Um ein Konzertwochenende herum
Dann küss' ich dich im Treppenhaus
Endlich wieder Gänsehaut
Ich halt' es nicht bis oben aus
Halt' es nicht bis oben aus
Wir tun so, als ob's wie früher wär'
(LEA – Treppenhaus)
Das könnten so sehr wir sein.
Dass Beziehung so derart kompliziert sein kann, hätte ich im Leben
nicht für möglich gehalten.
Geklärt ist wenig zwischen uns. Aber ohneeinander können wir auch
nicht. Also müssen wir Lösungen finden. Irgendwie.
Donnerstag. Frühs.
Ich treffe eine Kollegin.
„Mondkind, das kann man sich nicht mehr anschauen, wie es Dir geht –
willst Du nicht doch mit uns aufs Konzert am Samstag?“
„Naja, mein Freund und ich sehen sich sowieso nicht am Wochenende…“
Und nach einer kurzen Pause. „Was ist denn das für ein Konzert?“
„Na das ist die LEA, kennst Du die?“
„Ja natürlich. Das hat [die Kollegin] gar nicht erzählt. In so einem
Dorf, in dem das Durchschnittsalter so über 80 ist und es doppelt so viele
Unterarmgehstützen wie Menschen gibt, hätte ich das nicht gedacht. Aber ich
habe auch gar nicht nachgefragt. Hätte sie das sofort erzählt, wäre ich auf
jeden Fall mitgekommen.“
„Na also und das lenkt Dich doch ein bisschen ab. Und dann musst Du
uns mal erzählen, was da bei Euch los ist. Schau wir sind dann nur unter
Mädels, da ist kein Mann dabei. Die Männer sind schwierig Mondkind, das musst
Du noch lernen. Denen muss man auch manchmal zeigen, wo der Hammer hängt.“
Gedanklich versuche ich die Möglichkeit, dass der Freund und ich sich
trennen, schon mal auf Probe mit mir herum zu tragen. Wie fühlt sich das an?
Wäre das denkbar? Wenn ich meine alten Blog- und Tagebucheinträge lese und
sehe, was sich nie mehr wiederholen würde, könnte ich schon jetzt tagelang
weinen. Allerdings war die Lage eben bis vor zwei Wochen anders.
Freitag. Früh.
Über Nacht sind notfallmäßig zwei Patienten auf unsere Station
gekommen, einer davon hat mit NIV – Beatmung die Nacht geschafft, aber heute
muss er intubiert werden. Zwei Patienten sind kurz vor dem Sterben.
Einer davon hat so viele Familienfotos an der Wand hängen – auf einem
davon sitzt er mit seinem Enkel auf dem Schoß, der vielleicht so ein Jahr alt
ist. Jedes Mal wenn ich in dieses Zimmer gehe, dann spüre ich ein
Beklemmungsgefühl in mir. Es ist, als würde die Liebe zwischen diesen Menschen
aus diesen Bildern heraus springen. Letztens war eine seiner Töchter da, die
gerade schwanger ist. Der Schmerz steht ihr schon jetzt in die Augen
geschrieben.
Heute kann ich mich nicht herum drücken, Katheter in Menschen zu
versenken. Wir sind nur zu Zweit, haben beide nicht sehr viel Motivation das zu
tun und heute wäre es einfach nur unkollegial sich zu verstecken. „Sollen wir
einen ZVK legen gehen?“, frage ich meinen Kollegen. „Können wir machen – willst
Du das machen?“ „Ich kann es machen“, entgegne ich. „Ich brauche aber jemanden,
der daneben steht. Nur für meine Sicherheit.“ „Das kann ich machen Frau Mondkind“,
sagt mein Oberarzt. Und dann wird es der erste ZVK bei dem ich mit einem Stich
die Vene treffe, den Draht vorschieben kann und wenige Minuten später liegt der
unblutigste ZVK meines Lebens. Dann lege ich noch eine Arterie, die im zweiten
Versuch gut sitzt und ableitet.
Ehrlich gesagt, ich bin ziemlich stolz auf mich, dass ich das so gut
geschafft habe, meine Ängste überwunden und festgestellt habe, dass es gar
nicht so schlimm ist.
Freitagabend.
Der Freund hat zwischenzeitlich mal eine Mail bekommen, in der ich
nochmal sachlich meinen Standpunkt erklärt habe und mich super doll bemüht
habe, nicht anklagend zu sein; das geht nämlich gar nicht per Mail finde ich.
Das Telefon klingelt. Er wieder. Möchte ich jetzt reden? Ich habe die
Nase sowas von gestrichen voll. Und gleichzeitig ist es mir so wichtig und ich
kann mit diesem „vielleicht“ aktuell auch nicht leben. Anderseits scheint eine
Trennung im Moment wahrscheinlicher, als eine Zukunft. Und ich brauche
Gewissheit.
Es ist ein ganz gutes Gespräch. Ich bin auch nicht so müde und
überreizt, wie beim letzten Gespräch. Er versteht nicht so ganz, wie man so
müde sein kann, dass man zu müde ist um ein Gespräch über die Beziehung zu
führen, aber ich glaube sein Schlafrhythmus war durch den ganzen Schichtdienst
auch noch nicht so im Eimer. Heute schafft es jeder seinen Standpunkt zu
erläutern und nachdem es letztens unmöglich erschien, dass wir uns auch nur
einen Millimeter aufeinander zu bewegen, stellen wir jetzt fest, dass es schon
möglich ist. Es ist mir immer noch zu wenig Klarheit von seiner Seite aus, aber
es entwickelt sich doch in eine recht positive Richtung. Ich bin schon kurz
davor zu sagen, dass ich vielleicht morgen früh zum Frühstück doch komme, aber
ich lasse es. Man soll vielleicht auch mal konsequent sein und vielleicht tut
es uns ganz gut, uns auch mal zu vermissen um zu überlegen, ob wir da nicht
doch Lösungen finden wollen, statt dem eine Trennung vorzuziehen.
Samstag. Früh.
Die Mädels und ich koordinieren sich. Das ist schon ziemlich makaber.
Die Konzertlocation ist mit dem Auto drei Minuten von seiner Wohnung entfernt.
In die Nachbarstadt zu fahren und ihn nicht zu sehen, ist schon ziemlich
hirnverbrannt. Und mein Herz hat Sehnsucht. Er ist auch nächste Woche gar nicht
da; da müssen wir dann ohneeinander auskommen und ich werde es bereuen, dass
ich die Chance habe verstreichen lassen. Allerdings – es hat ja einen guten
Grund, dass wir uns aktuell nicht sehen. Die Situation ist ja nicht so, wie wir
sie vor zwei Wochen hatten.
Und dann fragt er, ob ich heute Abend vorbei komme. Und ich… - breche
darüber ein.
Also planen wir nochmal um. Planen so, dass ich uns alle mit dem Auto
hin bringe – das erspart allen Beteiligen zumindest eine Zugfahrt und zur Not
parken wir beim Freund, sollte es in der ganzen Stadt keine Parkplätze mehr
geben. Und dann gehe ich nach dem
Konzert zu ihm und die anderen fahren mit dem Zug heim.
Ich bin einfach der inkonsequenteste Mensch auf diesem Planeten. „Mondkind,
Du bist absolut hormongesteuert im Moment. Aber mach Dir keine Sorgen, das ist
vollkommen normal“, werde ich belehrt. „Bei Euch beiden ist das schon ein
bisschen wie in so einem Drehbuch, aber es kommt wohl vor.“ „Zum Glück wusste
ich vorher nicht, was da alles noch auf mich wartet“, erwidere ich.
Samstagabend.
Allein die Location ist ein hochemotionaler Ort. Ich habe da schon
viele Situationen und emotionale Zustände erlebt. Als ich in der Klinik war,
bin ich an den meisten Morgen vor der Therapie dort spazieren gewesen und
gerade in den ersten drei Wochen ging es mir so unsäglich schlecht und ich habe
mich so dermaßen verloren gefühlt und nicht geglaubt, dass ich jemals wieder
etwas wie Freude werde empfinden können. Am Silvesterabend waren wir dort und
haben genau in diesem Park über unsere Wünsche fürs nächste Jahr sinniert und
das war so ein Moment voller Stille und Magie mit diesen Kerzen in unserer
Mitte, im Kreis mit den Mitpatienten und der spätere Freund war auch dabei und
irgendwie habe ich damals schon in Bezug auf ihn mein Herz gespürt und fand es
so bewegend, dass wir so eine wertvolle Zeit im Jahr, die voller innerer
Reflexion und Emotionen steckt, gemeinsam verbringen dürfen.
Dann sind der Freund und ich in letzter Zeit mal mit dem Rad durch den
Park gefahren, haben dort Pizza gegessen und das war ein ganz anderer Blick auf
diesen Ort. Die Trostlosigkeit des Winters und in mir drin war weg, es war
Sommer, die Stimmung war so viel besser und ich habe immer mich selbst in
meiner Winterjacke so verloren dort gesehen und hätte mein Ich von damals am
liebsten in den Arm genommen und getröstet.
Und dann ist eben heute Abend hier das Konzert. Genau hinter der
Pizzeria und gegenüber der kleinen Mulde am Fluss, an der wir den Jahreswechsel
verbracht haben. Das erste Mal seit Beginn der Pandemie, dass gute Live – Musik
an meine Ohren dringt; die Bässe, denen sich der Herzschlag anpasst. Gute Live –
Musik generiert für mich so ziemlich die einzigen Momente, in denen das Hirn
nicht in der Vergangenheit oder der Zukunft ist, sondern genau jetzt in diesem
Moment. In dem Schmerz und Freude aktuell sind, je nach Song nebeneinander
existieren können, ohne dass es eine Idee davon gibt was passiert, wenn der
Schmerz bleibt. Emotionen in dem Moment, nur die Musik und ich. Das ist Magie
und wenn ich einen Moment auswählen müsste, in dem ich mich selbst am meisten
spüre, dann wären es diese Momente. Das habe ich bei meinem ersten Konzert
gemerkt, dass Musik die Mauern sprengen kann. Dass da irgendetwas aufbricht,
das sonst von der Angst immer verborgen bleibt und hinterher fühlt es sich an,
als hätte ich mich selbst ein Stück weit gefunden und ein Fühlen zugelassen,
das sonst nicht da sein darf, weil es während des Songs da ist und mit dem Nächsten
wieder verschwindet. Es sind zwei Stunden, in denen ich das Leben und mich
pulsieren spüre und jede Sekunde genieße.
Und das hier hat mich übrigens zwischenzeitlich auch sehr berührt.
Ich weiß noch ganz genau, auf deiner Hand stand meine Nummer
Wir hab'n geknutscht in deinem Zimmer
Bis zum Ende dieses Sommers
Kribbeln in mei'm Bauch und alles hat geflimmert
Kannte keinen Liebeskummer
Bis zum Ende dieses Sommers
Langsam wird der Sommer etwas kälter
An deinem Skateboard kleben schon die Blätter
Und zum ersten Mal hast du keine Zeit
Irgendwas hatte sich bei uns verändert
Ich ruf' dich an und du redest wie ein Fremder
Und ich glaub', ich hab' nie so viel geweint
Ich hab' das nicht gekannt
Mann, ich dacht, ich bin krank
Fühlt sich Liebe so an?
(LEA & Capital Bra – Sommer)
Ich hoffe, dass der Sommer diese Liebe nicht mitnimmt. Ich hoffe es einfach. Aber die Assoziation zwischen dem Ende des Sommers und dem Ende unseres Wirs hatte ich die letzten Tage durchaus auch schon. Als würde das Ende der Sommerekstase auch die Emotionen füreinander mitnehmen.
Als das Konzert zu Ende ist, ist der Zug der anderen Mädels gerade weg
und wir müssen noch ein Stündchen Zeit überbrücken. Wir gehen zurück in die
Stadt auf das Weinfest. Mein Freund hat mir schon am frühen Abend gesagt, dass
er runter in die Stadt laufen, mich abholen und das Auto hoch zu sich fahren
kann – wir brauchen es am nächsten Mittag, damit ich ihn zum Bahnhof bringe –
also kann ich auch ein Gläschen Wein trinken. Sehr lieb von ihm. Wie viel Lust er hat, um 23 Uhr das Haus noch zu verlassen, weiß ich nämlich auch nicht.
Ich bringe die anderen später noch ein Stück in Richtung Bahnhof und
dann biege ich ab in Richtung der zentralen Brücke der Stadt, an deren Fuß wir
uns treffen wollen.
Ich erkenne den Freund an seinem Gangbild auch in der Dunkelheit aus 50 Meter Entfernung. Und als ich schon ein Stück auf ihn zu laufe wird mir klar: Die Idee, dass wir uns meinetwegen trennen, ist halt voll für den Eimer. Ich habe ihn zwei Sekunden gesehen und mein Herz rast. Ich spüre die Tränen in meinen Augen, als wir uns in den Arm nehmen. Jetzt gerade ist es, als würde die ganze Distanz, die da am Telefon entstanden ist, innerhalb einer Sekunde zusammen schmelzen. Ich liebe diesen Menschen einfach und ich möchte nicht ohne ihn sein müssen. Und nach allem was war fühlt sich das an, als hätten wir uns ein halbes Jahr nicht gesehen. Ich hatte zwischendurch so sehr Angst, dass ich mich nie wieder in seinen Armen spüren werde. Jede Umarmung ist immer noch ein Wunder. Gerade in unsicheren Zeiten wie diesen.
Umso schöner, dass wir wenigstens jetzt hier sitzen können.
Es ist um zwei Uhr nachts, als er neben mir auf der Bettkante sitzt, während ich mich schon unter die Decke gekuschelt habe. Er bleibt noch kurz sitzen. Ich bin so erschöpft, dass ich heute kein Wort mehr sprechen und nicht mal den kleinen Zeh bewegen werde. Ich spüre noch im Unterbewusstsein, dass er aufsteht, aber wie er die Kerzen auspustet, bekomme ich gar nicht mehr wirklich mit. Mit dem typischen Geruch seiner Decke in der Nase schlafe ich ein.
Ein eigenartiger Frieden nach dieser Woche. Es gibt Tage, von denen ich weiß, dass ich die im Jahresrückblick erwähnen werde. Heute ist einer davon.
Der nächste Morgen ist dann schon ähnlich dem, was wir kennen. Nur mit
einigen Rückschritten. Mehr Vorsicht. Er kriecht zu mir unter die Decke. Und
irgendwie scheint jede Berührung von ihm heute noch intensiver als sonst zu
sein. Jedes Mal, wenn er über meine Haut streicht, geht in meinem Körper ein
Feuerwerk los. Ich könnte dort noch stundenlang liegen, aber irgendwann müssen
wir aufstehen, weil er zum Zug muss.
Wie immer ist unser Zeitmanagement eine einzige Katastrophe und mit
einer gesperrten Straße bin ich schon ziemlich gestresst auf dem Weg zum
Bahnhof. Seinen Zug schafft er fast mit einer Punktlandung. Schon als wir beide
noch dort stehen und einen letzten Kuss austauschen, fällt mir aus dem
Augenwinkel ein älterer Herr auf. Mein Freund verschwindet im Zug und ich stehe
noch kurz da und genieße die letzten Sekunden, in denen wir noch nicht hunderte
Kilometer getrennt sind, wenn er die Woche über an seinem Ausbildungsort ist.
„Ist immer schwer seinen Freund zu verabschieden, oder?“, sagt der
ältere Herr und schaut mich an. „Ja ist es…“, sage ich.
Auf dem Heimweg läuft was? LEA natürlich.
Ich sag', was ich meine, aber das eine kommt nicht raus
Ich seh' in deinen Augen so viel von mir, siehst du mich auch?
Und wenn ich dich frag', was das hier für dich ist
Mach' ich dann alles kaputt? Mach' ich dann alles kaputt?
Und wenn ich dir sag', dass du viel mehr für mich bist
Mach' ich dann alles kaputt? Mach' ich dann alles kaputt?
(LEA – kaputt)
Das spiegelt unsere Situation vom April und Mai so gut wieder. Und ich
hoffe so, so sehr, ich werde den Mut den ich damals gebraucht habe, nicht
irgendwann bereuen. Ich hoffe, ich werde nicht irgendwann glauben müssen, dass
ich diesen Menschen viel zu früh aus meinem Leben geschossen habe. Ich hätte
ihn in einer sicheren Beziehung noch eine Weile behalten können. Jahre, wenn es
hätte sein müssen. Nur gesund und zufriedenstellend wäre das auch nicht
gewesen.
Der Plan ist, dass ich ihn Freitagabend – nachdem ich noch für uns
beide eingekauft habe – wieder vom Bahnhof abhole und wir dann zusammen zu ihm
fahren. Und ich hoffe, dass wir mal eine Woche ohne Katastrophen schaffen.
Ich hoffe, dass wir eine Zukunft haben können.
Ich hoffe, dass wir uns irgendwann umdrehen und sagen können, dass es
ein so schwerer Start war, aber dass wir es geschafft haben. Und dass wir
vielleicht irgendwann ein gemeinsames zu Hause, ein gemeinsames Nest kreieren
können, eine Home Base, von der jeder weiß, dass er spätestens dort wieder
sicher ist.
Mondkind
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