40 Monate - über ein bisschen Psychosomatikerfahrung

Mein lieber Freund,
es gibt Monate, in denen habe ich den Eindruck, alles schon recht gut verpackt zu haben. Und dann gibt es die Monatstage, die doch irgendwie weiterhin schwer sind. Vielleicht liegt es daran, dass es wieder so eine Zahl ist. 40 Monate. Fast dreieinhalb Jahre. Im Dezember dann. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich das Wort Suizid zu oft gehört habe in letzter Zeit. Erst Vorgestern hat sich jemand versucht im Kurpark das Leben zu nehmen, er war bewaffnet und natürlich war das für unsere Psychosomatik – Patienten auch nicht gut, sodass das gestern hohe Wellen geschlagen hat. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich ausgerechnet gestern eine Frau aufgenommen habe, die mir erzählt hat, dass sie da ist, weil ihr Sohn an einem „Drogenunfall“ gestorben ist. Sie ist nicht in meiner Gruppe und ich wollte nicht genauer nachbohren, aber was genau ist ein Drogenunfall? Eine unabsichtliche Überdosis? Ein Suizid? Und ist ein „Drogenunfall“ so weit weg von einer absichtlichen Medikamentenüberdosierung?
Ich denk bei solchen Geschichten immer an Dich und manchmal stellen die Patienten fest: „Sie wissen nicht, wie das ist, wenn plötzlich die Polizei an der Tür klingelt.“ Und ich bleibe dann in meiner professionellen Rolle und sage etwas wie: „Das tut mir sehr leid und ich kann das gut nachvollziehen, dass das ein so schwieriger Moment ist, dass er kaum in Emotionen und Worte zu fassen ist.“ Aber ich denke mir dann immer: „Es war nicht die Polizei, aber ich werde den Augenblick nie vergessen, in dem ich um kurz nach sechs in der Früh an einem Freitag mit einem Kaffee auf dem Sofa saß und den Eindruck hatte, dass mein Körper zerfällt. Dass ich mich Lichtgeschwindigkeit vor eine Wand fahre und sich vielleicht mit viel Glück ein kleiner Teil meiner Seele retten kann.“

Und dieser Monatstag ist irgendwie ein schwieriger Monatstag.

Mein erster Monat Psychosomatik ist vorbei. Im Moment geht es mir leider nicht so gut – man munkelt ja, ich hätte nach über drei Jahren jetzt auch die Covid – Erfahrung gemacht. Ich habe leider nicht so viel Kraft, wie ich gern hätte, um mich mit der Psychosomatik zu beschäftigen, aber ich komme schon voran, etwas langsamer eben. Allerdings dachte ich die letzten Tage oft: „Schau, auch an Covid stirbt man nicht zwingend, aber Du hast Dich schon gegen das Leben entschieden, bevor Du es überhaupt hattest - aus Angst vor Corona; natürlich nicht nur vor der Erkrankung selbst, sondern auch vor den gesellschaftlichen Auswirkungen.“
Und dennoch habe ich schon viel mitgenommen aus diesem ersten Monat Psychosomatik und ich schwöre Dir – wir hätten die Café – Dates unseres Lebens. Du warst ja schon immer der Meinung, dass Psychologie gut zu mir passt und gerade gestern wurde ich – eigentlich nur wegen Personalmangel, aber egal; was man ein Mal machen darf, kann auch öfter machen – damit beauftragt heute meine erste eigene Gruppe zu leiten. Es ist zwar „nur“ eine Wochenabschlussgruppe, aber auch um die muss man sich gut kümmern und man soll ja klein anfangen.
Ich würde so gerne so viel mit Dir teilen, bin so traurig, dass es nicht geht und wir diese Zeit hier nie gemeinsam erleben konnten. Ich glaube, wir könnten uns auch fachlich richtig gut austauschen. Wenn Du Deine Ausbildung zum Ex – In fertig gemacht hättest und ich jetzt in der Psychosomatik wäre – wir wären ein unschlagbares Team geworden. Du hattest auch super viele Bücher und hast mir öfter mal etwas daraus kopiert oder abfotografiert. Ich frage mich wirklich, wo die alle hingekommen sind; die könnte ich jetzt gut gebrauchen.

Und weißt Du – ich lerne jetzt so viel über dieses Thema Suizidalität. Die Oberärzte schmeißen dann und wann mal in den Raum, was mit Patienten zu tun ist, bei denen man den Verdacht hat, oder die sich eben dazu äußern. Und manchmal habe ich Angst, dass mir irgendwann ein Licht aufgeht, dass ich es einfach falsch gemacht habe mit Dir. Ich glaube sowieso schon, dass ich nicht streng genug mit Dir war. Und ich glaube, bei diesem Thema geht es sehr viel um Klarheit und Strenge. Und ich glaube, soweit sollte das auch der Mensch verstehen, der in der Situation drin ist. Dann geht es nicht mehr um persönliche Befindlichkeiten und Sympathien. Dann geht um Leben und Sterben und da muss man manchmal Dinge tun, die man lieber nicht tun würde.
Tatsächlich kann ich das heute auch für mich akzeptieren, wenn es mir sehr schlecht geht. Das habe ich in den letzten beiden Krisen irgendwie gelernt. Wenn ich meine Befindlichkeit teile – und das ist wichtig in der Situation und das sollte man tun – dann muss ich auch bereit sein mit den Konsequenzen zu leben, wenn das Gegenüber beschließt, dass es zu Hause nicht mehr sicher genug ist. Ich glaube, ich kann das heute, weil ich mir auch selbst vertraue, dass es kein „Herumagieren“ ist, wenn es mir wirklich sehr schlecht geht, sondern dass es immer echt ist. Aber dieses Vertrauen hatte ich lange nicht immer und Du hattest das auch nicht. Ich glaube, wir haben uns so sehr gegenseitig hintergangen, damals in diesen Sommertagen. Du warst nicht ehrlich und ich war nicht streng.
(Kleine Frage am Rand: Ich hab’s natürlich nicht vor, aber darf man eigentlich noch Krisen haben, wenn man jetzt in der Psychosomatik ist…? Weil eigentlich lernt man ja jetzt wie es geht, auch wenn ich schon weiß, dass man sich nicht selbst therapieren kann. Aber wenn man ein einigermaßen strukturierter Mensch ist, sollte man sich alleine dadurch manövrieren können).


Darf ich Dich etwas fragen? Weißt Du, ein Satz der immer noch täglich in meinem Kopf schlägt ist dieses „Mondkind, Du brennst doch sowieso mit dem nächsten Kardiologen durch.“ Ich glaube, dass ich das damals viel zu locker genommen habe aus unserer Beziehung mal zeitweise eine Fernbeziehung zu machen und das hat Deine Ängste noch weiter geschürt. Und manchmal frage ich mich: Hast Du das wirklich hundert prozentig ernst gemeint? Oder war es vielleicht auch ein bisschen Spaß, mich ständig damit aufzuziehen? Und hast Du überhaupt bis zur Kardiochirurgie gedacht, oder warum war es in Deiner Vorstellung immer ausgerechnet ein Kardiologe? Habe ich vielleicht Deine größten Ängste sogar noch ein bisschen mehr gesprengt?
Es ist krass was ein Satz mit dem Rest des Lebens macht. Ich kann das ja nicht zum Kardiochirurgen  sagen, aber es ist immer noch meiner erster Gedanke, wenn ich ihn sehe. Dieser Satz. Und manchmal denke ich an das Konzept der Gegenübertragung aus der Psychosomatik und dann denke ich, der Kardiochirurg und ich haben sicher Schwierigkeiten, die wir nicht mal benennen können.

Ich denk immer noch viel über uns nach. Und habe mir das diesen Monat auch irgendwie erlaubt. Vielleicht, weil man in der Psychosomatik lernt, dass positive und negative Emotionen zum Leben dazu gehören, dass Verdrängen die Dinge nie besser macht und weil ich realisiert habe, dass Du irgendwie immer noch keinen Platz in meinem Leben gefunden hast, an dem Du bleiben kannst. Und manchmal denke ich: Ich hätte schon nochmal gern einen Therapeuten für all das. Damit Du und Wir einen sicheren Platz haben können, bis ich ihn irgendwann selbst gefunden habe. Und so sehr mir die Menschen das auch versucht haben einzureden, aber das war alles nicht trivial. Menschen sollten nicht so früh sterben und nicht so sterben. Weißt Du, ich glaube in der Medizin lernt man auch irgendwann ein bisschen Demut. Und wir können schon Menschen helfen – die einen Fachrichtungen mehr, die anderen weniger. Und manchmal können wir auch richtig viel bewegen, aber manchmal habe ich den Eindruck, wenn die Zeit abgelaufen ist, dann ist das so. Aber bei Dir war es ja irgendwie nicht so. Alle Deine Organe haben funktioniert, Du warst gesund, Du und wir hätten noch so viele Jahre haben können.
Ich denk viel nach und irgendwie reichen alle Überlegungen von: „Wer wären wir heute? Hätten wir eine Familie gegründet? Wären wir glücklich?“ Bis hin zu: „Man muss es ja auch realistisch betrachten: Zwei Menschen mit einem Altersunterschied von über 15 Jahren und beide psychisch krank… - das ist auch nicht einfach. Vielleicht hätte ich mich gut stabilisiert. Mit finanzieller Unabhängigkeit, Unabhängigkeit vom Elternhaus, dem Gefühl, dass ich fern von der Studienstadt tun und lassen kann, was ich will. Und vielleicht hätte ich Dich mit stabilisieren können. Aber vielleicht wäre es auch zu einer Lebensaufgabe geworden, einen schwer depressiven Menschen zu stabilisieren, an der ich irgendwann gescheitert wäre. Was wäre eigentlich gewesen, wenn wir Kinder gehabt hätten und das dann passiert wäre…?“
Weißt Du, es gibt so viele „was wäre wenns“ und „vielleichts“, dass Du gar nicht weißt, wo Du aufhören sollst und ich könnte das ewig so weiter spinnen. Und irgendwie kommt man am Ende immer wieder dorthin zu denken: Wir leben eben jetzt und heute. Wir wissen nicht, was gewesen wäre. Und vielleicht ist unsere einzige Pflicht im Jetzt glücklich zu sein. Ich denke mir immer noch, vielleicht begegnen wir uns irgendwann in einer anderen Welt wieder und wie schön wäre das, wenn wir beide erzählen könnten, wie wir unser Leben gelebt haben und eben, dass wir hoffentlich glücklich waren.

Halt die Ohren steif.
Ganz viel Liebe in Richtung Universum.
Und ich schreib grad viel mit Deiner Mum, wie wir es machen. Mit Urlaub ist es gerade nicht ganz einfach in der Psychosomatik. Aber ich habe fest vor, bei Deiner Mama und bei Dir dieses Jahr noch vorbei zu schauen. Ich bringe dann Blümchen und eine Kerze für die kalten Wintertage mit, die schon in der Pipeline warten. Damit Du es ein bisschen gemütlich hast, wenn es schon ständig dunkel und regnerisch ist und der Baum über Deinem Grab die Blätter sicher langsam verloren hat.

Mondkind


Kommentare

  1. Interessant, dass du schreibst, dass dein verstorbener Freund doch gesund war, weil seine Organe funktioniert haben. Er war doch offensichtlich psychisch schwer krank und somit eben nicht gesund. Ich würde mir insgesamt wünschen - wie du vermutlich auch - dass psychische Erkrankungen endlich auch als "echte" Krankheiten gesehen werden. Denn sie verursachen genauso Leidensdruck und eine Einschränkung der allgemeinen Funktionsfähigkeit und Lebensqualität wie somatische Erkrankungen.

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    1. Dachte ich mir schon, dass du das nicht so gemeint hast, wie es rüber kam.
      Die Frage, ob du nicht noch etwas hättest tun können, wird sich vermutlich nie beantworten lassen. Und da du persönlich betroffen bist als Angehörige, wirst du dich das wahrscheinlich auch immer wieder fragen. Das Problem ist, dass du immer erst hinterher weißt, dass du den Punkt verpasst hast, an dem du als behandler oder Angehöriger noch hättest Einfluss nehmen können. Bei einem Patienten mit schwerem Herzinfarkt oder Basilarisverschluss (jetzt hoffe ich, dass ich mich mit meinen Neurologie Kenntnissen nicht blamieren, aber wenn ich mich Recht erinnere ist das in der Regel nicht mehr therapierbar) weiß man das vielleicht manchmal bevor der Patient tatsächlich verstirbt. Aber wie auch in der Somatik gibt es Punkte, wo du alles tust, was du kannst, aber der Patient trotzdem stirbt. Du fragst dich das immer hinterher, aber du hast sicher dein bestes gegeben mit dem Wissen, das du damals hattest. Was hättest du mehr tun können als das? Es ist nicht fair dir selbst gegenüber, wenn du von dir erwartest etwas anders beurteilt haben zu sollen mit Wissen, das du zu dem Zeitpunkt einfach noch nicht hattest.

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    2. Hey,
      naja, das haben mir Therapeuten auch immer versucht klar zu machen. Ich habe damals so gut gehandelt, wie ich konnte. Heute würde ich das ganz anders machen. Aber heute bin ich eben auch knapp dreieinhalb Jahre älter und habe mehr fachliche Erfahrung. Wahrscheinlich würde ich in noch einem Jahr nochmal ganz anders handeln. Und gleichzeitig wird natürlich auf ewig die Frage bleiben - wäre ich damals schon so kompetent gewesen - hätte es ihn gerettet? Ich finde in mancher Hinsicht wird dieses "man hat so gut gehandelt, wie man konnte" wenn es um so dramatische Konsequenzen geht, irgendwie ein bisschen lahm.

      Aber weil Du es ansprichst - als meine erste Basilaristhrombose verstorben ist, habe ich mir auch viele Vorwürfe gemacht. Da haben alle Oberärzte - allerdings eher, weil sie doch Angst hatten verklagt zu werden - alles mit mir nochmal auseinander genommen, haben genau geschaut, wann welche Bildgebung gelaufen ist, wie schnell welche Entscheidung getroffen wurde. Ich hatte lange daran zu knacken, denke auch heute noch manchmal drüber nach und habe dann irgendwann beschlossen, der fachlichen Meinung der Oberärzte und Chefs zu vertrauen, dass da nichts mehr zu machen war, dass ich alles versucht habe und es eben nicht ging.
      So einen fachlichen Austausch hat es nach dem Tod des Freundes nie gegeben. Das war irgendwie immer so emotional gefärbt. Viele hatten eine Meinung, aber die war eher privater Natur und hatte wenig mit der Sache an sich zu tun.

      Mondkind

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