Von einem baldigen Abschied und einem langen Gespräch

Montag
„Ich finde es schade, dass Sie gehen“, sage ich.     
„Das glaube ich Ihnen“, sagt er und macht eine längere Pause. „Mein erster Chef hat mir gesagt, dass man immer gut abwägen muss zwischen Job und Privatleben. Verpasste Familienmomente kann man nicht nachholen; in den Job kann man immer irgendwie wieder einsteigen. Ich habe mir die Entscheidung auch nicht leicht gemacht, ich finde das ist hier wirklich gerade ein gutes Team und mir macht es auch Spaß, aber ich muss jetzt wirklich für meine Familie da sein.“          
Ich nicke.                
Und dann fängt er an, ein bisschen aus dem Nähkästchen zu plaudern. Über seine Familie. Über seine Beweggründe. Und irgendwann bemerke ich, wie etwas in mir kurz zusammenzuckt. Unsere Blicke treffen sich. „Deshalb haben Sie mich letztens gefragt, was es für Möglichkeiten bei Schwierigkeiten mit Abgrenzung gibt. Weil Sie da ein Thema haben.“          

Unser neuer, bald schon alter Oberarzt.                   
Am Morgen in der Besprechung hat er uns erstmal erklärt, dass er gekündigt hat und Ende des Monats geht. In der Folge haben die Neuen unter uns heute direkt erstmal einen Termin bei der Chefin bekommen. „Sie möchte nicht, dass Ihr auch geht – das könnte vielleicht ansteckend sein“, wird der Oberarzt dazu später sagen.                
Am Nachmittag habe ich noch eine anorektische Patientin, deren Laborergebnisse etwas besorgniserregend sind und eigentlich überhaupt nicht passend zu einer Anorexie. „Anorexie ist eine Sucht. Das sind Suchtpatienten. Und oft sind da auch andere Süchte im Spiel. Reden Sie mal mit ihr, ob sie nicht noch irgendetwas anderes nimmt und drohen Sie ihr indirekt mal mit einem Therapieabbruch. Sagen Sie, wenn das nicht besser wird, muss man sie zur Abklärung erstmal in die Innere legen.“ „Naja, aber vielleicht will sie das ja auch bezwecken“, gebe ich zu bedenken. „Viel Eigenmotivation hat sie nicht; Ihr Mann hat sie geschickt und vielleicht wäre sie über eine Pause von der Therapie nicht böse.“ „Dann drohen Sie ihr an, dass wir sie auf unsere Intensivstation verlegen.“ Ich nicke. „Und dann können Sie gern nochmal zu mir kommen“, sagt er.     

„Jetzt bin ich gespannt“, begrüßt er mich eine Stunde später, als ich im Büro stehe. „Was hat sie gesagt?“           
Und wenig später, als wir über sein Gehen reden, begegnen sich unsere Blicke. Und ich fühle mich super doll ertappt.      
Ich frage mich, warum er mir gerade die Dinge erzählt hat, die er erzählt hat.     
„Ja, ich hab da ein Thema“, sage ich nach einiger Zeit der Stille. „Wollen Sie drüber reden?“, fragt er. „Ich weiß nicht, ob das hierher gehört“, gebe ich zu bedenken. „Wenn es Sie beschäftigt“, erwidert er. Und dann erzähle ich. Kurz. Achte bei jedem Satz darauf, wie er reagiert. Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück. „Dann ist das hier für Sie natürlich nicht so einfach“, sagt er. „Ich verstehe schon, dass das jetzt wieder aktuell wird. Sie hören viel drüber, Sie verstehen mehr.“   

Kleine Schnipsel.                  
„Ich habe Angst, dass er sehr wütend auf mich war, als er gestorben ist“, erkläre ich.     
„Natürlich war er wütend. Sie haben nicht so gehandelt, wie er das gewollt hat. Es ist aber super regressiv und passiv – aggressiv, was er da mit Ihnen abgezogen hat. Er hätte Ihnen auch sagen können, dass er das nicht schafft und Hilfe braucht. Stattdessen hat er einfach nichts gesagt. Da macht es ja ein Baby noch besser. Wenn das Bedürfnisse hat, dann fängt es an zu schreien und dann muss die Mama sich Gedanken machen, was ihm fehlt. Aber er hat nicht mal geschrien. Er hat Sie erst angelogen, in dem er Ihnen gesagt hat, dass er das schon alles hinkriegt und dann hat er nichts mehr gesagt, obwohl Sie ihm genau erklärt haben, wie Sie für ihn erreichbar sind. Sie konnten nichts machen.“

„Die Verantwortung fängt nicht bei der Entwicklung von Suizidalität an, sondern viel früher. Er wusste im Gegensatz zu Ihnen, dass er depressiv war und ein Suchtproblem hatte, dass er seine Behandler angelogen hat. Und das wäre der Punkt gewesen, sich die Erkrankung einzugestehen und sich Hilfe zu holen. Das hat er nicht gemacht. Und das ist der Punkt, wo er seiner Verantwortung nicht nachgekommen ist.        
Am Ende gibt es die kognitive Einengung. Da war er sicher nicht mehr so geistig zurechnungsfähig. Aber das ist nicht der Punkt, über den wir reden. Die Verantwortung fängt früher an. Viel früher.“      

„Nein, jetzt fangen Sie gar nicht erst davon an, dass Sie sich schuldig fühlen, wenn Sie eine neue Beziehung führen. Er hat sich von Ihnen getrennt und nicht umgekehrt. Das was er gemacht hat, ist die brutalste Form eines Beziehungsabbruchs. Sie müssten doch wenigstens ein bisschen wütend sein.“

„Also ich weiß, das ist jetzt sehr gewagt, wenn ich das so sage, aber eigentlich hat er Ihnen auch ein Geschenk gemacht. Er war sehr eifersüchtig, er hat Sie sehr vereinnahmt (er zieht scharf die Luft durch seine Zähne, als ich erkläre, dass ich öfter gehört habe, dass ich seine letzte Chance gewesen sei) und je autonomer Sie geworden wären, desto schlimmer wäre das geworden. Dann gab es noch die Depressionen, über die er nicht geredet hat und die Suchtproblematik, die er jahrelang vor Ihnen verborgen hat – stellen Sie sich mal vor, Sie hätten geheiratet und Kinder bekommen – in welchem Dilemma das geendet hätte. Ich vermute, dann wären Sie jetzt hier nicht in Ihrer Facharztweiterbildung, sondern als Patientin. Sie können nochmal von vorne anfangen mit einem Partner, mit dem das Sinn hat.“       
„Ehrlich gesagt habe ich mir das auch schon ab und an überlegt. Und das heißt nicht, dass ich mich deswegen von ihm getrennt hätte. Ich hätte das mit ihm gemacht. Solange wie es irgendwie möglich gewesen wäre. Und gleichzeitig habe ich Angst in zehn Jahren mal dazustehen und wirklich zu denken, dass sich das am Ende bewahrheitet hat. Und irgendwie ist es auch so unfair, dass ich nochmal die Chance habe von vorne anzufangen und er nicht.“         
„Nein, es ist nicht unfair. Es ist unfair, was er mit Ihnen gemacht hat. Aber nochmal – er hat sich für diesen Weg entschieden. Lange bevor das eskaliert ist. Auch Nichtstun ist manchmal eine Entscheidung.“

„Wissen Sie, ich habe mir auch zwischendurch überlegt, ich schmeiß das mit der Psychosomatik alles einfach hin. Sie hatten damals keine Erfahrung, waren ein halbes Jahr in Ihrer Neurologie – Weiterbildung. Dass Sie da auch Dinge nicht gesehen haben, das ist verständlich und das kann Ihnen keiner vorwerfen. Ich hatte den fachlichen Hintergrund. Und einen Supervisor in der Zeit, mit dem ich das auch besprochen habe.“       

„Wie viel älter als Sie war er eigentlich?“                  
„Naja so 15 Jahre…“           
„Puh… - wie ist die Beziehung zu Ihren Eltern?“     
„Sehr distanziert. Wir haben kaum Kontakt. Ich sehe die auch ganz selten. Und das war auch schon sehr bewusst, hunderte Kilometer weit weg zu ziehen, sobald ich konnte.“          
„Was auch mal zu hinterfragen wäre ist, ob er für Sie nicht eher eine Art Vaterfigur war. Mich wundert das schon ein bisschen, dass Sie da nach so langer Zeit gerade mit Ihrer Schuld noch so intensiv drin hängen und sich eigentlich gar keinen neuen Partner erlauben können.“            
„Tatsächlich hatten wir darüber geredet, als er noch gelebt hat. Für mich war das damals nicht so. Es war schon so, dass mir ein Papa immer sehr gefehlt hat, aber in ihm habe ich ihn eigentlich nicht gesehen. Es gab Menschen im Lauf meines Lebens, die diese Funktion hatten; das ja. In meiner damaligen Wahrnehmung gehörte er allerdings nicht dazu.  Aber ich sehe heute auch, dass unsere Beziehung damals ganz anders lief, als das was ich mir heute von Beziehung wünsche und da habe ich auch schon drüber nachgedacht.“              
„Wie gesagt, das würde erklären, warum Sie da noch so dran hängen. Seine Eltern lässt man nie los, zu denen hat man immer eine emotionale Bindung.“               

„Also zusammengefasst, liebe Kollegin: Sie müssen das aufarbeiten. Das ist absolut alternativlos. Das ist eine so komplizierte und verstrickte Geschichte, auch mit Ihrem biographischen Hintergrund. Sie sind so jung, Sie haben noch so viel Leben vor sich, Sie brauchen das nicht, dass das jetzt immer wie Hundehaare an einer Decke an Ihnen hängt. Und letzten Endes sollte eine gute Therapie auch nichts anderes sein als das, was wir jetzt gemacht haben. Eigentlich müssen Sie das noch ganz oft erzählen und je öfter Sie das erzählen, desto mehr haben Sie die Chance, dass Menschen dazu Impulse und Ideen haben. Und darum geht es: Dass von ganz vielen verschiedenen Seiten zu beleuchten, dass Sie irgendwann eine Idee davon bekommen, wie Sie das verarbeiten können. Und dabei geht es – auch wenn Sie das scheinbar gerade in der Anfangszeit erlebt haben – nicht um Be- oder Verurteilung.“  

 

Ich bin irgendwie sehr bewegt an diesem Abend. Ich glaube, das ist eines der wenigen Male, in dem mich mein Gegenüber nicht als vollkommen gestörtes Wesen wahrgenommen hat. Nicht als Patientin, der man erstmal zeigen muss, dass sie eben wirklich Patientin ist. In dem Fall war ich Kollegin. Und ich habe selten ein Gespräch darüber mit so viel Wertschätzung erlebt, auch wenn es an manchen Stellen weh getan hat.        
Denn grundsätzlich bin ich eben nicht mehr dort, wo ich vor vielen Jahren mal angefangen habe. Als niemand in der Ambulanz wusste, ob ich je den Abschluss schaffen werden. Aber ich hab’s geschafft. Ich habe vier Jahre Neuro geschafft, ich habe Dienste geschafft, ich habe die Integration in ein ganz normales Jobleben geschafft, ich bin so viel mehr als das, was mir so oft nur zugetraut wurde. Ich glaube, dass meine Schwester und ich mit unseren Eltern einen erbitterten Autonomie – Kampf geführt haben und je weiter und länger ich dort weg war, desto mehr konnte ich mich auf den Weg machen, mich zu finden und desto besser wurde das und desto mehr konnte ich mich auch ein bisschen selbst rehabilitieren. Das ist noch nicht am Ende, das sehe ich auch. Auch, wenn ich gerade im Gesamten sehr zufrieden mit mir bin. Gerade mit dem Job; ich bin so sehr dabei die alte Mondkind zu finden und es macht mir so viel Freude, mir dabei zuzusehen – auch, wenn das natürlich erstmal nur temporär ist. (Obwohl ein Kollege schon gesagt hat, ich soll gleich den Urlaub für das ganze nächstes Jahr hier planen).             
Aber diese Geschichte mit dem Freund, die werde ich einfach nicht los. Und die damit verbundenen Schwierigkeiten. Und die Frage, ob das Schicksal die Mondkind’schen Freiheitsbestrebungen nicht bestrafen muss.              
Ehrlich gesagt, so eine Form von Therapie hätte ich mir immer gewünscht. In der die Dinge durchaus in den Raum geschmissen werden dürfen, ohne dass ich als Patientin den Eindruck bekomme, dass es da um ein Urteil geht. Man darf alles diskutieren. Aber mit Anstand. Ohne Vorurteile. Obwohl ich da mittlerweile glaube ich auch um Einiges offener geworden bin.
Und gleichzeitig darf man natürlich nicht vergessen, in welchem Zustand mich die Behandler in der Studienstadt wahrgenommen haben, weil die mich ja auch noch ganz anders kennen gelernt haben. Und ich denke aber, diese Sichtweise wird mir nicht mehr gerecht. 

Und was mir auch sehr hilft ist diese Wahrnehmung, dass ich damit nicht alleine bin. Dass Menschen, die in diesem Medizin - Wesen arbeiten auch betroffen sind. Dass wir manchmal die Menschen um uns herum nicht retten können, so sehr  wir uns auch bemühen. Ich bin nicht die Einzige, die hier versagt hat. Die es nicht gesehen hat. Ein Stück weit vielleicht auch nicht sehen wollte. Das passiert anderen, die super tolle Menschen sind, auch.
 
Der Kardiochirurg hat aktuell Urlaub und kommt am Abend noch vorbei. Nachdem wir das Essen in den Ofen geschoben haben, liegen wir zusammen auf dem Sofa. „Wie war Dein Tag?“, fragt er, nachdem er erzählt hat, was er gemacht hat. „Gut eigentlich“, entgegne ich und berichte, was ich erlebt habe. Und komme irgendwann beim Gespräch mit meinem Oberarzt an. „Was habt Ihr denn da besprochen?“, fragt er. „Naja, wir haben so ne Art private Beispiel - Therapiestunde eingelegt“, entgegne ich. „Willst Du davon erzählen?“, fragt er. „Ich muss das selbst erstmal ein bisschen noch für mich sortieren“, entgegne ich. „Aber unsortiert kann ich es Dir schon erzählen“, füge ich hinzu und beginne nach einem auffordernden Nicken seinerseits.
„Ach so, wenn ich Dir sage, dass Du nicht so viel Schuld hast, wie Du glaubst, dann zählt es nicht, aber wenn Dir ein Oberarzt das erzählt schon, oder wie?“, fragt er, nachdem ich fertig bin. „Naja, diese Schuldbetrachtung mit dem Oberarzt hat einen entscheidenden Unterschied deutlich gemacht. Es ist schon erstaunlich, dass sich diese Schuldfrage über drei Jahre lang immer nur auf die letzten Tage und Stunden seines Lebens bezogen hat. Der Oberarzt hat die Verantwortung aber sehr viel früher in seinem Leben verankert. Und da kann ich schon mitgehen und tatsächlich auch etwas von der Verantwortung an ihn abgeben, denke ich. Denn da hat der Oberarzt schon Recht. Von seiner Depression wussten wir beide. Aber ich wusste nichts von der Sucht. Und was hat er sich gedacht, wie das ewig weiter geht? Ehrlich gesagt nehme ich ihm das sogar auch ein bisschen übel, dass er mich erst eingeweiht hat, als ihm schon alles um die Ohren geflogen ist. Es wäre seine Verantwortung gewesen, diesbezüglich eine Therapie zu machen. Und es ist ja nicht „nur“ so, dass er das nicht gemacht hat. Kurz vorher wollte er ja noch die Ausbildung zum Ex – In machen und um das machen zu dürfen, müssen Dich Psychologen und Psychiater als stabil genug einschätzen und Du musst noch so einen Fragebogen ausfüllen. Das hat er alles gut geschafft und mich hat das auch sehr beruhigt, aber er wird das nicht mit einer Silbe erwähnt haben.“
 
Wir schweigen eine Weile.
„Heißt aber wahrscheinlich im Umkehrschluss, dass ich auch eine Verantwortung habe“, sage ich irgendwann. „Das kommt darauf an, wie lange Du unter dieser Geschichte leiden willst“, entgegnet er. „Du hast ja seine Einschätzung zum Thema Therapie gehört.“
„Wenn Du magst, können wir darüber nochmal reden, wenn Du es besser sortiert hast“, bietet er an.
Ich nicke. „Danke.“
„Ich merke doch, dass Du sehr beschäftigt bist. Du bist anhänglich wie ein Kätzchen heute.“
Und ich bin dankbar, dass er das einfach so nimmt heute.

Mondkind

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