Von Gesprächen und deren Nachwirkungen
Sonntag. Nachmittag.
An einem Ort hunderte Kilometer von hier entfernt. Das Mobiliar ist
schon ein bisschen in die Jahre gekommen. Es gibt Gruppenräume, in denen Stühle
im Kreis stehen, in der Mitte ein Gesteck arrangiert ist und eine Kerze brennt. Ein
Café, das nach mehr klingt, als es ist. Und wunderschöne Natur rund herum. Es
gibt zwei Seen, die dazu einladen sie zu umrunden und nicht weit entfernt sind
die Berge, deren Gipfel in den Wolken verschwinden.
Ich sitze draußen auf einer Bank unter einem Dach. Es schüttet wie aus
Eimern – wahrscheinlich das erste Mal seit Wochen und mir ist fast ein bisschen
frisch. Es sind die längsten anderthalb Stunden der vergangenen Wochen und –
vielleicht – Monate. Ich spüre mein Herz und ich habe Angst.
Und dann sehe ich ihn, wie er über die Wiese zu mir spaziert kommt. Ich springe auf und laufe auf ihn zu. Ich bin so emotional aufgewühlt, dass ich mich sehr bemühen muss, nicht zu weinen, als er mich in den Arm nimmt. „Wie war es?“, frage ich. „Die waren nicht nett, aber freundlich“, meint er. Und nach einer Pause. „Ich glaube aber, ich habe mich ganz gut angestellt da drin."
Wenig später sitze auch in den Raum, aus dem gerade mein Freund kommt. Ich soll mich wohl auch gut anstellen. Und nach knapp einer Stunde ist das Resultat: „Ich bin froh, dass ich Sie heute beide gesehen und erlebt habe und auch erfahren habe, wie klar und reflektiert Sie mit der Situation beide umgehen. Sie wissen genau, was Sie da gemacht haben. Da ist Ihnen etwas sehr menschliches passiert in einer der ungünstigsten Situationen, in denen das passieren kann.“
Durch ist das Ding damit nicht. Noch lange nicht. Das kann sich noch
Wochen und Monate ziehen, wurden wir belehrt. Es ist viel Belastung. Sehr viel.
Für ihn, für mich, für uns.
Bis wir zu Hause sind, ist es weit nach Mitternacht. Ich falle ins
Bett und schlafe so lange, bis ich am Morgen eine Hand auf meiner Schulter
fühle.
Ich bin sehr, sehr müde und emotional komplett erschöpft. Sowohl
privat als auch beruflich kommt keine Ruhe mehr rein. Und das heißt nicht, dass
ich etwas bereue, von dem was passiert ist. Obwohl ich mir natürlich wünschen
würde, dass es einfacher wäre. Und ich nicht – wie es formuliert wurde – von
einer hochkomplizierten Beziehung in die nächste hochkomplizierte Beziehung
rutschen würde. Die auch nicht uns allein gehört. In der alle Motive, Ideen,
Reflexionen offen gelegt werden müssen. In der es wieder so viel Bewertung von
außen gibt. Von der wieder klar ist, dass die so nie hätte existieren dürfen.
Ich kann noch nicht fallen in diese Beziehung. Immerhin war auch am Wochenende
ein von Außen aufoktroyiertes passageres Kontaktverbot im Gespräch. Aber es ist eben so. Es gab nur diese Möglichkeit. Oder nichts. Und für nichts war da zu viel zwischen uns. Ich hätte ihn vermisst. Sehr. Und mich wohl immer gefragt, was passiert wäre, hätten wir mehr gewagt.
Der Ort an dem ich saß und gewartet habe |
Heute
Telefon.
Der Notaufnahme – Oberarzt.
„Mondkind, ich wollte mit Dir sprechen.“ Mir ist schon klar, dass es
um den Dienst am Freitag geht. In dem ich mitten in der Nacht ein
interdisziplinäres Polytrauma hatte, das am Ende neurologisch aufgenommen wurde
und am nächsten Tag verlegt wurde, weil die Neurologie da nun mal im
Hintergrund steht. Das hatte ich auch in der Nacht erkannt, aber mein
Hintergrund - Oberarzt war da anderer Meinung. Und dann gab es am Freitag eine
ziemliche Eskalation in der Frühbesprechung.
„Gibt es noch die Sessel vor der Intensivstation?“, fragt er. „Ja“, entgegne ich. „Dann warte dort, ich bin in zwei Minuten da.“
„Es geht um Freitag Mondkind“, sagt er. Ich nicke. „Mondkind, wir
schätzen Dich alle wirklich sehr und von Dir möchte ich sehen, dass Du in zwei,
drei Jahren Deinen Facharzt machst. Ich habe Dich in der Notaufnahme gesehen
und ich weiß, dass Du die Neurologie kannst. Wir alle verlassen uns auf Dich im
Dienst und das können wir auch machen. Alle Oberärzte arbeiten gern mit Dir,
weil wir wissen, dass wir uns keine Sorgen machen müssen. Du machst Deine Sache
gut und wenn Du Hilfe brauchst, dann meldest Du Dich. Du bist nur immer schon
sehr still und im Moment bist Du noch stiller. Du darfst nicht so viel Angst
haben. Du musst Dich mehr trauen. Wenn ein Patient nicht in die Neurologie
gehört, dann musst Du auf den Tisch hauen und sagen, dass der Oberarzt dann
eben selbst antanzen muss.“
Ich nicke. „Nochmal Mondkind, ich bin nicht böse auf Dich, Du hast
keinen Behandlungsfehler gemacht, auch wenn ich da am Freitag ziemlich
aufgebracht war. Aber Du musst Dich durchsetzen.“
Und kurze Zeit später. „Was ist überhaupt los bei Dir Mondkind? Passt
etwas nicht? Du bist immer schon schüchtern und vertraust Dir und Deinen Fähigkeiten nicht, aber aktuell bist Du besonders
zurückhaltend.“ „Es ist privat ziemlich viel Stress“, sage ich nur. Und in den Augenwinkeln spüre ich schon die Tränen, die ich gerade noch zurück halten kann.
Und während ich da so mit meinem Oberarzt sitze, wird mir bewusst,
dass das wahrscheinlich eine ganz alte Geschichte ist. Darüber habe ich die
Tage schon mal leise nachgedacht, weil mir selbst aufgefallen ist, dass ich
sehr viel Angst auf der Arbeit habe.
Ich bin so aufgewachsen, dass ein Privatleben neben dem Job fast per
Gesetz nicht funktionieren kann. Als müsste es jetzt so sein, dass ich viel zu wenig
Energie, Zeit und Gedanken in die Arbeit investiere und dadurch automatisch
schlechter werde. Und ich kann immer noch nicht verstehen, dass ein Privatleben
neben dem Job das Normalste der Welt ist. Und jetzt habe ich Angst, dass es
auffällt. Dass man mich verurteilt, weil ich einen Freund habe. Weil man
glaubt, dass ich dadurch automatisch weniger gut arbeiten kann. Und weil es im
Zusammenhang mit meiner aktuellen Prioritätensetzung immer noch ein
Schuldgefühl gibt.
Im Moment habe ich tatsächlich unglaublich viel Angst, allein wenn ich nur auf der Arbeit sitze.
Am Donnerstag ist schon der nächste Dienst. Mit der potentiellen
Bezugsperson. Er bewertet mich halt auch immer. Jeder Dienst mit ihm ist ein
bisschen wie eine Prüfung.
Ich bin echt urlaubsreif. Noch knapp zwei Wochen. Und dann habe ich
das erste Mal seitdem ich arbeite, zwei Wochen am Stück Urlaub. Ihr wisst
nicht, wie sehr ich mich darauf freue.
Langsam sind die Reserven wirklich erschöpft.
Mondkind
Kommentare
Kommentar veröffentlichen