44 Monate

Mein lieber Freund,
schon wieder ist ein Monat vergangen. Und ganz langsam kann sich der Frühling schon nicht mehr verstecken. Ich mag es, dass es morgens wieder heller ist, wenn ich mich auf den Weg zur Arbeit mache. Und, dass ich auf dem Weg die Vögel höre.
März wieder. Vor vier Jahren in diesem Monat fing das alles an. Das, was am Ende nicht mehr zu stoppen war. Keiner kam so schnell hinterher, wie es mit Dir bergab ging.
 
Der letzte Monat war nicht so einfach.
Ich habe viel gearbeitet. Weiterhin versucht die Psychosomatik, die Neurologie und die Beziehung unter einen Hut zu bekommen. Du musst Abstriche machen. Und Prioritäten setzen. Anders geht es nicht.
Zwischendurch ist mir unsere Geschichte nochmal um die Ohren geflogen. Ich hatte einen suizidalen Patienten in der Sprechstunde. Der die „Wasch – mich – aber – mach – mich – nicht – nass – Strategie“ verwendet hat. So wie du damals. „Mir geht es schlecht, aber wehe Du tust was.“ Ich weiß, dass alle anderen Kollegen es die Tage vorher mitgetragen hatten. Aber ich wollte es nicht mehr tun. Ich konnte das nicht. Deshalb habe ich ihn mit viel Theater auf unsere „Intensiv“ – Station gelegt. Das ist ja nicht mal schlimm. Nur engere Anbindung, mehr nicht. Wir sind immerhin immer noch eine Psychosomatik.
Und danach gab es aber für mich keinen Ort, an dem ich mit dieser Erfahrung bleiben konnte. Es gab so viele Situationen in den letzten Monaten, die mich an uns erinnert hat, aber diese nochmal besonders. Ich habe mir dann die Freiheit raus genommen und nochmal unserem alten Oberarzt geschrieben. Gesagt, dass ich weiß, dass es super unhöflich ist, ihn einfach so zu überfallen, aber dass ich einfach ein Ohr brauche und gerade nicht weiß, wo ich bleiben kann damit. Er war auch super lieb, hat innerhalb von einer halben Stunde zurück geschrieben, dass es okay ist, dass er es gelesen hat und sich melden wird. Hat er dann auch gemacht und es ließ sich gut klären. Menschen, die wissen wie man auffängt, statt immer wieder drauf zu hauen, sind wahrscheinlich ein ganzes Universum wert.
 
Mich hat das irgendwie nachhaltig beschäftigt. Ich glaube, seitdem ich in der Psychosomatik bin, klammere ich nicht mehr so sehr, falls das irgendwie Sinn hat. Ich bin echt dankbar für alle Ideen und Impulse, die ich bekomme. Aber ich kann die mehr für mich bewerten und nutzen. Es ist nicht mehr alles Beziehungsarbeit. Ich habe so oft diese therapeutischen Beziehungen genutzt, um irgendwo zwischenmenschlich bleiben zu dürfen. Um den Inhalt ging es da gar nicht so sehr. Hauptsache ich konnte sein. Und natürlich weiß ich, woher das kommt. Da muss man nicht weit schauen in meiner Biographie. Heute kann ich solche Begegnungen aber viel mehr als punktuelle Hilfestellungen verstehen, nach denen ich gut alleine weitergehen kann – auch, wenn der Impuls, sich in solche Menschen hineinzulehnen, natürlich immer noch da ist.
 
Obwohl ich zugeben muss, ein bisschen überfordert zu sein.
Die Psychosomatik bringt Dir eben auch viel über Dich selbst bei. Ich meine klar – die Zusammenhänge habe ich nach zehn Jahren in diesem therapeutischen Settings begriffen. Von biographischer Seite her. Aber ich glaube – nachdem es jetzt fast ein halbes Jahr ständig um das Fühlen geht – fühle ich auch viel reflektierter. Und über dieses Fühlen bekomme ich glaube ich einen Standpunkt in mir, den ich mich selbst aber noch nicht so traue, zu vertreten. Und gerade mit meiner Biographie, in der Vieles fremdbestimmt war, macht das echt viel Stress. Weil ich so gern einen anderen Weg gehen würde und aber auch weiß, dass es keinen Sinn macht, jetzt eine 180 Grad – Wende einzulegen und alle Zelte abzubrechen.
 
Übrigens war ich auch wieder in der AGUS – Gruppe im letzten Monat. Das nächste Treffen ist schon nächste Woche. Im Moment ist so super viel los mit Diensten, Fortbildungen und Co, dass ich noch nicht weiß, ob ich hingehen kann, aber mal schauen.
Mir ist aber auch aufgefallen, dass ich Deine Geschichte mittlerweile anders erzählen muss, als in der letzten AGUS – Gruppe. Ich habe halt mittlerweile viel erfahren über Dich. Und das tut manchmal echt weh.
Auch eigenartig weh getan hat übrigens eine Fortbildung über Depressionen kürzlich. Das war so ein super erfahrener Therapeut, sicher kurz vor der Rente mit schon teilweise dezent verstaubten Ansichten, aber ich höre solchen erfahrenen Leuten gern zu. Und er hat so klare Ansichten über Suizidalität, Angehörige und Schuld vertreten, dass es mich schon doll berührt hat. Er hat erklärt, man solle von Anfang an enge Angehörige in die Therapie mit einbinden bei so schwer kranken Patienten, bei denen Suizidalität absehbar ein Thema ist. Und denen von Anfang an einimpfen, dass – wenn es dazu kommt – das in keinem Fall die Schuld der Angehörigen ist. Dass die das schon gehört haben. „Wenn sich Jemand das Leben nehmen will, dann schafft er das. Wo immer er auch ist; auch auf jeder geschlossenen Station. Aber Sie müssen schon vorher die Angehörigen mit im Boot haben. Die vergessen das nie. Die werden sich ihr ganzes Leben lang schuldig fühlen und deshalb ist das wichtig, die von Anfang an mitzubetreuen.“ Ich hätte wirklich fast geweint. Ich habe das noch nie gehört, dass sich da Jemand so intensive Gedanken um die Menschen macht, die dann bleiben. Das hatte einen ganz seltsamen Moment davon, gesehen zu werden in diesem Unsichtbaren. (Natürlich weiß auf der Arbeit niemand Bescheid aktuell). Und dann hat er auch erzählt, dass er mal eine Patientin hatte, die eine ganze Zeit lang nur wegen ihres Partners am Leben geblieben ist, bis sie sich wieder stabilisiert hatte und selbst wieder Gutes sehen konnte. Und da habe ich mir gewünscht, das wäre bei uns auch möglich gewesen. 

Der Ort, an dem wir die besten und schrecklichsten Zeiten geteilt haben...


Nächsten Monat werde ich mal wieder bei der Frau des Oberarztes vorbei gehen. Du weißt ja – ich halte sie nicht für super kompetent, aber ich glaube, ich brauche es mal meinen Kopf begleitet zu sortieren. Ich war schon sehr erschöpft die letzten Wochen und ich glaube, dass das nicht nur der vielen Arbeit geschuldet ist, sondern eben auch der Tatsache, dass gerade viel in meinem Kopf ist, das danach schreit, gesehen zu werden.
Ich glaube, ich muss mir immer mal wieder bewusst machen, wie dankbar ich für die Zeit hier gerade bin und dass ich das erleben darf. Es gab Zeiten, da hätte ich nicht gedacht, dass ich da noch ankomme. Dass ich jetzt wirklich im Bereich der Psychologie arbeiten darf, dass ich mir super spannende Vorträge anhören darf und das auch noch als Fortbildung zählt und, dass ich gern auf die Arbeit gehe. Meistens zumindest.
 
Ich denk oft an Dich im Moment.
Überlege, wie es uns beiden wohl gehen würde, jetzt in dieser Lebenssituation.
Ob es ein Gefühl von „endlich angekommen“ geworden wäre. Ich endlich in der Psychosomatik, Du vielleicht als Ex – in. Alles, was wir irgendwie immer gewollt haben und an dem wir so emsig gebastelt haben.
 
Ich hoffe, Dir geht es gut da oben. Halt die Ohren steif.
Ganz viel Liebe
Mondkind


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