Eine Pause von der Neuro

Ich schreibe die letzten Kommentare unter die Arztbriefe.
Der Kugelschreiber setzt unten rechts unter dem Brief die letzten Unterschriften. Bevor ich die Seiten wechsele.
Anschließend hefte ich eine Klammer an die Briefe und lege sie auf den Stapel für das Schreibbüro.
Ich sortiere meinen Schreibtisch, wische ihn mit einem nassen Tuch sauber.

Als ich mich umdrehe, fällt mein Blick in den Spiegel. Und auf meine eigenen, glänzenden Augen.
Wer denkt, die Klinik wäre eine willkommene Auszeit vom Job, liegt falsch.
Ich vermisse diesen Ort schon jetzt – so viel Schrecken, wie er auch oft bereithält. Aber er ist in all der Heimatlosigkeit eben auch ein Stück zu Hause. Die Neuro hier begleitet mich seit 2015. Länger als alle Orte, an denen ich nach meinem Auszug von „zu Hause“ war, das je getan haben.

Und dennoch spüre ich schon bei diesem kurzen „Ausflug“ auf die Arbeit die Erschöpfung in den Knochen. Ich stelle mich mal schnell auf die Waage, wenn ich schon einmal da bin und sehe, dass das Gewicht in den letzten anderthalb Wochen massiv gesunken ist. Ich erinnere mich an eine Kollegin, die lange in Mutterschutz war und bei ihrer Wiederankunft bei uns im November keine drei Stunden gebraucht hat um zu sehen, dass es mir nicht gut geht. Ich erinnere mich an den Februar, in dem der Chef der Psychosomatik in dem doch sehr ehrlichen Gespräch schon prognostiziert hat, dass es ohne Klinik nicht gehen wird, wenn da nicht sogar erstmal die Psychiatrie zuständig sei, wie er sagte.
So weiter zu arbeiten wäre eine tickende Zeitbombe. Und wenn ich nur schon an das Wort „Dienst“ denke, dreht sich mir fast der Magen um, weil ich nicht mehr garantieren könnte, das händeln zu können. 

Das Telefon ist vorerst ausgeschaltet.

 

Stille im Arztzimmer. Ein bisschen dunkel ist es auch; ich habe das Licht nicht eingeschaltet.
Ruhe in diesem Raum, in dem es sonst zugeht, wie im Taubenschlag. Ich habe ja Urlaub, ich kann nicht einfach kommen, wenn die anderen da sind.
Ein Versteckspiel im Kleinen, das ich gerade auch im Großen fabriziere.

Ich denke an unsere Notaufnahme und an das Patientenklientel da. Denke an die Menschen, die mit Schlaganfällen zu uns kommen. Und selbst bei denen, die jahrelang geraucht haben und dann am Besten noch ihre Medikamente nicht genommen haben, sagen wir Niemandem: „Da bist Du selbst Schuld, schäm Dich.“
Aber Menschen, die in einer Situation bin wie ich aktuell, die müssen sich so oft verstecken. Ich habe immer versucht aus allen Situationen das Beste zu machen. Trotz einer schwierigen Vergangenheit, trotz all dem, das dann der Tod des Freundes dazu gekommen ist, den ich nun wirklich nicht mehr gebraucht habe. Ich habe das Studium durchgezogen – trotz aller Schwierigkeiten – ich habe mich im Job so tapfer geschlagen, wie ich konnte. Ich habe es mir auch nicht ausgesucht, dass mich ausgerechnet solche Dinge treffen, aber ich habe gekämpft. Wirklich. Und jetzt verstecke ich mich vor meiner Familie, vor den Kollegen, habe den Chef im Ohr, der meine Abwesenheit toleriert, was ich ihm schon hoch anrechne, aber zeitgleich die tolle Idee hatte, dass ich mich doch nach spätestens drei Wochen wieder entlassen lassen könnte.
Wo genau ist der Unterschied zwischen einem der Patienten, von denen wir so viele täglich behandeln und mir? Keiner von uns hat sich das ausgesucht und jeder von uns kämpft um eine Zukunft. Und so, wie unsere Schlaganfallpatienten dabei Unterstützung von allen Seiten bekommen, wäre es schön, wenn ich die auch bekommen könnte.
Naja. Wunschdenken.

Und dann denke ich an letzte Nacht und daran, dass ich mal den whatsApp – Verlauf mit meiner Schwester durchgegangen bin und den Namen des Freundes mal in die Suchfunktion eingegeben habe. Im Studium haben wir noch so einiges miteinander gemacht, gelernt und besprochen, haben auch Lernmaterialien ausgetauscht. Und fast jedes Wochenende kam: „Ja, aber wir müssen das dann irgendwie herum bauen um [den Freund].“
Und es ist so schön selbst sehen zu können, dass wir enger zueinander standen, als jeder es mir heute zugesteht. Und irgendwann dann auch mal Nachrichten wie: „Leg mal den Schlafsack ins Auto, dann nehme ich ihn mit [zum Freund].“ Meine Schwester kam nämlich – als ich schon längst nicht mehr zu Hause gewohnt habe – jeden Morgen mit dem Auto vom Elternhaus zur Uni und konnte deshalb ab und an nochmal etwas vom Hausrat mitbringen. Ich kann mich zwar daran überhaupt nicht mehr erinnern, aber es wärmt heute noch das Herz. Überhaupt sind viele Erinnerungen über den Lernstress glaube ich auch etwas in Vergessenheit geraten. Aber vielleicht kommen die irgendwann wieder.

Am Ende muss heute mal wieder Johannes Oerding her halten:
"Zeit heilt alle Wunden
Doch man muss auch die Zeit finden
In der alles and're auch mal leise wird
Ein paar Tage, eine Stunde
Vielleicht nur 'ne Sekunde
Wo Erinnerung'ren bleiben doch die Zukunft stirbt
Ich glaub' ich habs geschafft
Zumindest schlaf' ich wieder nachts"

Ob die Zeit alle Wunden heilt, weiß ich nicht. Ich glaube nicht.
Ich glaube es wird sehr hart, dass die Schuldgefühle mich in den nächsten Tagen nicht erschlagen. Eben weil ich nicht arbeite, weil ich mich überall verstecken muss, weil es schon sehr schwer ist, sich nicht zu schämen, so wie die Lage aktuell ist
Aber der Plan ist, dass alles andere leise wird. Dass ich die Erinnerungen integrieren kann, nachdem die Zukunft gestorben ist. Dass vielleicht irgendwann ein ganz zartes Grün zwischen dem Beton wächst. Und dass ich am Ende nachts wieder schlafen kann, dass ich essen kann, dass ich vielleicht etwas leben kann, dass sich ein winziges bisschen lebendig anfühlt.

Ihr Lieben, ich weiß nicht, wie es weiter geht. Ob ich den Blog in der Klinik regelmäßig weiter schreibseln kann. Ich würde es mir wünschen. Ich versuche auch, dass am Ende des Jahres der Jahresrückblick hochgeladen werden kann, den ich schon nebenbei vorschreibe.

Bis wir uns hören, haltet die Ohren steif.
Und aktuell würde ich mir nichts mehr wünschen, als dass der Freund da wäre, mich in den Arm nehmen würde, warten würde bis die Tränen fürs Erste leer sind und mir dann versichern würde, dass wir das irgendwie rocken. Dass es nicht das Ende der Welt ist, wie es sich aktuell anfühlt, sondern nur ein kleiner Umweg, um wieder auf den richtigen Pfad zu finden.

Mondkind

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