Von einem Wochenende

Es gibt Zeiten, die schmeißen mich direkt in den Moment.
In denen gibt es nur mich und ihn und nichts um uns herum.
Keine Vergangenheit, keine Zukunft, nur das Jetzt.
Wie eine kleine Blase um uns herum, die uns abschirmt von Vergangenheit und Zukunft.
Zeiten, in denen ich mal kurz vergesse, was war. Und vielleicht werden wird.

 
 
Samstag.
Der Kardiochirurg und ich haben ein einziges freies Wochenende in diesem Monat.
Er hatte aber noch Rufdienst von Freitag auf Samstag. Natürlich passiert genau das, von dem zumindest ich gehofft habe, dass es nicht passiert. Er muss um halb Vier in der Früh ins Krankenhaus und bleibt dort bis morgens um acht Uhr. Und natürlich – dann muss er noch schlafen, Wohnung putzen und Einkaufen.
Ich bin gegen 14 Uhr fertig mit meinem Haushaltskram und setze mich an meine Psychosomatik – Bücher. Tatsächlich werde ich mittlerweile was die Warterei anbelangt, entspannter. Ich weiß, ich sollte mich sowieso mit lesen beeilen und so lange, wie es bei ihm dauert, dauert es halt.
Ein bisschen nervös werde ich am späteren Abend dann doch, aber irgendwann vermeldet er, dass ich gegen 21 Uhr da sein könnte. Ich überlege. Wenn wir uns 21 Uhr erst sehen – wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich heute Nacht noch nach Hause fahre? Habe ich dazu nach Mitternacht noch große Lust? Ich beschließe, nicht nur eine Zahnbürste, sondern auch ein paar Wechselklamotten einzupacken.
Wir starten den Abend mit Kochen und schauen dann mit dem Teller auf dem Schoß im Bett sitzend einen Film. Ich stelle fest – daran könnte ich mich schon gewöhnen, wenn der Film halbwegs etwas taugt. Und danach kuscheln wir uns einfach aneinander. Und hier verschwindet irgendwann das Zeitgefühl. Und das Außen. Gerade ist die Welt diese Wohnung. Und alles, was sich außerhalb abspielt, existiert nicht.
 
Irgendwann – es ist bestimmt schon drei Uhr in der Nacht – löscht er das Licht.
Wie schön ist es zu wissen, dass wir jetzt gerade nebeneinander einschlafen und morgen früh nebeneinander aufwachen werden. Ich glaube, obwohl ich das so sehr mag, muss ich mich schon nach daran gewöhnen, neben einem Menschen einzuschlafen. Normalerweise dauert es, bis ich halbwegs gemütlich liege und meine Gliedmaßen sortiert habe – manchmal komme ich mir vor wie ein Tausendfüßler, der alle seine Füßchen sortieren muss. Aber als das gemacht ist, schlafen wir bis fast neun Uhr.
 
Sonntag
Mondkind ist ja erst nach einem Kaffee so richtig zu gebrauchen und das hat der Herr irgendwie schnell gelernt. Ich hoffe, ich war nicht zu mürrisch irgendwann mal.
Es dauert trotz allem bis Mittag, bis wir aus dem Tee kommen und nach dem Frühstück startbereit sind. Der Plan ist heute, in einen nahe gelegenen Tierpark zu fahren. Und tatsächlich ist das sehr schön, Hand in Hand dort durch zu laufen, den Tieren zuzusehen, sie zu streicheln, ein paar zu füttern, über Haustierpläne zu sinnieren und einfach nur den Sonntag zu genießen. Es ist schon recht früh dunkel und darüber hinaus ziemlich kalt – sodass wir schon am späten Nachmittag wieder am Auto sind. Wir beschließen, dass wir noch in eine Pizzeria fahren, die ein Kollege mal empfohlen hatte und – da hat er nicht zu viel versprochen, die war wirklich gut. Ich bin immer ein bisschen unsicher, wenn ich etwas vorschlage, das ich selbst nicht kenne, aber in dem Fall hat es sich gelohnt.
Auf dem Rückweg durch die Stadt reden wir nochmal über das Thema Urlaub. Der Plan wäre schon, dass wir dieses Jahr noch ein paar Tage verreisen. „Du kannst Dir ja mal eine Stadt überlegen, die Du schon immer gern sehen wolltest und dann fahren wir dahin“, sagt er. „Wien“, entgegne ich sofort. „Aber für drei Tage ist das sicher viel zu weit“, füge ich hinzu. „Naja, es geht schon“, sagt er. „Und die Frage ist auch, ob das so viel Sinn macht, sich im Dezember eine Stadt anzuschauen. Wir werden doch sehr frieren. Vielleicht sollen wir einen kleine Wellness – Urlaub machen“, gebe ich zu bedenken. „Können wir auch machen“, sagt er.
Als wir wieder zu Hause sind, reden wir noch über die Urlaubs – Planung des Dezember. Und da kommt mir in den Sinn, dass diese Bubble, in der ich hier gerade bin, nicht bleiben kann. Ich muss immer noch die Mutter des verstorbenen Freundes besuchen. Vielleicht auch nochmal in die Studienstadt.
(Allerdings hat sich am Montag heraus gestellt, dass die nächste Frage ist, ob ich den Urlaub so bekomme, wie ich ihn möchte. Zwar habe ich meinen in die Lücken rein geplant, immerhin kam ich mit als Letztes, aber die andere Kollegin hat sich einfach mal Weihnachten eingetragen, was natürlich nicht geht und muss jetzt woanders hin. Es gibt dieses Jahr noch insgesmt 15 freie Tage und fünf davon sind nächste Woche. Irgendwer muss da Urlaub nehmen. Gestern habe ich das Dilemma dem Kardiochirurgen erklärt und er hat schon bemerkt, dass ich mich immer für die anderen verantwortlich fühle. "Mondkind, mach es doch mal wie die Chirurgen. Im Zweifel einfach mal nichts machen. Du hast Dich doch in die Lücken rein geplant, das ist doch nicht Dein Problem jetzt. Lehn Dich in der Besprechung morgen mal zurück und sag nur etwas, wenn man Dich anspricht und es unumgänglich ist, eine Antwort zu geben." Okay, ich gebe mir mal Mühe später...)
 
Den ganzen Sonntag hat das Thema um den verstorbenen Freund mal keine Rolle gespielt und das hat mir wirklich sehr gut getan. Einfach im Moment bleiben, glücklich darüber sein, dass es die noch oder wieder gibt.
Ich glaube, das Wochenende hat dem Kardiochirurgen und mir richtig gut getan. Gemeinsame Zeit schafft so viel Verbindung, ein bisschen Vertrauen in den anderen und wir sind noch in einer Phase, in der wir das so sehr brauchen. 


Montag
Da liegt dieser Zettel auf meinem Schreibtisch.
Ob ich jetzt bei Supervisoren mit dem Thema richtig aufgehoben bin, das weiß ich nicht.
Und ich spür langsam so eine Müdigkeit. Wieder mit fremden Menschen über das Ereignis reden zu müssen, das so Vieles geändert hat. Es war schon vorher Einiges schief gelaufen. Nicht unbedingt zwischen uns beiden, aber so an sich. Aber wir waren auf der Zielgeraden. Nach so vielen Jahren.
Solange wir uns haben, schaffen wir alles. Das schien so sicher, wie das Amen in der Kirche.
Wird es das nochmal geben? Wird sich das irgendwann nochmal sicher anfühlen? Werde ich nochmal zur Ruhe kommen und denken „es ist alles gut“, oder werde ich immer auf die nächste Katastrophe warten?
Das Leben ist ein permanentes Pendeln. Zwischen den guten Momenten. Und denen, in denen „Part of me“ von Cian Ducrot auf Dauerschleife läuft und in denen ich irgendwo in der Dunkelheit liege und kaum noch weiß, wie ich atmen soll. Und wenn es so ist, dann brauche ich das gerade. Und manchmal glaube ich in diesen Momenten geht es nicht nur um diesen anderen Menschen, sondern auch darum, dass ich einen Teil von mir selbst verloren habe. Ich weiß nicht, ob ich die Jahre davor geschafft hätte, ohne dieses unerschütterliche Grundvertrauen, das trotz der darüber liegenden Zweifel da war.

Übrigens war der Vortrag am Freitag recht interessant. Klar, ich weiß schon Vieles, deshalb ist das Meiste auch nicht neu, aber zwei Impulse habe ich mitgenommen. Es ging um das Thema Vergebung und dass der Schlüssel zu einem inneren Frieden ist, ihm zu vergeben, das habe ich ja schon gelernt. Aber es wurde gesagt, dass man auch lernen muss, sich selbst zu vergeben. Und ich glaube, das ist sogar noch schwerer. Ich weiß nicht, ob ich das kann.
Und dann wurde auch nochmal daran erinnert, dass es eigentlich nicht möglich ist, über die Menschen, die freiwillig die Welt verlassen haben, zu urteilen. Wir können nicht sagen: „Die Entscheidung war falsch.“ Weil wir es nicht wissen. Jemand, der nicht an dem Punkt war, an dem dieser andere Mensch war, der kann einfach nicht wissen, wie das ist. Wie es sich angefühlt hat. Wie groß Verzweiflung sein kann. Niemand von uns weiß mit Sicherheit, wie er sich in dieser Situation entschieden hätte, hätte er sie fühlen müssen.

Mondkind

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