Psychosomatik #1 Ankommen
Ich weiß nicht, ob ich Worte habe. Dafür, wie es mir
geht. Was die Situation in mir auslöst.
Vielleicht
Impressionen und Erkenntnisse der letzten Tage. Daraus lässt sich auch ein Bild
erstellen.
Montagabend.
Ich habe den
ganzen Tag nur geweint. Die Gedankenspirale, die ich so gut kenne, aber noch
nicht durchschaut habe, ist auf ihrem Höhepunkt angekommen. Telefonat mit einem
Bekannten zu später Stunde. „Mondkind, das ist schon blöd, wenn man seinem Kopf
nicht mehr vertrauen kann. In der Depression hast Du negative Erwartungen von
Dir selbst, von Deiner Umwelt und der Zukunft. Auch, wenn Du es willst, Du bist
aktuell so gefangen darin, dass Du etwas Positives gar nicht sehen kannst. Und
wenn dann noch ein Angstgedanke dazu kommt, wie: „Die werden mich auf der
Arbeit bestimmt kündigen“, dann hast Du auf der Grundlage verloren. Aber es ist
nicht echt. Die würden sich sicher keine Gedanken über Deine Rotation im
nächsten Jahr machen und in Dich investieren, wie dem Vorschlag einen
Dopplerschein zu machen, wenn sie wollen würden, dass Du gehst. Du hast da auch
viel geleistet.“
Ein bisschen
beruhigt mich das. Vielleicht ist meine Wahrnehmung nicht so echt, wie sie
scheint.
Dienstag.
Ich habe kaum
geschlafen. Der Weg zum Bahnhof ist mit dem Gepäck ziemlich mühselig. Aber auf
den Bahnhof treffe ich einen Kollegen aus der inneren Medizin. Natürlich komme
ich das erste Mal in Erklärungsnöte. Ich berichte, dass ich zuerst einen
Zwischenstopp mache (in der Stadt, in der die Klinik ist) und dann weiter
fahre. Das akzeptiert er. Und hilft mir mit dem Gepäck, bis ich umsteigen muss. Bei beinahe
zweistelligen Minusgraden stehe ich mitten in der Pampa auf einem Bahnhof und
frage mich, was zur Hölle ich mir dabei gedacht habe.
Auch das letzte Mal, als ich aus „therapeutischen Gründen“ in der Stadt war, war Winter. Fast ebenso kalt. Nur, dass es damals noch geschneit hatte. Ich schleppe mein Gepäck durch den Kurgarten und komme zitternd in der Klinik an. Nicht nur vor Kälte. Auch vor Angst.
Die nächsten Stunden verbringe ich damit, zwei Corona – Tests zu machen,
mich von der Pflege aufnehmen zu lassen, was ziemlich unkompliziert ist – die
wollen eigentlich nichts wissen – und dann werde ich auf mein Zimmer gebracht.
Obwohl es in der Klinik mehr Einzel-, als Doppelzimmer gibt, lande ich wieder
in einem Doppelzimmer und bin darüber erstmal wenig begeistert. Der Druck in mir
ist so groß, dass dann trotzdem erstmal die ersten Tränen fließen und natürlich
sind sowohl meine Zimmernachbarin als auch ich damit überfordert.
Zum Mittag kann ich kaum etwas essen, weil mein Magen gefühlt die Größe
einer Weintraube hat. Schon kurz Danach holt mich mein zukünftiger
Bezugstherapeut im Zimmer ab und nimmt mich mit in sein Büro. Wie es mir
aktuell geht, ist die erste Frage. „Ich fühle mich etwas überfordert“, entgegne
ich. „Wieso? Sie waren doch schon drei Mal in der Klinik – das ist doch jetzt
nichts Neues für Sie?“, kommt zurück. Irgendwie trägt das jetzt nicht zum
Sympathieaufbau bei. Natürlich möchte er auch wissen, warum ich hier bin. Zum
gefühlt 237. Mal die Geschichte erzählen. Damit beginnen, dass eine depressive
Stimmungslage jetzt nichts Neues ist, über eine Anbindung an die Ambulanz seit
2015 berichten. Um dann den Bogen zu schlagen, dass man da wen kennen gelernt
hat. Jemand, der Zukunft war. Es sollte besser werden. Nach dem Studium. Wenn
der Leistungsdruck weniger ist, man sich eine Unabhängigkeit erschaffen hat,
eine finanzielle Entkopplung vom Elternhaus. „Aber der Freund lebt nicht mehr,
oder?“, stellt der Herr Therapeut trocken fest. „Nein, er lebt nicht mehr“,
bestätige ich und berichte weiter. Und als ich mit meiner Erzählung im Juli
2020 ankomme, spüre ich plötzlich diese Welle von Traurigkeit in mir aufsteigen
und dann fange ich einfach an zu weinen und kann gar nicht mehr aufhören.
„Entschuldigung, normalerweise passiert mir das nicht“, sage ich, als ich
irgendwann wieder reden kann. „Es ist alles okay“, entgegnet er. Und irgendwie
bringen wir dieses Gespräch dann noch zu Ende. Und bei allen Fragen merke ich
am Ende, wie sehr es an der Grenze war. Zum Schluss konnte ich weder schlafen
noch essen, noch irgendetwas tun, das mehr war, als das aboslut Notwendige.
Im Anschluss soll ich direkt zur Ärztin. Und da der Herr Therapeut und ich
überzogen haben, ruft er dort an und meldet, dass ich später komme. „Ihr
Therapeut hat mich schon vor sieben Minuten angerufen“, sind die Worte mit
denen sie mich begrüßt. Ihr Ernst jetzt? Ich musste in ein anderes Gebäude, ich
hatte keine Ahnung wo der Raum ist und musste noch an der Rezeption fragen. Als
sie mich dann aber zwei Minuten kennt, wird sie ruhiger. „Sie sind gerade voll
überfordert, oder?“, fragt sie. Ich nicke nur. „Passen Sie auf – Sie kriegen
jetzt heute keine anderen Termine mehr; Sie legen sich jetzt ins Bett und wir
machen den Rest dann morgen.“ Ein wenig später wird sie doch nochmal etwas
nervös, weil sie mein Medikment nicht kennt. „Chill mal“, denke ich mir. Ich
bin nicht hier, um irgendwelche Ärzte nach ihren Fähigkeiten zu beurteilen.
Den Nachmittag verbringe ich dann teilweise im Bett (mit vielen Tränen) und
Auspacken. Ich spüre zum ersten Mal so wirklich, wie erschöpft ich eigentlich
bin.
Am Abend ist noch eine Führung durchs Haus von einer Patin. Die gute Frau
macht mich komplett verrückt, ich kann mir auch gar nichts merken. Sie betont
an allen Ecken, wie wichtig es sei sich an diese oder jene Regeln zu halten,
dass man hier ganz schnell raus fliegen würde. Ich schaue auf meinen Plan und
stelle fest, dass ich am Mittwoch bis 10 Uhr vier Termine habe. Wie soll ich
das machen? Ich kann doch kaum noch aufstehen? Ohne es zu merken, löst sie so
starke Ängste hinsichtlich dieses Klinikaufenthaltes aus, dass ich einfach nur
nach Hause möchte.
Es wird eine unruhige und kurze Nacht.
Geschreibselarbeit auf dem Zimmer
Mittwoch
Schon um kurz nach sieben Uhr muss ich bei der leitenden Psychologin sein.
Auch sie möchte nochmal kurz und knapp zusammen gefasst hören, warum ich da
bin. „Also wegen der Depression hätte ich vielleicht gar nicht unbedingt
nochmal in die Klinik gemusst. Es ist die Trauer und all die damit verbundenen
Themen, die mich so belastet haben, denke ich.“ Sie will auch nochmal die
Geschichte vom Freund hören. „Hatten Sie schon jemals seitdem er gestorben ist,
wirklich Ruhe und Zeit um das zu verarbeiten?“, fragt sie. „Ich glaube nicht“,
entgegne ich. „Jedenfalls zähle ich den letzten Aufenthalt in der Psychiatrie
nicht dazu und seitdem habe ich eigentlich fast nur gearbeitet.“ „Es ist gut,
dass Sie hier sind. Und es ist auch gut, dass Sie noch vor Weihnachten gekommen
sind“, sagt sie am Ende, was so sehr wertvoll für mich ist.
Danach muss ich noch bei der Ärztin rein huschen. Wir machen die Aufnahmeuntersuchung fertig. „Ich habe auch schon Menschen zu Ihnen in die Neuro verlegt; dann weiß ich zukünftig schon, wo ich anrufen kann“, sagt sie. „Der Campus braucht Sie; wir kriegen das schon hin, machen Sie sich keine Sorgen.“ Worte, die berühren. Zwei so liebe Menschen, die mich gesehen haben schon in der Früh.
Später am Nachmittag lerne ich die Gruppe kennen, mit der ich die nächsten
Wochen Therapie haben werde. Was ich von dem Gruppentherapiekonzept halten
soll, weiß ich nicht. Unsere Vorstellungsrund war etwas alternativ. „Wenn Sie
ein Weihnachtsplätzchen sein könnten – welches wären sie und warum?“ Ich habe
mich für einen Zimtstern entschieden. Weil ich Zimt mag. Und weil Sternenhimmel
seit knapp anderthalb Jahren eine neue Bedeutung haben. Weil das Verbundenheit
schafft. Zu einem Menschen und einem Leben, die nicht mehr existent sind. Weil
ein Stern alleine leuchten kann, weil er stark und autonom sein kann und
dennoch so verloren im Universum ist.
Die ersten Denkanstöße gibt es auch schon. Was mich auch zu einer Idee im
Umgang mit meinen Eltern bringt. Wir sind nicht für die Reaktionen der anderen
verantwortlich. Wir müssen sie nicht vor der Wahrheit schützen und es uns
selbst damit schwer machen. Ich kann meinen Eltern sagen, dass ich hier bin,
weil ich noch meinen Trauerfall verarbeiten möchte und dass ich die nächsten
sechs bis acht Wochen dazu keine Kommentare dazu hören möchte. Wenn sie damit
ein Problem haben, ist es ihr Ding. Nicht meins.
Und wir lernen, dass es wichtig ist Bedürfnisse klar und gewaltfrei zu
kommunizieren. Das nützt nichts emotionsgeladen in eine Diskussion zu gehen und
das Gegenüber weiß gar nicht, um was es eigentlich geht. Oder Gründe
vorzuschieben, wie zum Beispiel eine nicht ausgeräumte Spülmaschine. Das ist
nicht der Grund für Wut auf den Partner. Dahinter steckt etwas anderes.
Beispielsweise fühlt man sich zu wenig gesehen. Und dann ist es wichtig zu
refkeltieren: Was ist meine Emotion, was ist das Bedürfnis dahinter und habe
ich eine Idee, wie mein Gegenüber mir das erfüllen kann? Und wenn ja – dann
spreche ich ihn doch direkt darauf an. Und wenn er eine Grenze zieht und sagt,
dass er es nicht kann, dann muss ich es akzeptieren.
Später am Nachmittag sind eine Mitpatientin und ich noch zur
Therapieplanbesprechung verabredet. In meinen Augen ist das kein besonderer
Termin. Aber jeder von uns hat noch so seine Themen. Ich sollte mir bis heute
Gedanken machen, was ich mit meinen Eltern mache. Ob ich ihnen sage, dass ich
weiter arbeiten gehe oder ob ich ihnen die Wahrheit sage – über Weihnachten
wird es raus kommen, wenn ich nicht bewusst lüge. „Ich glaube, ich muss mich
nicht damit belasten, meine Eltern schützen zu müssen. Ich möchte es ihnen
sagen und gleichzeitig eine Grenze setzen und sagen, dass ich die nächsten
sechs bis acht Wochen nicht viel hören möchte, weil sie ohnehin nichts
Hilfreiches dazu sagen können.“ Gute Idee, findet Herr Therapeut. „Schaffen Sie
das alleine?“, fragt er. „Sonst können Sie mir auch die Nummer geben und ich
rede mit denen.“ Mit einem solchen Angebot habe ich nicht gerechnet, aber
irgendwie berührt es mich sehr. „Ich versuche es selbst und würde auf Sie
zurück kommen, wenn es eskaliert“, sage ich. Findet er gut, die Idee.
Bei den Themen der Mitpatientin spüre ich eine deutliche „therapeutische
Strenge“, die mich irgendwie auch sehr berührt. Die wollen hier klare
Entscheidungen und ein „ich lasse mich auf die Therapie ein.“ Dann gibt es aber
auch alle Unterstützung, die man benötigt. Vielleicht wird es mir auch noch auf
die Füße fallen, aber es ist eine enge therapeutische Schienung, die man
vielleicht als Gegenpol zur Schienung der Erwartungen der anderen und der
Außenwelt auch braucht.
Die Mitpatientin ist dann irgendwann weg und wir besprechen den
Therapieplan. Am Ende frage ich, ob es auch eine Gruppe in all den Vielen gibt,
die sich mit Trauer auseinander setzt. Er sucht nochmal, aber findet nichts. „Mein
Problem ist halt, dass ich schon in erster Linie deshalb da bin und ob das so
gruppentauglich ist, weiß ich nicht. Obwohl ich schon sehr gern die Möglichkeit
hätte, mich darüber auszutauschen – inhaltlich sinnvoll wäre das natürlich am
Besten mit Menschen, die vielleicht ähnliche Erfahrungen gemacht haben.“ „Sie
können das schon in die Gruppe einbringen…“, sagt er und wiegt den Kopf hin und
her. „Meine Erfahrung von letzten Klinikaufenthalt ist eben, dass ich da
ständig gehört habe, dass es kein gruppentaugliches Thema ist und ich möchte ja
auch Keinen zusätzlich belasten. Tod und Trauer und dann noch in Verbindung mit
Suizidalität – das sind halt schon zwei schwere Themen.“ „Naja, vielleicht
sollen Sie das nicht einfach so in die Gruppe rein schmeißen, sondern sich da
vorsichtig ran tasten“, schlägt er vor. „Wobei das dann auch die Aufgabe von
meiner Kollegin und mir ist, die Gruppe aufzufangen.
Ich sinniere vor mich hin, was Trauer für Menschen bedeutet, die damit noch
nicht viel Berührung haben und ob ich denen das überhaupt begreiflich machen
kann. „Trauer ist so viel mehr als Traurigkeit. Da kommt so viel hinterher“,
sage ich. „Was denn so?“, fragt er und lehnt sich zurück. Und dann spreche ich.
Über die Frage, ob ich mit dem was ich erlebt und versäumt habe, noch ein
wertvoller Mensch bin, ob ich das wieder werden kann. Ich spreche über das
Schuldthema und über die Frage, wie viel freier Wille am Ende einer solchen
Entscheidung steht. Ich spreche über Ungereimtheiten in Verbindung mit seinem
Tod, auf die man keine Antworten mehr bekommen wird, die immer bleiben werden
und die immer auch für eine gewisse Spannung sorgen werden. Und irgendwann
berichte ich darüber, dass eine Form von Verarbeitung für mich auch ist darüber
zu reden, das ewig Gleiche immer wieder zu erzählen und dieselben Fragen immer
und immer wieder zu zerpflücken bis ich das Gefühl habe, gehört worden zu sein.
„Ich glaube, jetzt habe ich Sie ziemlich zugelabert“, erkläre ich nach
einer halben Stunde und vielen Tränen und ein Blick auf die Uhr verrät mir,
dass er längst Feierabend haben müsste. Er sagt, dass es okay ist, dass ich da
wirklich viel mit mir herum zu tragen habe. „Manchmal nimmt unser Leben Wege,
die wir uns nicht gewünscht haben und die wirklich blöd sind. Und dann ist die
Aufgabe, das irgendwann zu akzeptieren und zu integrieren in seinen Lebensweg.
Es darf und wird immer schlimm bleiben, was Ihnen passiert ist, aber es ist
jetzt Teil Ihres Lebens. Vielleicht können wir Ihnen dabei auf dieser Reise
hier helfen.“
Es ist ein seltsames Potpourri aus Gefühlen. So ganz angekommen bin ich hier noch nicht. Ich trage auch immer noch die Frage herum, was wohl aus dem Job wird, ob das so okay ist, ob ich die anderen zu viel belaste. Aber ich habe hier auch einige schöne, sehr wertschätzende Sätze in den letzten beiden Tage gehört. Ich habe mich manchmal plötzlich so sehr gesehen gefühlt, was eine sehr schöne Erfahrung ist. Ich fühle mich bisher ganz gut aufgehoben, ich habe zumindest einen gewissen Optimusmus, dass dieser Aufenthalt hier vielleicht mehr kann, als mich alleine wieder arbeitsfähig zu machen. Und dann spüre ich auch eine tiefe Dankbarkeit für die Chance hier und möchte die auch gut nutzen. Und aktuell – nachdem die letzten Wochen so ein Kampf waren – schätze ich das auch einfach sehr, dass man sich hier um die wichtigen Dinge kümmert. Ich muss mich nicht darum kümmern, dass der Kühlschrank voll ist, oder mir etwas zu essen machen, obwohl ich gar keinen Hunger habe. Ich muss nicht krampfhaft versuchen, eine Tagestruktur aufrecht zu erhalten. Auch wenn ich den Wecker hier immer noch sehr verfluche, weil ich so erschöpft bin – aber es gibt Regeln hier und an die muss ich mich halten.
Ich bin gespannt, wie Weihnachten wird. Aber ich denke, die werden sich Mühe geben hier. Und ich glaube alle, die mich etwas besser kennen, sind aktuell froh, dass ich über die kritischen Ereignisse wie Weihnachten und – noch kritischer – dem Jahreswechsel in Sicherheit bin.
An alle Leser an dieser Stelle schon mal ein gesegnetes Weihnachtsfest. Und für die, die vielleicht auch in keiner schönen Situation sein mögen hoffe ich, dass doch jeder für sich einen persönlichen, kleinen Lichtblick in diesen Tagen für sich entdecken kann.
Mondkind
Ich verfolge Deinen Weg schon sehr lange.
AntwortenLöschenWas ich hier lese, gefällt mir.
Ich glaube, Du bist dort in guten Händen.
Ich hoffe, Du kannst Dich darauf einlassen.
Ich wünsche Dir frohe Weihnachten!
Dankeschön. Ja, ich fühle mich bislang auch recht gut aufgehoben hier.
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