Über Bindungen

Mittwochabend.
Es ist schon bald halb 9, als der Kardiochirurg schreibt. Er ist beim letzten Brief und würde dann noch zum Essen vorbei kommen.
Ich trenne mich von meinem Neuro – Buch, in dem ich gerade die kindlichen Epilepsien lese (keine Ahnung, ob so etwas relevant für die Facharztprüfung ist) und starte mit den Essensvorbereitungen. Heute gibt es vegetarisches Hühnerfrikassee – da kommen einfach zerrupfte Kräuterseitlinge rein und ich finde, das schmeckt schon ziemlich gut.
 
Kurz nach neun Uhr kreuzt der Kardiochirurg auf.
Die Anspannung der letzten Tage ist schon deutlich zu merken. „Wir sind schlecht besetzt, es hat etwas länger gedauert heute“, murmelt er vor sich hin. „Das ist ja irgendwie der Normalzustand“, entgegne ich. 

Nach dem Essen legen wir uns kurz aufs Sofa.
„Wie fühlst Du Dich?“, fragt er.
„Das ist normalerweise meine Frage?“, entgegne ich.
„`Tschuldigung“.
Ich seufze.
„Ich glaube, ich brauche mal irgendeine neutrale Person, mit der ich das mit uns besprechen kann. Ich weiß einfach langsam nicht mehr, was hier los ist.“
„Und wenn Du es mit mir versuchst zu besprechen?“
„Hat ja bisher super funktioniert…“, entgegne ich.
„Versuch es nochmal…“
 
„Ich hab mir ne Menge Gedanken über Bindungen gemacht. Ausgehend von einem Gespräch in der Klinik letztens. Da ging es um den Unterschied zwischen Bindungsfähigkeit und Bindungsbedürfnis. Und ehrlich gesagt: Ich habe ja nun auch nicht die allerbesten Bindungserfahrungen gemacht. Die Eltern haben sich getrennt, als meine Schwester und ich noch Kinder waren – ab dem Zeitpunkt war der Papa von heute auf morgen quasi nicht mehr verfügbar. Es gab dann auch erstmal eine lange Zeit Besuchsverbot und danach war irgendwie alles anders. Das ist etwas verloren gegangen. Und mit der Mama, was war immer schon ganz schwierig. Wir hatten nie eine gute Bindung, es ging nie um Emotionalität. Das kann sie einfach nicht so gut. Funktionelle Bindungen kann sie, aber mehr nicht. Verwandte gab es auch nicht Viele, der Freundeskreis war auch nicht groß – da gab es nicht viel.
Dieses Vater – Thema kam schon früh; in der Schule gab es einen Lehrer, der ein bisschen „Ersatz – Papi“ war. Ich habe mir schon immer wieder meine Leute zusammen gesucht, aber ich war eben nie Teil von deren Leben. Da hat immer etwas gefehlt und man musste die Leute eben auch immer wieder gehen lassen. Teilweise wurde dieses Verhalten ziemlich belächelt, aber eigentlich steckte eine Menge Verlusterfahrung dahinter.
Und dann war ich irgendwann endlich aus diesem destruktiven Elternhaus raus und dann kam der verstorbene Freund in mein Leben. Ich habe immer gesagt „an seiner Seite bin ich groß geworden“ und das ist sicher auch heute noch wahr, aber diese Beziehung hat in der allergrößten Katastrophe geendet, die man sich vorstellen kann. Das hat viel von dem, was vorher gut und sicher war, doch wieder geschmälert. Und natürlich die Frage nach eigener Beziehungsfähigkeit zurück gelassen.
Und jetzt habe ich irgendwie den Eindruck, da ist nach all den Jahren so ein hohes Bindungsbedürfnis, aber so wenig Sicherheit von mir aus, gute Bindungen eingehen und führen zu können. Zum Einen habe ich den Eindruck, ich brauche die ständige Versicherung vom Gegenüber noch weiterhin da zu sein, zum Anderen bündelt sich all dieses Fehlen jetzt gerade in dieser Beziehung. Und das kann jetzt nicht alles ein einzelner Mensch ausgleichen, was vorher nie da war, das ist unfair. Und trotzdem habe ich den Eindruck, da ist so ein riesiges Loch in mir, in dem alles, was mit Bindung zu tun hat erstmal verschwindet, weil das so tief ist und gleichzeitg fühlt sich das – eben weil wir uns ja auch nicht so oft sehen – ständig an wie auf Entzug. Ich glaube schon, dass ich da manchmal auch ein bisschen unfair werde, wenn ich mich wieder aufrege, dass wir uns nicht sehen können, aber es geht mir dann wirklich meistens ziemlich schlecht in den Situationen.“
Ich mache eine Pause.
„Und irgendwie weiß ich nicht, was ich damit jetzt soll.“
 
Er nimmt mich erstmal fest in den Arm und dann liegen wir da.
„Ich glaube, wir müssen am Wochenende mal lange miteinander sprechen“, sagt er irgendwann.
Ob das wohl passieren wird…?


Was aber sonst noch so passierte…?
Die Chefin von der Psychosomatik möchte mich sprechen nächste Woche. Ich weiß nicht, was sie möchte – ob ich irgendetwas ausgefressen habe, von dem ich noch nichts weiß. Oder, ob sie mich wegen meiner beruflichen Zukunft ausfragen möchte, von der ich mir noch unsicher bin. Vielleicht hält sie mich auch für ungeeignet… ?
Dann möchte ich den Chef von der Neuro sprechen wegen den Unterschriften für das Logbuch, wegen des auslaufenden Vertrags und wegen der Teilzeitidee vor dem Facharzt. Er kann aber erst nach Ostern.
Ich habe mit meinem alten Versicherungsmakler telefoniert, dass alle meine Versicherungen wieder zu ihm wackeln – von ihm habe ich mich wesentlich besser betreut gefühlt.
Ansonsten brauchte die Mähne eine Kürzung, die Zähne eine professionelle Reinigung und ich habe mich nochmal mit einer erfahrenen Kollegin über das Thema Selbsterfahrung ausgetauscht – sie hat noch ein paar Kontakte und „fühlt mal vor“ für mich, wie sie sagte. Mal sehen. Ich glaube, das wäre schon vor dem Hintergrund von allem was gerade passiert sehr gut, nochmal in professionellen Händen zu landen. Die sind wohl beide recht erfahren und das ist glaube ich auch echt das, was ich jetzt mal langsam brauche.

Man sieht – es wird nicht langweilig bei Mondkind. Jetzt bin ich erstmal gespannt, wie das Wochenende wird. Der Kardiochirurg hat noch Dienst von heute auf morgen und dann haben wir den Rest des Wochenendes hoffentlich gemeinsam.

Mondkind

Bildquelle: Pixabay

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