Reisetagebuch #2 Zurück an den Fluss

Es ist ganz früh morgens, als ich das erste Mal aufwache. Und nach einem Blick auf den Wecker schon die Tränen in den Augen spüre. Weine, bis ich erschöpft bin. Und nochmal kurz weiter schlafe, bis ich endgültig aufwache.

Mehr als zwei Jahre war ich nicht mehr hier.
Für einen Augenblick sehe ich mich selbst hier sitzen in diesem Raum, in den mich groß geworden bin. Träume vor der Heizung spinnen. Die Ferne soll die Lösung sein. Der Ausbruch aus den Strukturen, die zu eng waren. „Wichtig ist, dass Sie sich bis nach dem Studium nicht das Leben nehmen. Dann wird es besser, das verspreche ich Ihnen.“ Worte meines ersten Psychiaters vor langer Zeit.
Er wusste nicht was er sagen sollte, als wir uns letztes Jahr gesehen haben. Und ich wusste es auch nicht.
Was haben wir gemacht? Vielleicht war die Ferne für mich die Lösung. Den Freund hat es vielleicht das Leben gekostet. Habe ich genug an den Schmerz der anderen gedacht? Ich wusste nicht wie ernst es ist, als wir die letzten Gespräche darüber geführt haben, ob ich gehe oder nicht. Und kurz bevor er gestorben ist nochmal sinniert haben. Ob er wirklich zu mir kommt, oder ich zurück komme und wir es als Experiment abhaken. Dann arbeite ich vielleicht an der Uni oder so. Nachdem er gestorben ist, hat sich die Frage nie mehr gestellt. Wie kann ich zurückkommen, wenn er gestorben ist, weil ich nicht da war?

Einer meiner größten Wünsche dieses Jahr und gleichzeitig der Moment vor dem ich am meisten Angst hatte war es, den Fluss nochmal zu sehen solange es warm ist.
Wenig später. Glitzert das Wasser in der Sonne. Stehen wir noch hinter den Treppen und lassen den Blick streifen über das Flussufer. Menschenmassen an der Promenade. Die meisten ohne Maske. Die Cafes und Biergärten sind voll. Es ist fast wie früher, wenn nicht doch alles anders wäre. Irgendwo setze ich mich an das Wasser. Schaue über den Fluss. Mache ein Foto entlang des Ufers mit dem Fernsehturm. „Siehst Du, mit Corona ist es auch besser geworden. Wir können wieder reisen, wir können uns wieder sehen, das Leben scheint für den Moment sogar normal zu sein. Du Nase mit „es wird nicht mehr wie früher.“ Jetzt wird es nicht mehr wie früher.“ Ich wünschte so sehr, er könnte nochmal neben mir sitzen. Ich wünschte, wir könnten noch ein einziges Mal dort sitzen. Und wieder frage ich mich, ob er noch irgendetwas sieht.
Es ist seltsam. Dass die Welt sich weiter dreht. Als wäre nie etwas gewesen. Dass man selbst so ein unbedeutender Teil des Treibens ist.
Ich stehe neben einem Kumpel, mit dem ich meistens meinen „Sonntagsquatsch“ halte. Oder eben samstags. Je nach Dienst. Wir schauen über das Wasser. Und ich versuche mir für den Bruchteil einer Sekunde vorzustellen, wie es wäre wenn nicht der Kumpel, den ich damals noch gar nicht kannte, sondern der Freund neben mir stehen würde. Und fast – fast kann ich noch seine Hände auf meinen Schultern fühlen. 

Endlich habe ich es geschafft, diese Schritte an den Fluss zu gehen. Ich habe diesen Ort so sehr geliebt.

Und irgendwie hat ein Teil von mir immer noch nicht aufgehört die Augen nach ihm offen zu halten in dieser Stadt. Vielleicht war das doch nur ein ziemlich mieser Streich. Natürlich weiß ich, dass es nicht so ist. Aber diese Hoffnung stirbt vielleicht nie.
Ich hätte nie gedacht, dass diese Momente hier so bald nicht mehr wiederholbar sind, sondern nur noch Erinnerungen sein werden, die ich für immer in meinem Herzen hüten werde.

Und manchmal frage ich mich, ob ich damit je leben kann. Und leben will. Und wie ich langsam diesen Spagat noch schaffen soll. Aus dem Job, der Sehnsucht nach diesen alten Zeiten, bei denen man gut differenzieren muss was gut war und was nicht. Knapp 40 Kilometer entfernt liegt ein Ort, den ich gar nicht vermisse, der immer noch den Schatten der Heimatlosigkeit trägt und die kleine Mondkind in mir sehr verängstigt.
Ich möchte einfach Zeit haben mich nochmal mit der Zeit von Damals auseinander zu setzen. Es waren so schöne Worte, dass er einen Platz in meinem Leben finden muss, an dem er bleiben darf, aber an dem er mir doch auch den Raum für ein anderes Leben gibt.

Ich habe es früher sehr geliebt. Dieses Flussufer. Heute ist es ein Ort, der auch sehr traurig ist. Die Studienstadt war früher ein bisschen ein Synonym für eine lang erkämpfte Freiheit. Heute trägt es die Frage mit sich, ob ich in der Zeit etwas richtig gemacht habe. Ob das Ende dieser Zeit die Dinge nicht doch nachträglich entwertet.

Ich würde gerne den Grund verraten dürfen, warum ich hier bin. Die offizielle Version ist, „um meine Leute zu besuchen.“ Ich würde gern sagen dürfen, dass ich auf den Spuren des Freundes bin. Und dass es helfen würde, reden zu dürfen. Über einen Menschen, der in dieser Familie nicht akzeptiert worden wäre.
Die Nächte sind kurz. Nach dem Dienst bin ich immer noch nicht wieder im Lot. Weil dann all die Tränen kommen, die ich tagsüber gerade so im Augenwinkel festhalten kann. Ich bin unendlich müde. Und manchmal frage ich mich, wie viel Sinn das hat und wie lange ich das machen sollte. Wo das doch ein Spagat ist zwischen Privatleben und Job, der mir aktuell weder gelingt, noch würde ich das irgendwem raten, der mich fragen würde, was er tun soll. Und dann frage ich mich wieder, ob das ich das mit der Klinik machen soll. Aber man muss halt fragen: Was will ich dort? Wie soll ich den Freund loslassen, wenn ein Teil von mir ihn gar nicht gehen lassen will. Und werde ich das je wollen können? Aber muss man um jeden Preis arbeiten, bis man irgendwann zerfällt…? Und sich immer zwingen das zu schaffen, weil man als Patient schließlich glaubt, dass der Arzt schon weiß, was er macht. 

 

Mitten in der Stadt liefen uns die hier über den Weg. Früher habe ich sie immer auf der Wiese neben dem Studentenwohnheim gesehen und wurde morgens von ihnen geweckt

Erstmal bin ich froh, dass ich die Idee verfolgen kann alles was ich bemerke erstmal in mir zu speichern. Und das so genau erst am Dienstag bei der alten Therapeutin auszupacken. Aber irgendwie doch geordnet. Ohne zu viel Schmerz. Ich möchte nicht, dass sie sich fragt, was um Himmels Willen sie sich da angetan hat. Und doch sehne ich mich ein bisschen danach noch einmal spüren zu dürfen, wie die Last von meinen Schultern fällt. Vielleicht ein letztes Mal bei ihr.
Aber es werden noch viele Tränen fließen hier. Und ich bin für jede Unterstützung aktuell einfach unendlich dankbar.

Mondkind

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