Reisetagebuch #3 Labor und Therapie
Dienstag.
Es regnet heute Morgen. Und der Fahrticketautomat ist auch kaputt,
also gibt es ein paar Schwierigkeiten, ehe ich los komme.
Heute aus einer anderen Richtung. In Teilen der altbekannte Weg zur
Uni.
Ich springe in dem Stadtteil in dem der Freund und ich unser erstes Café
– Date hatten aus dem Regionalexpress, rase die Treppen runter und meine Augen
fallen sofort auf die orange Schrift auf schwarzem Hintergrund. Ich suche die
Bahn, die ich nehmen möchte. „Sofort“ steht dahinter. Ich rase weiter, bei
tiefgelb über die Ampel und hüpfe in die Straßenbahn. Vorbei an einer Straße,
in der ich mir vor langer Zeit mal eine
Wohnung angeschaut habe, vorbei am alten Arbeitsplatz von dem Freund, der am
Weg liegt und dann steige ich an den Uni – Kliniken aus.
Vorbei geht es an der neuen Chirurgie, wo ich einen Teil meines
Chirurgie – Tertials gemacht habe. Vor der Medizinerbibliothek stehen wieder
Fahrräder, meines ist auch noch da, auch wenn ihm mittlerweile alle Lampen
fehlen und das ehemals rote Schloss fast weiß aussieht. Ich streife mit der
Hand einmal über den nassen Sattel. „Tut mir leid alter Esel. War nicht so ganz
der Plan hier“, denke ich, ehe ich weiter gehe. Über den Parkplatz auf dem vor
ewigen Zeiten, als es noch mit mir gehörte, das Auto stand während wir an der
Uni waren. Und dann noch einmal über die Hauptstraße und in Richtung des neuen
weißen Gebäudes – dem Neubau der Anatomie.
Jetzt bin ich gespannt. Ich krame meine Schlüsselkarte heraus, halte
sie vor dieses Aktivierungsding und dann blinkt es zuerst blau und dann grün.
Als ich die Karte vor die Türklinke halte höre ich ein leises Klicken, es
leuchtet einmal kurz grün und dann springt sie auf. So, was wäre nie etwas
gewesen. In den anderthalb Jahren hat sie niemand gesperrt. Und jetzt registriert
sie nahtlos mein Kommen.
Ich biege nach links ab, entsperre die Labortür und sehe meinen
Lieblings – MTA auf seinem Platz. „Mondkind nimm die Maske ab, wir sind alle
geimpft“, sagt er, steht auf und nimmt mich erstmal in den Arm. Und obwohl ich
eigentlich nicht schon hier anfangen wollte merke ich, wie meine Augen nass
werden.
Es sieht noch so aus, wie ich es kenne. Hat sich kaum etwas geändert
in den anderthalb Jahren. „Bestellungen dauern immer noch Monate; Du hast
nichts verpasst“, sagt er. Wir reden darüber, was passiert ist in all der Zeit.
Und irgendwann reden wir über die Doktorarbeit. „Wie viel Zeit hast Du noch?“,
fragt er. „Bis Ende März“, entgegne ich. „Ich weiß gar nicht, ob es sich noch
ausgehen würde. Ich muss ja nicht nur meine Experimente zu Ende machen, ich
muss auch die ganzen Quellen nochmal lesen, das Ding schreiben, eine
Posterpräsentation halten, für die man erstmal eine entsprechende Veranstaltung
braucht und sicher fehlen mir noch Veranstaltungspunkte.“ „Frag mal den Professor,
was er so dazu sagt. Das haben wir Dir schon vor anderthalb Jahren gesagt, aber
es ist schon klar, dass das dann alles nichts geworden ist. Es wäre aber sehr,
sehr schade um diese Arbeit und all die Mühe, die Du da rein gesteckt hast.“
„Manchmal denke ich, vielleicht würde es mir gar nicht so schlecht tun, nochmal
ein paar Monate hier zu sein…“, gebe ich zu bedenken. „Das hat Dich schon alles
ordentlich aus der Bahn geworfen oder? Das ist man gar nicht von Dir gewohnt,
dass Du so lange nicht mehr vorbei schaust“, sagt er. „Ja, hat es…“, sage ich.
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Foto von Sonntag. Weil das Wetter am Dienstag zu schlecht für Fotos war... Park in der Stadt |
Zwei Stunden später schnappe ich meine Tasche und rase über das
Unigelände in Richtung Tagesklinik der Psychiatrie. Die Frau am Empfang schaut
mich an, als würde sie mich kennen, aber könnte mich absolut nicht einordnen.
Aber ich kann meine Krankenkassenkarte heute mal abgeben, also ist dieses
Gespräch sogar mal „legal“ und abrechenbar.
Wartezimmer. Ich spüre mein Herz rasen. Und gleichzeitig tatsächlich
ein Bisschen dieser lang ersehnten Ruhe. Und irgendwann höre ich das Klappern der
Schuhe von Frau Therapeutin. Das erkennt man immer, dass sie es ist. Und schon
da spüre ich die Tränen in meinen Augen. Sie läuft aus ihrem Büro und ich sehe
sie schon ein Mal ganz kurz um die Ecke flitzen – scheinbar erledigt sie noch
etwas. Und dann wird das Klackern der Schuhe wieder lauter, ich höre meinen
Namen und laufe ihr entgegen.
Augenblicklich fühle ich mich um mindestens zwei Jahre zurück
versetzt. Als ich noch in der Studienstadt gelebt habe, war sie seit Mitte 2015
meine Hauptbezugsperson. Und heute ist sie eine dieser ganz wenigen wertvollen
Menschen, die noch die Mondkind von vor der Katastrophe kennt. Die sogar
hauptsächlich die Mondkind von vor der Katastrophe kennt.
Meine Jacke hängt kaum über dem Stuhl, als sie mit der altbekannten Einstiegsfrage
los legt, die jahrelang immer dieselbe war: „Wie geht es Ihnen?“ „Es geht so“,
entgegne ich. „Ist komisch zurück in der Stadt zu sein.“
Ich rede darüber, dass die Zeit
zwischen dem Damals und dem Heute zusammen geschmolzen ist, dass ich so Vieles
von Damals irgendwie nochmal für Bruchteile von Sekunden gespürt habe. Ich
spüre die Blitzlichtmomente aus einer Zeit von der ich nicht glaubte, dass sie
so bald endet. Ich sehe den Freund und mich an jeder Ecke, habe das dringende
Bedürfnis die Mondkind von Damals zu schütteln und anzuschreien besser
aufzupassen. Ich kann mich erinnern, dass es mir bei meinem letzten Aufenthalt
in der Stadt sehr schlecht ging. Und irgendwie habe ich auch den Stillstand,
der seitdem entstanden ist nie mehr gespürt, als jetzt. Es ist, als wäre ich
ein bisschen aus der Zeit gefallen, was es unerträglich macht, dass die Zeit
sich vorwärts bewegt und ich mich nicht mitdrehe. Die Veränderungen zu denen
man mich gezwungen hat – hauptsächlich beruflicher Natur – haben schon
irgendwie geklappt, aber kein Zentimeter mehr. Es geht alles irgendwie, aber
irgendwie auch nicht.
Ich rede über das letzte Treffen zwischen der Therapeutin und mir vor anderthalb Jahren, darüber, dass sich da eine Katastrophe angebahnt hat, die ich nicht richtig sehen konnte. Ich überlege, was sich geändert hätte wäre ich Damals – wie es auch ein Plan gewesen war; zumindest vom Freund und mir – erstmal in der Studienstadt geblieben, weil ich auch keine Ahnung hatte, wie es in der Ferne weiter gehen soll. Ich bin mir irgendwie sicher, dass er dann nicht gestorben wäre.
Und dann spreche ich über die Studienstadt an sich. Nach diesem langen Autonomie – Kampf im Elternhaus bin ich dann Mitte 2017 endlich in die Studienstadt gezogen. Ich hatte meinen kleinen Traum davon, mit dem Fahrrad an die Uni fahren zu können – wie eine richtige Studentin. Ich habe endlich im Studentenwohnheim gewohnt, in dem halben Jahr zwischen der Entlassung nach dem ersten Klinikaufenthalt und Anfang 2018, wo ich wieder für das Examen lernen musste und die Tage wieder eng geworden sind, hatte ich eine gute Zeit. Der Freund und ich haben sich sehr regelmäßig getroffen, ich hatte ein Gefühl von Freiheit und den Glauben, dass es gut wird. Die Studienstadt ist für mich zwischendurch mal ein Symbol für Unabhängigkeit geworden. Und jetzt hängt auch darüber ein Schatten. Wir haben es nicht geschafft. Wir haben mehr verloren, als ich heute ertragen kann.
Sie betont, dass die guten Erinnerungen bleiben. Dass alle Spekulationen über Gründe und Umstände seines Todes Spekulationen bleiben mit dem bewussten oder unbewussten Hintergedanken, Ordnung in das Chaos zu bringen und diese Unerklärbarkeit der Ereignisse, die noch schwerwiegender ist, abzumildern.
Sie kommt darauf zu sprechen, dass ich mit dem Gedanken
hierhergekommen bin, ein bisschen etwas abzuschließen. „Das war jetzt das
falsche Wort“, sagt sie, als sie meine Augen sieht. In denen schon wieder
Tränen sind. „Ein bisschen, ja“, entgegne ich. „Es ist halt schwierig. Ich habe
das mal so schön geschrieben, dass er einen Platz in mir finden muss, an dem er
bleiben darf und das kann eben nicht mehr der Platz sein, an dem er war. Aber
sobald ich mir vorstelle, dass er sich da irgendwie verrückt oder auch nur
einen Zentimeter von mir weg rückt, dann kriege ich die Krise. Und auch wenn
das so unendlich viel Leid ist, ist es mir lieber als ihn weg rücken zu lassen.
Das ist auch nicht nur eine emotionale Frage, sondern am Ende auch wieder eine
Schuldfrage.“
„Es sagt niemand, dass Sie Ihr
Leben auf den Kopf stellen sollen“, erklärt sie. Aber um sich selbst zu
signalisieren, dass der Freund einen neuen Platz bekommen soll, fangen Sie mal
an, sich „unüberlegt“, zu bewegen. Das können ganz kleine Dinge sein. Irgendein
neues Ritual am Abend, ein neues Möbelstück. Einfach eine Bewegung irgendwo
hin. Bei Ihnen ist es aktuell so, dass vor anderthalb Jahren einfach alles
schockgeforen ist – und das ist auch normal so, das ist okay. Wir müssen nur
überlegen, wie wir Sie langsam daraus befreien.“ Ich weine schon wieder oder
immer noch, ich weiß es nicht.
Wir reden darüber, ob neben dem Job aktuell überhaupt noch Zeit bleibt, um mich mit dem Freund zu befassen. Und eigentlich… - nein. Ich arbeite, komme nach Hause und falle ins Bett und ich bin dann auch einfach sehr müde. Der Spagat zwischen Privatleben und Job ist aktuell kaum händelbar.
Manchmal liebe ich sie dafür, wie pragmatisch sie ist. „Sie überlegen
sich eine Sache, die Sie ändern wollen. Ob es ein Ritual ist oder etwas in der
Wohnung ist mir egal. Dann schauen Sie mal, ob Sie Stunden reduzieren können –
mit dem Arbeitspensum kommen Sie hinsichtlich des Freundes überhaupt nicht
weiter. Und dann überlegen Sie, ob Sie nicht etwas von Ihrer Hausarbeit
einstreichen oder auf die Woche umverteilen können, sodass sie mindestens einen
halben Samstag in der Woche frei haben. Das brauchen Sie wirklich. Und dann
machen Sie keine Ausflüge oder so etwas, dann chillen Sie sich mit einem Kaffee
und einem guten Buch aufs Sofa; die Zeit kommt dafür jetzt ohnehin.“
„Was macht eigentlich Ihre neue
Therapeutin mit Ihnen?“, fragt sie. „Sprechen Sie über so etwas…?“ „Naja… ich
rede halt und sie hört zu, aber sie sagt jetzt nicht so viel dazu.“ „Ach so ja,
sie ist Tiefenpsychologin hatten Sie mir gesagt“, entgegnet sie. „Hilft Ihnen
das?“, fragt sie. „Naja, jetzt die Pause war schon schlecht. Es ist halt
hauptsächlich ein Raum um einmal wöchentlich das Gedankenchaos abzulegen. Ich
denke ja sowieso zu viel“, sage ich. „Man verarbeitet es ja auch ein bisschen,
wenn man es immer wieder erzählt“, entgegnet Frau Therapeutin. „Ich glaube das
ist so unser beider Hoffnung, ja…“, antworte ich.
Anderthalb Stunden reden wir am Ende. In diesen Räumlichkeiten, die
mir so vertraut sind. Es ist fast wie früher. Nur, dass ich hinterher nicht ins
Studentenwohnheim radeln werde, sondern bald zurück in die Ferne und in den Job
muss.
„Wie machen wir es jetzt?“, fragt sie. „Wann fahren Sie?“ „Morgen“,
entgegne ich. „Das mit dem Telefonieren ist natürlich auf Dauer schwierig. Aber
Sie können mir trotzdem schreiben wenn etwas ist und dann müssen wir eben
sehen“, sagt sie. „Danke Ihnen. Ich müsste auch noch eine Menge Resturlaub
haben – keine Ahnung, wie der verteilt wird, vielleicht schaffe ich es auch,
nochmal hoch zu kommen.“ „Sagen Sie Bescheid, wenn Sie in der Gegend sind.“
(das würde sich mutmaßlich wirklich lohnen).
Ich bedanke mich. Für Ihre Zeit, die Mühe, das Engagement. „Ich fühle
mich manchmal ganz berührt. Das würden mutmaßlich die allerwenigsten Menschen
so machen. Und für mich war es wirklich sehr wichtig zu wissen, dass ich diesen
Termin heute habe. Das hat die Angst vor den Begegnungen hier etwas
abgemildert, weil ich immer wusste, dass wir das alles nochmal besprechen
können.“ „ Es ist schön, wenn es Ihnen geholfen hat. Und es ist mir egal was
die anderen machen; ich mache es mit Ihnen so.“
Die Bahnverbindung zurück klappt super. Ich weine nur auf dem kompletten Heimweg. Das passiert mir selten, dass ich mich so wenig im Griff habe. Aber es hört einfach nicht auf. Es ist okay so, wie es ist. Aber es tut einfach unglaublich weh. Und ich weiß nicht, wie ich je akzeptieren soll, dass es so wie es mal gedacht war, nicht mehr wird. Dass kein Mensch weiß, ob es überhaupt noch mal etwas wird mit mir und einem Menschen an meiner Seite der so nah ist, wie der Freund war.
Eigentlich wollte ich noch eine Bekannte aus der Klinik besuchen und ich mag sie wirklich gern, aber das schaffe ich nicht mehr. Aber ehrlich gesagt… - je nachdem wie der Resturlaub verteilt wird, könnte ich es mir wirklich vorstellen nochmal her zu kommen.
Donnerstag.
Frühs. Ich sitze mit meinem Laptop am Küchentisch. Neben mir ein Kaffee, vor mir brennt wieder die Kerze des Freundes. Ich glaube, das wird eine Weile dauern, diese Tour zu reflektieren und einzuordnen. Im Moment habe ich das Gefühl, dass diese ganzen Erfahrungen jetzt noch ein bisschen neben mir stehen. Die müssen erst noch integriert werden.
Mondkind
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