Reisetagebuch #4 Atmen

Eigentlich kann man das nicht mehr Reisetagebuch nennen, weil der Urlaub schon vorbei ist. Ich bin seit ein paar Tagen wieder hier und seit heute auch wieder im Job. Ruhe um alles zu verarbeiten ist allerdings erst seit gestern Mittag, davor war meine Schwester noch hier.

Ich hatte weder Zeit zum Bloggen, noch habe ich vernünftige Worte im Kopf, aber ich dachte, ich lasse Euch trotzdem mal ein Update da. Obwohl der Freund schon ein paar Briefe bekommen hat zwischendurch.

Im Galopp durch die Stadt. Vorbei an allen möglichen Orten, die Erinnerungen tragen. Und selbst die Erinnerungen von Orten an denen ich nicht war, werden wach. Das erste Zusammentreffen zwischen dem Freund und mir. Ich weiß noch genau; ich habe die schwarz – weiß karierte Bluse und eine beige Strickjacke darüber getragen. Immer wieder habe ich ihn gebeten von diesem ersten Treffen zu erzählen, weil ich bis heute nicht weiß, was er an dieser Situation, in der ich zerbrechlicher nicht hätte sein können, attraktiv gefunden hat. In Zeiten, in denen man nie wusste, was der Familie als nächstes einfällt, habe ich mich mit meinem Vater mal in Cafeteria getroffen und da meine Eltern nicht mal im Traum daran gedacht haben, dass ich wen wie den Freund an meiner Seite habe, konnte er in Sichtweite mit einem Kaffee scheinbar ganz in sich gekehrt sitzen und auf mich aufpassen. Ich war an dem Ort, an dem wir unser erstes Café – Date hatten. Ich habe mein Fahrrad gesehen, das immer noch an der Uni steht und das mittlerweile sehr verloren aussieht. Es spiegelt dieses fluchtartige Verlassen der Stadt in den Job wieder – das damals in erster Linie auch finanziell bedingt war. Ich hätte es keine zwei Wochen länger mehr geschafft, deshalb stand vier Tage nach Ende des Klinikaufenthaltes 2019 der Umzug an. Ja, der Freund und ich hätten gern noch Zeit füreinander gehabt außerhalb der Regeln des Klinikbetriebs, aber die hatten wir nicht mehr. Und sollten die auch nicht mehr geschenkt bekommen in der Zukunft. Ich war im Labor, habe meinen Lieblings – MTA getroffen mit dem es war, als sei ich nie weg gewesen. Ich habe meine alte und erste Therapeutin wieder gesehen, hatte nach einem Treffen mit der aktuellen Therapeutin zwei Tage später einen unmittelbaren Vergleich und vermisse das forsche und lösungsorientierte Vorgehen der alten Therapeutin sehr. Sie hat mir noch ein paar Tipps an die Hand gegeben, die ich in den nächsten Wochen versuchen kann umzusetzen und ein bisschen habe ich mich sogar schon getraut zu beginnen.

Und so schön, wie all die Erfahrungen und Erinnerungen dort auch waren, so viel Schmerz tragen sie auch in sich. Es gibt Erinnerungen, die hoffentlich immer zwischen den Hirnwindungen weiter leben werden. Es gab reale Zusammentreffen, die sich wohl auch nicht mehr beliebig oft wiederholen lassen. Es gibt die Frage, was ich jetzt mit meiner Doktorarbeit mache.
Es gibt viele Fragen über die Vergangenheit, die Diskrepanz zwischen einer Mondkind – Idee und der Mondkind – Realität und die Erkenntnis, dass die meisten Dinge die ich angefasst habe am Ende eben doch nicht richtig funktioniert haben, so gut wie sie sich zwischenzeitlich auch angefühlt haben.

Es gab viele Tränen auf dem Wintergarten in den letzten Tagen, unglaublich viel Erschöpfung, Traurigkeit, Sehnsucht und Vermissen, aber auch so viel Dankbarkeit den Personen gegenüber, die ich treffen durfte und die mich trotz allem was passiert ist in den anderthalb Jahren nicht vergessen und auch nicht so richtig fallen gelassen haben. Andererseits habe ich aber auch an die Menschen gedacht, die ich gern getroffen hätte und bei denen das nicht mehr möglich war. Die ich irgendwo in der Geschichte verloren habe.

 

Eine Stadt nicht weit weg von hier...

Mit dem Job gibt es indes schon wieder Theater. Gleich am ersten Tag wurde ich mit einem Dienstplan für November konfrontiert, der so einfach nicht funktioniert. Ich war nicht dabei, obwohl ich gefragt habe, wann der gemacht wird, damit ich entweder extra kommen kann oder zumindest wem meine Präferenzen mitteilen kann. Drei Dienste in fünf Tagen… ? Das sind mal so eben – wenn man pünktlich gehen würde – 60 Stunden in fünf Tagen. Ein Dienst, wo ich eigentlich nochmal Urlaub habe und den weg zu tauschen ist bei einer knappen Handvoll dienstfähiger Ärzte wo der Dienstplan fast ein filigranes Kunstwerk ist, damit es sich irgendwie ohne von vornherein sichtbare Überbelastung ausgeht, fast unmöglich. Morgen verteilen wir den Resturlaub… - viel Spaß dabei.

Und die Patienten konfrontieren einen am ersten Tag nach dem Urlaub natürlich auch wieder am Rand der Belastbarkeitsgrenze. „Sie sind meine letzte Hoffnung. Sie müssen mir helfen.“ Nach 10 Jahren chronischer Schmerzen werden wir in zwei Wochen wohl kaum eine signifikante Besserung erreichen. Ich laufe mit einem dicken Aktenordner, der so voll ist, dass schon die Zettel raus fallen ins Arztzimmer und versuche einen Überblick zu bekommen. Spät am Abend. Die Schwester steckt den Kopf zur Tür des Arztzimmers herein. „Die Patientin wollte nochmal ein ausführliches Arztgespräch. Sie sagt, sie hat noch nicht ausreichend erklärt, warum sie hier ist.“ Kopf --> Tischplatte. 

Und manchmal bleibt nur: Weiter atmen. Weiter kämpfen. Mit dem Schmerz leben, sich auf die Goldmomente konzentrieren. "Fishing for moments", wie früher. Nebenbei noch irgendwie funktionieren, die Stütze für die Patienten sein, die man selbst so dringend braucht. Und die Hoffnung nach Möglichkeit nicht verlieren, dass man vielleicht trotz all dem irgendwann mal lernt leben zu wollen. Weil das meine Biographie ist, weil das ich bin, weil sie mich zu dem Menschen gemacht hat, der ich heute bin und weil vielleicht irgendwann zwischen all der Asche nochmal etwas wachsen kann.

Mondkind

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