Von den letzten Tagen

Sonntagabend.
Wir telefonieren seit bestimmt fünf Stunden. Es ist zwei Uhr in der Nacht. Für meinen verschobenen Schlafrhythmus ist das kein Problem, aber so langsam sickert doch die Vernunft durch. „Wir sollten ins Bett gehen“, sage ich. „Machen wir morgen was?“, fragt er. „Naja, wir können eine Runde telefonieren“, gebe ich zurück. „Nein, ich meine, ob wir uns auf einen Kaffee treffen wollen“, fragt er. „Du weißt schon, dass Du rund 400 Kilometer weit weg bist“, sage ich. „Dann setze ich mich ins Auto und bin in dreieinhalb Stunden bei Dir“, sagt er.
 
Montagabend.
Es ist spät. Er wollte um 19 Uhr wieder fahren, mittlerweile ist es 21 Uhr und beinahe dunkel. Nachdem wir bestimmt fünf Runden durchs Dorf gelaufen sind, auf der Burg waren, einen Kaffee getrunken und etwas gegessen haben, sitzen wir auf einer Bank in der Nähe der Stadtmauer; ich im Schneidersitz.
Die Vögel zwitschen im Hintergrund und es ist so kalt, dass wir mit den Zähnen klappern.
„Was ist Sinn für Dich?“, fragt er. „500 Zeichen für eine Frage – damit kann man ein ganzes Cafe – Date füllen“, gebe ich einen kleinen Insider zurück, ehe ich ein bisschen nachdenke. „Für Sinn gibt es mehrere Ebenen. Natürlich sind Dinge, die man tun kann, sinnstiftend. Ich würde unseren Job als sinnstiftend bezeichnen und es hat immer Sinn etwas für die Gesellschaft zu tun, für andere Menschen in Notsituationen da zu sein, sie auf einem kleinen Weg ihrer Heilung zu begleiten. Und dennoch ist das für mich als Individuum nicht unbedingt Sinn. Sinn hat für mich ganz viel mit Zwischenmenschlichkeit zu tun. Sinn bedeutet für mich, Dinge gemeinsam erleben, Erinnerungen zu teilen, füreinander da sein - eben Dinge die verbinden, die zwischen einem anderen Menschen und mir stehen. Wie ein unsichtbares Band. Und deshalb ist Sinn auch ein Stück Identität und der Verlust von engen zwischenmenschlichen Bindungen auch immer ein bisschen Identitätsverlust.“
„Das kann ich verstehen“, sagt er.
 
„Wann hören wir uns wieder?“, fragt er.
„Wie hast Du Dienst morgen?“, entgegne ich.
„Spät“, sagt er. „Ich bin 22:30 Uhr zu Hause.“
„Naja, ich habe Dienst übermorgen“, gebe ich zu bedenken
„Na dann musst Du schlafen. Wir können uns ja schreiben. Ich les es dann später und Du liest mich am nächsten Morgen.“
 
„Wie musst Du am Wochenende arbeiten?“, fragt er.
„Sonntag“, sage ich.
„ich habe Donnerstag bis Sonntag frei. Dann fahre ich Freitag los, hol Dich von der Arbeit und bleibe bis Samstag. Ich suche mir auch irgendwo eine Pension.“
„Naja… - überlegen wir mal noch. Du kannst vielleicht auch im Arbeitszimmer schlafen.“
 
Wir stehen an seinem Auto. Haben uns zur Verabschiedung in den Arm genommen. Stehen uns etwas unbeholfen gegenüber.
„Noch eine Umarmung?“, frage ich.
Und dann nimmt er mich nochmal in den Arm.

 




***

Eigentlich dekompensiert es erst danach.
Über Fragen, die ich kaum traue mir selbst gegenüber zu stellen.

Ich spüre, dass er sich Mühe gibt. Dass ich ihn mögen könnte. Auf einer rein zwischenmenschlichen Ebene. Aber da fehlt eben – bis jetzt – die Anziehung. Die Frage ist: Muss es einem am Anfang – wie eine Freundin das mal formulierte – das Gehirn weg blasen? Ob eine Beziehung Zukunft hat, sagte sie, kann man vielleicht dann erahnen, wenn man mal einen Schritt zurückgeht. Die wichtigen Fragen stellt, die wichtig für die Zukunft sind: Können wir Verantwortung übernehmen? Für uns und die Familie, die wir vielleicht gründen wollen? Könnten wir als Team harmonieren, sind wir füreinander da, gibt es ein Miteinander? Und  dann – so sagte sie – muss man sich vielleicht in dieses Miteinander verlieben.
Und ist das nicht unfair, dass ein Mensch sich so viel bemühen kann und da trotzdem so wenig Gefühl ist? (Vielleicht liegt es auch an der aktuell vorherrschenden kleinen depressiven Auslenkung, ich fühle nämlich auch sonst ungefähr nichts, wenn ich nicht gerade traurig bin; aber das bin ich immer noch sehr viel).

Und dennoch spüre ich die ganze Zeit, dass etwas fehlt. Dass Fehlen immer wieder so präsent werden kann, ist schon erstaunlich. Jetzt, wo da ein männliches Wesen neben mir sitzt ist es, als hätte der ehemalige Freund mich erst eben los gelassen. Als wären wir eben noch nebeneinander wach geworden.
Ich seh den Frühling und ich kann nicht anders, als mir immer noch zu wünschen, wir hätten diesen Frühling gemeinsam erleben können. Ich hätte wieder mit Alexa Feser laut aufgedreht die Landstraßen entlang fahren können, ich hätte wieder die erste Umarmung und den ersten Kuss im Flur erleben können, ich hätte ihn abends im Bett hinter mir spüren können.
Und manchmal denke ich, ich werde nie einen Menschen finden, auf den mein Herz mehr anspringen wird.
Und gleichzeitig ist es unfair diesem Menschen gegenüber, der da neben mir sitzt. Der mich vielleicht auf einer zwischenmenschlichen Ebene so viel mehr sieht. Der absolut gar keinen Druck mit nichts macht. Dort, wo wir nebeneinander sitzen spüre ich, dass das zwischen uns so viel horizontaler ist. Ich habe keine Angst mehr etwas Falsches zu sagen oder zu machen, so wie das mit dem ehemaligen Freund am Ende war. „Ich kann mich unter ihm nicht mehr bewegen“, habe ich am Ende mal geschrieben, weil es sich angefühlt hat, wie eine permanente Bewertungssituation in der es sich angefühlt hat, als hätte ich in seinen Augen permanent versagt. Das hat mich irgendwann so sehr an diesen Spießrutenlauf zu Hause erinnert und ab dem Punkt war eigentlich klar, dass diese Beziehung nicht mehr rettbar ist, wenn wir ehrlich sind. Oder die zumindest einen Reset erfordert, aber das hat er dann wieder nicht verstanden.

Der Mensch da neben mir, der kommt aus der Stadt, in der ich geboren wurde.
Und obwohl ich selten eine Verbindung zu dieser Stadt gefühlt habe, weil ich da nicht lang gelebt habe, macht es mir irgendwie bewusst, wie viel Familienzusammenhalt da wohl immer gefehlt hat. Unsere Familie war so ruhelos, ist von einem Ort zum Nächsten gezogen, nie zurück zu den Wurzeln gekommen und vielleicht klopft das auch an dieses Gefühl von Heimatlosigkeit, das ich ohnehin habe.

Und dann denke ich daran, dass er verstorbene Freund in wenigen Tagen Geburtstag hat. Und ich frag mich wie das wäre, wäre er immer noch hier. Ich hätte mir viel Traurigkeit erspart. Sehr viel.

Und neben dem zwischenmenschlichen Chaos hält mich mein Gemütszustand, der schon vorher nicht gut war, immer noch auf Trab.

Und irgendwie konnte ich dann nicht mehr reden. Wie soll ich denn erklären, dass die Kollegen mich morgens in den letzten zwei Wochen mehrfach gefragt haben, ob ich auch nur eine Minute geschlafen habe in der Nacht und ich gleichzeitig noch Kapazitäten habe, mich mit irgendwelchen Typen zu treffen. Solange, wie der Job nicht rund läuft, sollte man nichts anderes tun als sich bemühen, dass das besser klappt.
Wie soll ich erklären, dass da jemand neben mir sitzt und ich immer noch das Alte vermisse.
Wie soll ich erklären, dass ich vielleicht mit dem Frühling aufstehen könnte, aber absolut nicht bereit dafür bin?
Wie soll ich erklären, dass ich mich auf der einen Seite wirklich ums Leben bemühe und das auf der anderen Seite immer noch für sinnlos halte, wenn es nicht mehr werden kann, wie es mal war.

***
Der Intensiv – Oberarzt, der von dem Meisten was hier los ist nichts weiß, befindet wir sollten uns zeitnah zusammensetzen. Reden. Aufräumen. Das Thema Medikamente nochmal besprechen. Er kam allein zu der Idee nach den ersten Zipfeln Information und ich habe Angst, dass er mich verurteilt.

Donnerstagabend.
Der ehemalige Freund ruft an.
Ein bisschen kennt er mich auch noch.
Spürt, dass irgendetwas ist.
Und irgendwie erzähle ich dann alles. Mit vielen Tränen; ich habe selten so viel geweint, wenn wir geredet haben. Obwohl er wahrscheinlich der am wenigsten geeignete Mensch ist und ich mich nebenbei frage, ob das überhaupt noch gegenüber diesem neuen Menschen vertretbar ist, dass wir noch reden. Aber wir sind ja noch weit davon entfernt, in einer Beziehung zu sein.
Tatsächlich ist der ehemalige Freund gar nicht böse. Ich weiß nicht, ob ich das könnte. Wenn er mir erzählen würde, dass er da wen kennen gelernt hat. Ich würds ihm wünschen, dass er nicht allein bleibt, aber ich würde es nicht wissen wollen. Und irgendwie tut es gut, es zumindest an einer Stelle erzählt zu haben. Die Worte wieder fließen zu spüren, die irgendwie stecken geblieben sind.

Ich hab immer noch Angst. Weil das hier alles so instabil ist.
Nächste Woche ist – wie wir Freitag gelernt haben – Stroke Unit Rezertifizierung.
Und wer soll da von den Assistenten die erste Geige spielen? Die Mondkind natürlich. Wie soll ich denn das noch machen? Theoretisch müssen bis Mittwoch noch allerhand Dokumente überarbeitet werden, aber ich habe halt auch einfach Dienst morgen. Und ich bin müde. Es fühlt sich an, als möchte ich eine Woche mal nur schlafen.

Ich weiß nicht, ob man irgendetwas versteht.
Von dem, was ich zu sagen habe. Von dem, was da in Gefühl ist, das kaum greifbar ist.
Ich glaube, der größte Wunsch wäre, das letzte Jahr nochmal wiederholen zu dürfen. Und egal wie unfair das ist, aber das war das beste Jahr meines Lebens. Und zu wissen, dass ich das einfach nicht halten konnte, wird immer weh tun.
Es schien so okay. Endlich haben die Rahmenbedingungen gepasst mit einem festen Job, finanzieller Sicherheit, Abstand zur Familie und dann war da noch der beste Mensch im Leben. Vielleicht sind Wunder eben nicht da, um zu bleiben. Vielleicht ist das allen Menschen klar, nur mir nicht. Ich habe wirklich gedacht, wir bleiben. Und leben.

Mondkind


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