste in sechs Tagen geschafft, ohne dass irgendwer zu Schaden gekommen wäre, weil ich unkonzentriert war – aber die Kollegen merken es doch. Und haben mir auch nahe gelegt, etwas zu tun.

Die potentielle Bezugsperson meinte, ich soll den dienstplanverantwortlichen Oberarzt etwas einweihen. Also habe ich ihm eine Mail geschrieben, dass ich plane ab Ende Dezember in die Klinik zu gehen, habe es kurz begründet, auch geschrieben, dass ich mir des Mehraufwandes für die Kollegen bewusst bin und mir das sehr leid tut. Und dazu gesagt, dass er Bescheid sagen soll, sollten die den Dienstplan über Weihnachten / Silvester nicht füllen können, dann gehe ich erst im Januar. Und wisst Ihr, was zurück kam: Dass ich mir bitte keine Sorgen um den Dienstplan machen soll, er kümmert sich, dass ich nicht eingeplant werde. Und, dass ich sehr geschätzt werde, zum Kernteam gehöre und mich deshalb darauf verlassen könne, nach der Klinik wieder gut aufgenommen zu werden.

Ich habe so geweint, als ich diese Mail gelesen habe. Weil das so viel mehr ist, als ich zu hoffen gewagt hatte. Ich finde es immer tief beeindruckend und bewegend, wenn man mich als Menschen sieht. Das ist mir selten passiert im Leben. Es gab immer so einen Krieg in der Familie wegen den Klinikaufenthalten. Es kam nie „Mondkind, wir wünschen Dir eine gute Besserung und melde Dich, wenn etwas ist.“ Darauf habe ich immer gewartet und stattdessen kamen immer Vorwürfe und die Anforderung, dass ich doch bitte einfach zu funktionieren habe. Jetzt in dem Zusammenhang so viel Wertschätzung meiner Person zu hören – der dienstplanverantwortliche Oberarzt hätte das nicht so formulieren müssen – bewegt und berührt mich zutiefst.

Ich bin gestern Nachmittag zurück nach Hause gefahren. Und ich habe die komplette Fahrt im Zug einfach durchgeweint. Das ist mir nie so exzessiv passiert. Aber ich konnte mich einfach nicht beherrschen.  

Ab Samstag muss ich wieder arbeiten. Und bis dahin versuche ich mit Hilfen meine emotionale Achterbahn in den Griff zu bekommen. Die potentielle Bezugsperson bekommt seit Tagen seitenlange Mails, morgen sehe ich den Seelsorger, am Freitag telefoniere ich mit meiner alten Therapeutin in der Studienstadt. Ich brauche das gerade so sehr. Den Raum darüber reden zu dürfen.

Wenn das alles hier viel leichter wäre, dann war es nicht echt“, singt Florian Künstler. Und deshalb ist es okay. Dass es weh tut. Dass es so sehr weh tut. Dass ich eigentlich seit drei Tagen nur weine.

„Ich glaube – und das glaube ich wirklich – jemanden wie ihn werde ich nie wieder in meinem Leben finden. Insbesondere nach dem, was ich jetzt weiß“. „Das glaube ich auch nicht“, sagt sie. Und, dass das wohl Glück war mit ihm. Ein Glück, das gar nicht jeder ein Mal im Leben erlebt.

Mondkind

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