17 Monate

Hey Du ,
na, wie ist die Lage? Schon wieder Weihnachtszeit. Obwohl es bei mir nicht sehr weihnachtlich aussieht. Und kalt ist es geworden. Sehr kalt.
Heute bin ich etwas im Stress. Ich komme gerade aus dem Dienst, am Wochenende schon der Nächste, mal wieder drei Stück innerhalb von sechs Tagen, das sind allein 60 Stunden nur aus Diensten. Ich bin müde. Aber natürlich wollte ich Dir noch ein paar Worte sagen. 


 

Der Job ist wie eh und je sehr fordernd. Und so oft denke ich immer noch: Ich würde Dir so gern erzählen, dass ich die Neuro – Notaufnahme rocke. Die letzten Dienste waren echt nicht feierlich, aber ich habe es gut geschafft; meine Oberärzte waren zufrieden mit mir. Und vielleicht habe ich dem ein oder anderen Menschen wirklich ein bisschen helfen können.

Es war ein heftiger Monat. Ich habe Deine Mutter besucht. Die Stadt, die lange Deine Heimat war. Und irgendwie habe ich mir vorgestellt, wie Du da oben sitzt, als ich verzweifelt die richtige Bushaltestelle in der Nähe des Bahnhofes gesucht habe. Die Hände vor das Gesicht geschlagen und gesagt hast: „Nein Mondkind, schon wieder falsch abgebogen.“
Deine Mutter hat mir eine Menge über Dich erzählt; ich hoffe, das war okay für Dich. Sie hat für mich ein Bild von Dir gezeichnet, das fast ein Spiegelbild von meinem Leben war und zum Schluss so tragisch geendet hat. Es war für zwei Tage nochmal so, als wärst du nochmal da, als würde Dein Geist – fast erdrückend – durch ihre Wohnung schweben. Sie hat ein hübsches Plätzchen für Dich bei ihr eingerichtet, Du kennst es sicher. Und für mich war es etwas ganz, ganz besonderes nochmal mit dem Finger über die Ringe und das Armband streifen zu dürfen, die Du immer getragen hast. Als könnte man noch ein kleines bisschen von allem, was von Dir geblieben ist, verinnerlichen.

Und… - so viel kann ich sagen: Ich weiß nicht, ob Du das je so wahrgenommen hast, aber es gab schon mal mindestens zwei Menschen auf dieser Welt, die Dich sehr geliebt haben. Die bis heute nicht so ganz glauben können, was passiert ist. Sich ganz vorsichtig an ein Leben ohne Dich heran tasten.

Und seit meinem Besuch bei ihr… - so ganz im Jetzt angekommen bin ich noch nicht wieder. Nachdem mir die Leute versucht haben so lange einzureden, dass es ja „nur“ ein Freund war und ich so versucht habe das zu glauben, damit es irgendwie leichter wird, habe ich festgestellt: Es war so nicht und diese Sichtweise wird Dir und uns in keiner Weise gerecht. Und fast fühle ich mich ein bisschen schuldig Dir gegenüber nicht jeden Menschen, der das irgendwann mal gesagt hat, verbal an die Wand geklatscht zu haben, sondern das einfach immer stumm hingenommen zu haben und mir meinen Teil dazu gedacht zu haben.

Nachdem wir jetzt mehr als ein halbes Jahr darüber debattiert haben, steht bald vielleicht, wahrscheinlich ein neuer Klinikaufenthalt an. Ich bin zwar schon im Dienstplan ausgeplant, aber die Therapeutin ist etwas… - unzuverlässig und deshalb weiß ich nicht, ob das klappt. Weißt Du, wie kacke das ohne Dich ist? Meine Eltern wissen natürlich wieder nichts davon – und stell Dir das Drama vor, wenn sie es irgendwann heraus finden. Weihnachten und den Jahreswechsel werde ich – wenn es nach Plan klappt - dieses Jahr in der Klinik verbringen. Ich glaube, ich würde lieber arbeiten gehen, aber wie sagte nicht die potentielle Bezugsperson: Du kannst nicht drei Tage am Stück arbeiten, um Dich durch dieses Tage zu bringen.
Mein Oberarzt steht letzten Endes schon hinter mir, aber machen muss ich es alleine und davor habe ich super viel Angst. Er meinte, er hätte mich auch in die Klinik gebracht, aber da ist er schon in der Heimat, um mit seiner Familie Weihnachten zu feiern. Ich meine… - das geht zwei Tage vor Weihnachten los. In meiner Akklimatisierungszeit (Du weißt – die erste Woche habe ich meistens nur geweint und fünf Kilo abgenommen) liegt jetzt also auch noch Weihnachten. Hallelujah, das kann ja etwas werden.
Ich nehme aber Dein Bild aus Deiner Ecke mit, Deine Kette, die Du mir mal geschenkt hast und ich habe für Dein Teelicht schon elektronische Kerzen gekauft, damit das brennen kann (Du siehst… - Prioritätensetzung on Point. Ich habe zwar nicht mal Hausschuhe und ausreichend dicke Pullis – das brauchst Du halt im Arbeitsleben nicht, aber schon mal die Kerze). Nein, das macht mir echt alles noch viele Sorgen. Ich muss noch viele Dinge besorgen – und ich habe noch Urlaub vorher, es ist kein Problem – aber der nächste Lockdown hängt bedrohlich über uns und dann schaffe ich es nicht mehr. Ich weiß auch nicht, wie es da mit Waschen und so aussieht. In der Studienstadt hat es immer gereicht, Klamotten für eine Woche mitzunehmen und die habe ich dann immer am Wochenende gewaschen. Wie das dort aussieht, weiß ich nicht. Ich habe halt niemanden, der mich beständig hin und her fährt und mit den Öffis ist das keine schöne Tour. (Aber vielleicht bin ich da auch entspannter, wenn es mir irgendwann besser geht).

Und manchmal denke ich doch, Du brauchst Dir keine Sorgen zu machen, dass hier niemand auf mich aufpasst. „Du brauchst und bekommst die Zeit die Du brauchst, und wenns ein Jahr oder länger dauert, scheißegal, denn Du bist es wert auf Dich zu warten, das werde ich durchkriegen für Dich.“ Ich glaube das war einer der wärmsten und hellsten Sätze der jüngeren Vergangenheit. Und manchmal denke ich mir – wenn wir das alle nicht vergessen, dann passt es vielleicht doch. Ich nehme Dich ein bisschen an die Hand und glaube ganz fest, dass Du noch etwas von der Welt siehst, das ich Dir zeigen kann. Und glaub mir, ich denke auf dem Heimweg von jedem Dienst an Dich und hoffe, dass Du mich siehst, dass Du ein bisschen stolz auf mich bist und ich werde nie aufhören mich zu fragen, wie es wäre wenn Du jetzt in der Wohnung auf mich warten würdest. Und mein Oberarzt nimmt mich ein bisschen an die Hand, wenn es zu schwer wird. Und am Ende verweben sich die Fußspuren auf dem Boden auf der Strecke, die wir in die Zukunft entlang gehen. Jeder in seiner Welt mit einer gemeinsamen Schnittmenge.
Ich glaube alles was man manchmal braucht ist das Spüren, nicht alleine zu sein. Es kann immer noch schrecklich sein, aber es wird so viel aushaltbarer, wenn Du Hände auf Deinen Schultern spürst, die nicht die eigenen sind. Dazu braucht es nur das Vertrauen, das Menschen bleiben und das wird noch eine Weile dauern, bis ich das wieder haben kann.

So, ich muss ganz, ganz dringend ins Bett. Ich habe zwei Stunden in den letzten 48 Stunden geschlafen. Ich melde mich ganz bald, okay?

Ganz viel Liebe
Mondkind

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