Vom vorerst letzten Dienst und Klinikvorbereitungen
Es ist kurz nach 21 Uhr. Ich sitze in der Notaufnahme.
Am Ende ist es doch so, als müsste es nochmal knallen, bevor ich dann
gehe. Am Sonntag hatte ich eine Rekordzahl von Patienten, zwei Schockräume
hintereinander und dazwischen ist mir ein Patient durch die Lappen gegangen.
Nichts dramatisches, dem Patienten hat es auch nicht geschadet; er kam dann
einfach einen Tag später klinisch unverändert nochmal und ich habe ihn in
meinem nächsten Dienst aufgenommen. Aber es ist ärgerlich, etwas verpasst zu
haben. Und natürlich mache ich mich mit diesem Fehler wieder viel verrückter,
als alle Menschen um mich herum das für nötig halten. Der Notaufnahme –
Oberarzt und die potentielle Bezugsperson haben es natürlich sofort mitbekommen
und haben es mir schon längst verziehen. Nur ich, ich habe mir das noch nicht
verziehen.
An diesem Abend sitze ich dort mit einem zunehmend septisch werdenden
Patienten. Er kam mit einer Fallneigung, ist der deutschen Sprache nicht
mächtig, kein Mensch weiß, was er für Medikamente nimmt. Ein Oberarzt der ZNA
wollte ihn direkt auf die Stroke Unit schicken, aber ich wollte noch das Labor
abwarten. Irgendetwas war da komisch. Die Entzündungsparameter sind dann auch im Nirwana.
Die Internisten und mein Hintergrund wollen, dass ich ihn punktiere, ehe ich
ihn in die Innere verschiffe. Ich möchte das aber nicht. Er hat – wie wir mit
einem Dolmetscher heraus gefunden haben – keine Kopfschmerzen, keinen Schwindel
und keinen Meningismus – was will ich von der Punktion? Ich kann es machen,
kein Problem – aber ich sehe die Indikation nicht und ich bin die Ausführende.
Ich mache etwas, das ich seitdem dieses Angebot steht, noch nie gemacht
habe: Ich krame mein Handy raus, tippe die Nummer der potentiellen Bezugsperson
ins Diensthandy und bete, dass er sein Handy in der Nähe liegen hat. Er sieht
wohl die Nummer und weiß schon, wer dran ist. „Alexa leiser“, höre ich im
Hintergrund und irgendwie ist es merkwürdiger Stich ins Herz. Ich weiß genau,
dass er jetzt in der Küche steht oder sitzt, ich habe dieses Haus und diese
Szene vor mir, diese zwischenmenschliche Ruhe die dort immer herrscht, wenn ich
da bin und die ich so gern nochmal erleben würde dieses Jahr. „So Mondkind,
jetzt“, sagt er. Ich berichte die ganze Geschichte. „Mondkind, nur für meine
Ohren, kannst Du das CRP nochmal wiederholen?“, fragt er. „53“, entgegne ich. „Ich
glaube so etwas habe ich noch nie gehört“, sagt er. Er würde ihn auch
nicht punktieren. „Und was mache ich, wenn mein Hintergrund das jetzt auch will?
Ich muss machen, was er sagt? Und die Internisten ihn sonst nicht nehmen?“,
frage ich. „Wenn Dir gar nichts anderes übrig bleibt und die Dich faktisch
zwingen, dann mach es eben. Aber zeig Deine Mäusezähnchen und versuche es zu
vermeiden.“ Ich bedanke mich fünf Mal und dann lege ich auf.
Am Ende schaffe ich es die Punktion zu vermeiden, er bekommt ein CT
Thorax und Abdomen hat multiple Abszesse überall im Bauch und ich übergebe den
Patienten an die Chirurgen.
Es wird mein vorerst letzter Dienst sein, von dem ich am nächsten Morgen berichte.
Die Klinik hat sich gemeldet. Die Sache ist in trockenen Tüchern. Der 21. Dezember wird der Aufnahmetermin. In den letzten Tagen hat mich das sehr überfordert.
Ich weiß, dass es jetzt wirklich nicht mehr länger geht. Ich habe gekämpft bis zum letzten Tag, habe irgendwie die Dienste gemacht, die Nächte geweint, war auf der Arbeit, obwohl ich so müde und erschöpft war, dass es eigentlich nicht mehr tragbar war.
Und dennoch fühlt es sich wie Versagen an. „Ich hoffe sehr, diesmal schaffen Sie es“, sagte der sehr geschätzte Herr Psychiater vor meiner letzten Entlassung aus der Psychiatrie, als der Freund gerade mal acht Wochen tot war. Ich habe es auch gehofft. Aber auf die ganze Situation nochmal so etwas obendrauf – es hat nicht geklappt. Und ich hoffe sehr, dass die Menschen in der Studienstadt – der sehr geschätzte Herr Psychiater und der Herr Kliniktherapeut das nicht mehr mitbekommen. Dass es schon wieder nicht gereicht hat. Der Herr Kliniktherapeut hat noch die Blogadresse und ich weiß nicht, ob er noch mitliest.
Es ist noch so viel zu erledigen bis dahin. Meine Schwester kommt noch
ein paar Tage, da schaffe ich nicht viel für mich persönlich. Ich muss für die
Arbeit noch Video – EEGs zu Ende auswerten, Briefe schreiben und geschriebene
Briefe ergänzen, wenn Diagnostik noch nachträglich reinkommt – meistens sind es
Labore. Ich möchte aufgeräumt gehen. Alles erledigt haben, was ich noch
erledigen konnte. Meinen Schreibtisch endlich mal aufräumen. Alle Mails
abarbeiten.
Ich muss noch ein paar Dinge einkaufen gehen bis dahin. Sachen wie
Hausschuhe besitze ich aktuell einfach nicht. Der Jahresrückblick muss
zumindest vorgeschrieben und schonmal im Draft – Ordner hochgeladen werden; wir
sind hier nicht in der Großstadt; ich glaube wlan gibt es dort nicht, das muss –
wenn – dann über einen Hotspot mit dem Handy laufen. Das Letzteres funktioniert
hoffe ich allerdings sehr stark – ich möchte nicht auf den Jahresrückblick und
auch nicht gänzlich auf das Bloggen verzichten müssen.
Und dann hoffe ich, dass ein neues Klinikkonzept mir diesmal besser helfen kann. Ich weiß nicht, wie der Hase dort läuft und ich wünschte ich wüsste es – bei der Psychiatrie wusste ich irgendwann ja zumindest, auf was ich mich da einlasse. Aber ich kann Menschen die Chance geben mich auch nochmal neu kennen zu lernen. So, wie ich eben jetzt bin. Die Menschen von jetzt wissen nicht, wie meine Welt aussah, als der Freund noch gelebt hat. Sie können mich daran nicht be- und verurteilen und ich denke, das ist ein großer Vorteil.
Ich weiß noch nicht, wie es werden soll. Die ersten Tage in der Klinik
sind immer sehr, sehr schwer und dummerweise liegt da auch noch Weihnachten
drin. Die einzigen Menschen die wissen was los ist, sind die potentielle
Bezugsperson – der über Weihnachten im Ausland ist - der
dienstplanverantwortliche Oberarzt und der Chef. Ansonsten habe ich mich
bedeckt gehalten und bisher hat es auch noch niemanden ernstlich interessiert, was
ich Weihnachten mache.
Ehrlich gesagt habe ich das nie als schlimm empfunden wochenlang weg
von der eigenen Wohnung zu sein und den Leuten die ich kenne – aber jetzt finde
ich das sehr schlimm. Wenn es ein Tagesklinikkonzept gäbe und ich etwas mobiler
wäre, dann würde ich das wirklich bevorzugen. Abends zu Hause sein,
zwischendurch meine Leute sehen. Die Kollegen, die langsamen Freunde werden,
trotz meines ständigen Gehüpfes durchs Haus, das auch nächstes Jahr nicht aufhört. Vielleicht mal bei der potentiellen
Beuzgsperson sein. Und nicht wochenlang raus aus dem Leben sein.
Diesmal kann ich es aber ein bisschen vorbereiten – in der Situation
war ich praktisch nie. Ich wollte mir noch ein Notizbuch und irgendeinen
hübschen Stift dazu kaufen. Ein neues Mandala – Buch. Ein paar Buntstifte. Gestern habe ich schon eine Thermoskanne gekauft – ich hatte nämlich keine mehr
und die haben schon auf die Packliste geschrieben, dass man eine mitbringen
soll. Vielleicht wäre eine Verlängerungssteckdose nicht schlecht, vielleicht
kann ich eine Lichterkette einpacken, damit es ein mini – bisschen schön ist zu
Weihnachten. Die Kerze (natürlich dann eine elektrische) und das Bild vom
Freund kommen mit. Und ich muss noch irgendeine Möglichkeit schaffen, Musik
hören zu können ohne Internet – vielleicht mehr als das, was der mp3 – Player her
gibt. Musik hilft nämlich immer.
Hat sonst noch wer Verschläge?
Zuletzt noch ein paar Zeilen…
Ich denk an Dich und daran, dass wir heute keine Worte mehr brauchen.
Ich muss Dir nichts mehr sagen, weil Du mich gehört hast, ohne dass ich
gesprochen habe. Und ich höre Deine Stimme in meinen Ohren, die real nicht mehr
hier ist.
Und manchmal denke ich mir, Du sitzt irgendwo und passt auf mich auf. Dann
denke ich die letzten Dienste waren so blöd, weil ich es vor einem Jahr nicht
hätte aushalten können und Du mir damals die Belastung weggenommen hast und sie
mir - verschoben ein Jahr später - zurückgegeben hast. Weil ich es heute ein
bisschen besser kann. Weil ich es zumindest überstehen und aushalten kann.
Ich spüre in mich hinein und merke, dass Deine Kerze hier in den letzten Wochen brannte und ich doch eine kleine emotionale Mauer zwischen Dich und mich gebaut habe. Damit ich weiter funktionieren konnte, damit die Nächte nicht zu kurz waren, die Verzweiflung nicht so riesig, weil hier in der Dunkelheit ohnehin niemand etwas halten kann. Sogar Dein Monatsbrief war kurz gemessen an dem, was alles passiert ist, was Deine Mum mir auf den Weg gegeben hat, was ich Dir noch alles sagen will. Aber jetzt wo der Zwang des Außen weg fällt, ahne ich zu spüren, was dahinter kommt.
Ich denk an den Fluss, an dem wir oft saßen, in einer Welt, von der ich
nicht weiß, ob sie je zu mir gehörte, so weit weg kommt es mir vor. So
unglaublich, dass das mal mein Leben gewesen sein soll. Und ich frag mich:
Wieso hast Du alle und alles verlassen und ich bin so selten wütend auf Dich,
aber jetzt bin ich es… - vielleicht. Ich wünsch mir, dass Du hier bist und
nicht – wie sonst so oft – für Dich, sondern wirklich mal für mich, weil ich
Dich mit diesem ganzen Klinikmist jetzt hier brauche und weil niemand das so
verstanden hat, wie Du, weil wir es beide kannten. Weil es mich so überfordert,
weil die Zeit bis dahin noch so schwer wird, noch so vieles zu erledigen ist,
weil ich so sehr Angst vor den ersten Tagen dort habe, die dann auch noch
Weihnachten sind und ich kein Gesicht sehen werde, das ich kenne, vielleicht
nicht mal eine Stimme hören werde, die ich kenne. Weil ich besser nichts sage,
statt mir eine Geschichte auszudenken, wo ich bin.
Ich habe letztens einen Spruch gelesen. „The irony of grief is that
the person that you need to talk to about how you feel is the person, who is
no longer here.“ Ich kanns bis heute nicht glauben, dass ausgerechnet Du
gegangen bist. Wenn ich mir einer Sache im Leben sicher war, dann war es, dass
Du bleibst. Dass das eine der einzigen zwischenmenschlichen Verbindungen ist,
die bleiben kann. Weil sie nicht an meiner Leistung hängt, sondern an der
Verbindung zwischen zwei Seelen die bleiben wird, egal wie ich mich im Beruf
schlage – und es war von Anfang an die Frage, ob das nicht fünf Nummern zu groß
für mich ist. Ich musste nicht Angst haben alles zu verlieren, wenn ich einen
Fehler mache. Und doch habe ich einen Fehler gemacht, ich habe nicht genug auf
Dich aufgepasst und schon warst Du weg.
Ich halte mich heute an Menschen fest und habe Angst, sie zu zerquetschen. Weil alles was da ist selbst zu viel für viele Schultern ist, auf die ich versuche, es zu verteilen. Ich habe Angst, dass es der potentiellen Bezugsperson zu viel wird, dass es mehr ist, als wir beide tragen können, weil es eigentlich mal vorwärts gehen sollte und nicht konstant rückwärts.
Ich würde Dir sagen: Was, wenn es falsch ist, zu früh, zu schlimm ist für zu viele? Es ist so schwer zu verstehen, dass es nicht heißt, dass ich nicht leben möchte, wenn ich sterben möchte. Am Ende ist es wahrscheinlich so, dass ich es aushalten muss, wie das Leben jetzt ist, wenn ich das Leben an sich behalten möchte. Ich wünsche mir einen Punkt zurück, an dem ich so tun konnte, als ob ich heilen könnte und ein normales Leben möglich sein könnte, irgendwann. Ich glaube die Ruhe, die Hoffnung, das Vertrauen und der Mut, Perspektiven zu sehen, all das ist vielleicht noch da, aber irgendwo in mir vergraben. Ich würde Dir sagen: Ich habe Angst, es nicht mehr rechtzeitig ausgraben zu können.
Ich würde Dir sagen: Ich habe so sehr Angst vor allem, was da kommt, so sehr Angst diesen Weg
alleine gehen zu müssen, mich vielleicht nur damit trösten zu können, dass mal
Menschen da waren, mit denen man das ganz gut im Griff hatte.
Ich würde Dir sagen: Ich hoffe, Du sitzt irgendwo da oben und passt
auf mich auf. Ich habe bestimmt etwas Zeit. Das erste Mal, seitdem Du tot bist.
Und wenn alles gut läuft, dann darfst Du wirklich da sein. Und dann schreibsel
ich bestimmt.
Mondkind
Kommentare
Kommentar veröffentlichen