Reisetagbuch #3 Reiseende und Dienst

Samstag.
Irgendwann in der Nacht ist meine Schwester angekommen.
Es ist merkwürdig. Wir alle – meine Mama, meine Schwester und ich – wieder zu Dritt in diesem Haus. Dieses Haus, das sich sehr verändert hat, im Vergleich zu früher. Sehr verwahrlost ist es hier. Irgendwie. Hier zu sein erinnert mich immer daran, wie ich irgendwann vor vielen Jahren einfach gehen musste. Weil es nicht mehr aushaltbar war.
Heute bin ich ab und an wieder hier. Fein dosiert. Selten. Und ich habe das Auto dabei. Ich kann jederzeit gehen, wenn es eskaliert. Und dennoch bleibt die Beklemmung.
Meine Schwester und ich bereiten das Frühstück vor, für das wir uns viel Mühe gegeben haben. Eigentlich ist es eher ein Brunch.
Tatsächlich ist es okay. Eine gewisse emotionale Abhängigkeit vom Elternhaus wird es immer geben. Ein Stück weit wird es immer weh tun, hier zu sein. Aber ich bin mittlerweile auch entspannter. Ich weiß, dass diese Beziehung nicht mehr rettbar ist. Ich weiß, dass meine Mama und ich in vielen Punkten andere Sichtweisen haben. Ich weiß, dass sie das Meiste von dem was ich gemacht und entschieden habe, weder verstehen kann, noch respektiert.
Aber ich weiß auch, dass ich hier nicht mehr suchen muss und will nach zwischenmenschlicher Wärme. Und das macht es wesentlich leichter.

Gegen Mittag düse ich wieder los in Richtung dem Ort in der Ferne. Ziel ist allerdings der Nachbarort; ich möchte meinen Freund besuchen. Diesmal schaffen Auto und ich den Weg durch die Kassler Berge ohne Warnlampe. Der Nachbarort ist seit Wochen eine einzige Baustelle und mit einem Fest am Wochenende, was für noch mehr Straßensperrungen sorgt, bin ich dann so verwirrt, dass ich mich ein paar Mal verfahre, bis ich kurz nach fünf endlich da bin.
Und dann stehen mein Freund und ich erstmal bestimmt 30 Minuten nur in seinem Flur und halten uns in den Armen. Gefühlt haben wir uns eine Ewigkeit nicht gesehen.
Während er unter die Dusche hüpft, mache ich es mir in seinem Sessel bequem und als er wieder kommt, setzt er sich mir gegenüber. Und dort sitzen wir dann. Bis tief in die Nacht. Und reden.

Es gibt einige Sorgen mit dieser Beziehung. Nicht für uns, sondern für das Außen. Und ich bin tief berührt und bewegt, wie sehr er mittlerweile hinter uns und hinter mir steht. Ich könnte das vollkommen verstehen – auch wenn es glaube ich das Schlimmste wäre, das jetzt passieren könnte – wenn er sagen würde, dass es unter diesen Umständen einfach nicht geht. Ich hoffe einfach, dass man das relativ unkompliziert lösen kann. Aber beschäftigen wird es uns sicher noch.
Und dann geht es lange um mich und um meine Eindrücke aus der Studienstadt. Ich bin dankbar, dass er mir den Rahmen gibt ein bisschen zu reflektieren. Vielleicht hätte ich von mir aus nicht so viel erzählt, aber er fragt immer wieder nach und ich bin dankbar für die Fragerei. Wir springen durch die Zeit. Weil man das nicht oft genug erzählen kann, geht es nochmal um den Mai 2020. Als dieses Drama schon längst lief, ohne dass ich irgendetwas davon wusste. Und weil ich in meinem Elternhaus war, geht es auch viel um die Zeit dort. Wie ich das erlebt habe, damals. Was so gestört hat. Wieso ich dann irgendwann raus musste. Und wie das dann wieder die Beziehung zum verstorbenen Freund beeinträchtigt hat. Aus aktuellem Anlass habe sich mein Freund nochmal Gedanken um das Thema Diagnosen gemacht. „Wenn ich nochmal Diagnosen verteilen müsste, würde ich Dich nach allem was ich jetzt weiß, für komplex traumatisiert halten – aber volle Möhre“, sagt er. Und dann reden wir erstmal darüber, was überhaupt ein komplexes Trauma ist – ich kenne mich da nämlich absolut gar nicht aus. Ich frage mich ja schon ein bisschen, warum das  nie irgendwer irgendwo erwähnt hat – ich habe ja so einige Therapeuten durch; allerdings habe ich über so manche Dinge eben wirklich nie geredet.
Ich habe mittlerweile ein bisschen etwas gelesen darüber und in manchen Dingen finde ich mich schon wieder. Das würde zumindest erklären, warum  - wie die potentielle Bezugsperson es mal ausdrückte – in meinem Leben „bisher fast nichts funktioniert hat“, oder mal etwas milder ausgedrückt, warum ich mich mit vielen Dingen so unsäglich schwer getan habe und auch die erste Beziehung zu Großteilen daran gescheitert ist. Es wäre zumindest auch mal eine andere Erklärung als das von der potentiellen Bezugsperson ständig gepredigte „Die Mondkind veranstaltet halt einfach ein riesen großes Theater.“
Vor dem Hintergrund sei die Entscheidung für eine neue Beziehung zumindest ziemlich mutig gewesen und sicher auch ein Schritt in die richtige Richtung, ist das Resultat vom Freund. Und irgendwie bin ich in dieser Nacht sehr dankbar für diese validierenden Worte.
Ich habe mich immer bemüht. Ich habe immer versucht zu geben, was ich kann. Zu investieren, was ich kann. Nur manchmal hat das eben nicht gereicht. 

 

Letzte Impressionen aus der Studienstadt


Sonntag
Ich bin schon früh wach. Der Vorabend mit allem was wir besprochen haben, treibt mich um. Ich mache mir auch viele Sorgen um ihn. Aushalten zu müssen, dass er wegen mir in ernsthaften Schwierigkeiten steckt (naja okay, es war schon unsere gemeinsame Entscheidung), ist nicht so einfach. Und ich kann ihm da auch irgendwie gar nicht so viel helfen. Und dann hängt die Studienstadt und alles was dort passiert ist, schon auch noch ordentlich nach.

Irgendwann kommt er rüber ins Wohnzimmer und kriecht zu mir unter die Bettdecke. Ich hätte auch kein Problem damit, einfach den ganzen Tag in seinem Armen liegen zu bleiben. Soviel Nähe, Ruhe und Geborgenheit ist etwas, das ich sehr lange, vielleicht immer, vermisst habe. In diesen Momenten gibt es kein Außen. Keine Dienstwoche ab dem Tag danach. Keine 48 Stunden Dienst innerhalb von 72 Stunden. In diesem Moment gibt es nur ihn und mich; nur das Spüren der anderen Person.
Vor einem halben Jahr hätte ich nicht geglaubt, dass ich so viel Nähe jemals aushalten würde.

Am Nachmittag unternehmen wir noch eine kleine Radtour, die später in der Pizzeria endet.
In diesem Park, den ich im Winter unzählige Male durchquert habe. Und manchmal frage ich mich, was die Mondkind von damals denken würde, wenn sie die Mondkind von heute mit diesem Menschen an ihrer Seite dort sitzen sehen würde. Wahrscheinlich würde sie einen Weltuntergang durch einen riesigen Meteoriten innerhalb der nächsten sechs Monate für wahrscheinlicher halten, als dass dieses Bild real werden könnte.
Es ist ein Wunder. Und das ist mir tatsächlich in jeder Sekunde, wie wir miteinander verbringen, bewusst. Und nachdem die Beziehung mit dem verstorbenen Freund im Untergrund laufen musste, ist das mittlerweile sehr schön, als Paar wahrgenommen zu werden.
Ich glaube auch, diese Beziehung jetzt offen leben zu dürfen – in erster Linie, weil ich mich da auch sehr weiter entwickelt habe und die Abhängigkeiten zum Elternhaus auch sehr viel geringer heute sind – schafft eine ganz andere Qualität. Ich glaube tatsächlich, ich habe noch nie in meinem Leben einen Menschen so sehr geliebt und geschätzt, wie ihn. Ich wusste nicht, dass das Herz so voller Liebe sein kann und es ist so schön, das erleben zu dürfen.

Und selbstverständlich sind wir an diesem Abend viel zu spät im Bett dafür, dass ich am nächsten Tag 24 – Stunden – Dienst habe. Aber das sind die Probleme der Mondkind von morgen.

Montag
Wie immer bekommen wir ein bisschen Stress, weil das Zeitmanagement in der Früh nicht ganz hinhaut. Die letzte Umarmung und der letzte Kuss bevor wir fahren, ist immer der schlimmste Moment des ganzen Wochenendes. Ihn stört es nicht so, hat er mir am Wochenende verraten. Er hat dieses grundlegende Vertrauen, dass wir uns ja bald wieder sehen und darauf freut er sich. Ich habe in diesem Moment Angst, dass wir uns doch nicht mehr sehen könnten. Und in dem Moment nehme ich auch die – hauptsächlich Diensthürden – wahr, die zwischen dem Jetzt und dem nächsten Besuch liegen. Vielleicht ist mir bis dahin wieder irgendwo ein Patient verstorben und vielleicht bin ich daran Schuld.

Dass die Nachbarstadt immer noch hauptsächlich gesperrt ist, macht es nicht einfacher und auf dem Rückweg in den Ort in der Ferne fahre ich gefühlt durch jedes Dorf zwischen den beiden Städten. Zwischendurch ist es nicht möglich mobile Daten zu empfangen und mein Navi klappt dadurch auch die Hufe hoch. Aber irgendwie komme ich doch noch pünktlich an.

Die Intensivstation ist das absolute Kontrastprogramm zu den letzten Tagen und ich merke schon in den ersten Minuten, dass ich emotional nicht hinterher komme. Ich bin ziemlich dünnhäutig nach den letzten Tagen. Da hat sich viel bewegt innerlich und Vieles ist noch aufgewühlt – wie so eine Staubwolke, nachdem man einmal durch den Sand gefahren ist.
Es gibt viele To Do’s heute auf der Intensivstation und wenn es mir nicht gut geht, dann habe ich noch weniger Ambitionen, irgendwo rein zu stechen. Zum Glück gibt es genug andere Anwärter für die Tracheotomie und auch die ZVKs legt wer anders. Ich beschäftige mich mit Dopplern, EEG – Auswertungen und Briefe schreiben. Zwischendurch kommt mein Oberarzt. „Frau Mondkind, es tut mir leid, ich musste sie für noch einen Dienst diesen Monat eintragen.“ Wieder ein Wochenende. Das dritte in Folge im August. Und das zerschießt meinem Freund und mir wieder ein zumindest Ein – Tages – Wochenende, das wir gehabt hätten. Wir sehen uns so selten und gerade steckt mir noch der Abschiedsschmerz in den Knochen, dass mich das wirklich etwas aus der Bahn wirft. Aber da kann man mit ihm ziemlich wenig diskutieren.

Ich komme schon völlig gestresst vom Tagdienst auf der Intensiv in der Notaufnahme an. „Mondkind, wie geht es Dir?“, fragt der Notaufnahme – Oberarzt. „Solange ich auf der Intensiv noch verweilen muss, sehr schlecht“, entgegne ich, obwohl ich weiß, dass die Frage eigentlich eher rhetorisch war. „Und der Oberarzt dort trägt mich ständig für Intensivdienste und Spätdienste ein, wie er will, wobei diese Spätdienste dann auch eher optional sind und er kurzfristig entscheidet, ob die gemacht werden, oder nicht. Das ist doch zum Kotzen. Wer soll so irgendetwas planen?“ „Mondkind, Du solltest doch keine Intensiv – Dienste machen, hatte ich gesagt. Letzte Woche war ich im Urlaub. Wenn ich ein Mal nicht da bin… - ich rede mit Deinem Oberarzt.“ Na mal sehen.
In dieser Nacht ist es nicht die Masse der Patienten, die mich auf Trab hält, sondern die Komplexität. Kurz vor Mitternacht kommt ein Patient mit erstmaligen epileptischen Anfallsereignis, nachdem er vor zwei Jahren einen ausgedehnten Infarkt hatte. Man muss nicht auf großartige Ursachensuche des Krampfereignisses gehen – aber den Krampf zu unterbrechen, das war ein Akt für sich. Stufe I der Therapie, die Benzodiazepine, haben schon mal nichts gebracht. Auch eine Schnellaufsättigung mit einem Antiepileptika hat nur zwischenzeitliche Erfolge gebracht, sodass ich noch ein zweites Antiepileptikum aufgesättigt habe. Zwischenzeitlich bin ich aber mit meinem dünnen emotionalen Fell fast gestorben. Hätte das nicht geklappt, hätte ich ihn intubieren müssen und dann hätten wir dasselbe Drama wie im letzten Dienst gehabt: Wer intubiert ihn und wer bringt ihn rüber auf unsere Neuro – Intensiv, wenn die Intensiv des Haupthauses sperrt, weil sie keine Betten haben? Aber zum Glück ist mir das um Haaresbreite erspart geblieben. Ganz wohl dabei einen komplett komatösen Patienten von der Elefantendosis von Medikamenten sauerstoffpflichtig auf die IMC – Station zu legen, war mir auch nicht, aber ich war zwischenzeitlich so müde von den letzten Tagen, dass ich trotz meiner Sorgen sogar ein Stündchen geschlafen habe, zwischendurch.
Das Tageslicht am nächsten Morgen zu erblicken ist dennoch das erste Highlight jedes Dienstes und den Oberarzt der Notaufnahme am nächsten Früh zu hören, ist dann das zweite Highlight. 

Snack im Dienstzimmer...

Heute Abend steht nur noch Wohnung aufräumen auf dem Programm. Morgen geht es dann schon weiter mit dem nächsten 24 – Stunden – Dienst. Wach bin ich immer noch nicht. Wie ich das machen möchte, weiß ich noch nicht. Und dann auch noch mit der potentiellen Bezugsperson – das muss laufen. Langsam. Einen Fuß vor den anderen. Immer weiter. Nicht stehen bleiben. Wie all die Jahre. Und irgendwann kommt man dann schon an.
Sonntag ist der nächste Dienst und Montag steht ein Spätdienst eingetragen. Ich glaube nicht, dass ich den machen darf, theoretisch ist der Tagdienst völlig unterbesetzt. Aber ich werde mal nichts sagen, wenn mich niemand darauf aufmerksam macht. Und das hoffe ich sehr. Ansonsten wird die Nacht von Sonntag auf Montag auch mit maximal drei Stunden Schlaf enden. Und sollte wirklich niemand etwas sagen, bleibt das Handy Montagmorgen einfach aus. Und dann gibt es noch einen Spätdienst in dieser Woche. Und wenn ich den machen darf, kann ich am Abend vorher meinen Freund besuchen. Nach anderthalb Wochen. Drückt mir die Daumen, dass es klappt.

Mondkind

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