Reflexion

Ich wüsste manchmal gern, was wir uns dabei gedacht haben.
In diesem Neuronensturm vom letzten Sommer.

Vielleicht haben wir beide nur etwas gebraucht.
Die endgültige Trennung vom ehemaligen Freund war bestimmt gerade erst vier Wochen her. Es war am Ende so respekt- und würdelos, als Frau und Freundin – oder eben schon fast Ex – Freundin - nur auf die Sexualität reduziert zu werden, dass ich diese Wut kaum aushalten und kanalisieren konnte.
Ich hab’s vermisst. Was ich paradoxerweise am meisten vermisst habe, war körperliche Nähe. Nachdem ich nach so langer Zeit mal wieder einen Mann gespürt habe, wollte ich das nicht vermissen müssen. Ich kann mich erinnern. An diesen Sommerabend. In der Wohnung des Kardiochirurgen am Fenster mit Ausblick über die Stadt. Seine Hand, die sich unter mein T – shirt geschoben hat. Die augenblicklich dafür gesorgt hat, dass jede Faser meines Körpers auf diese Berührung ausgerichtet war. Der erste Kuss. Das Gefühl für Jemanden genug zu sein.
Irgendeine Form von ganz tiefen Frieden. Fallen lassen. Sein.
Sollte das tatsächlich so einfach sein? Normalerweise stehen doch geeignete Typen nicht an jeder Ecke herum…

Was er gebraucht hat, weiß ich nicht.

Es war, als wären unsere Fässer von zwischenmenschlicher Nähe beide leer gewesen.
Als würde es erstmal nur ums Spüren gehen.
Bevor wir nachdenken konnten, ob das eine schlaue Idee ist. Ob das wirklich passen könnte. Nicht nur menschlich. Sondern organisatorisch. Macht das in irgendeiner Weise Sinn, wenn doch beide schon quasi mit dem Job verheiratet sind?



***
Immer wieder.
Es gibt keine Ruhe mit diesem Thema.
Bald zwei Wochen ist dieser Dienst jetzt her. Schlimm war er nicht. Nur dieser Patient lässt mich nicht los. Mit dem ich da saß. Zu später Stunde. Mich augenblicklich zurück katapultiert gefühlt habe.
Seitdem verschwimmt das Gestern und das Heute irgendwie. Ich hätte schwören können, dass ich den verstorbenen Freund in den letzten Tagen an mehreren Ecken gesehen habe. Manchmal habe ich die Vorstellung, dass er vielleicht einfach nur abgetaucht ist und jetzt von Zeit zu Zeit mal hier im Ort vorbei schaut und guckt, was ich so mache. Wäre irgendwie eine schöne Vorstellung. Aber ich weiß, dass das nicht so ist. „Ganz taufrisch sieht er auch nicht mehr aus“, meinte die Kripo damals. Er taucht nicht mehr auf.

Aber jetzt hier gerade sitze ich bei einer Kollegin.
In der letzten Sektion war das Thema nochmal auf den Patienten gefallen und man wollte wissen, wie ich ihn wahrgenommen habe.
„Ich war unsicher mit ihm“, habe ich gesagt. Und schwer geschluckt.
„Willst Du nachher mal zu mir kommen?“, hatte sie gefragt. Und ich hatte zugestimmt.
„Er hat mich wahnsinnig gemacht“, höre ich mich sagen. „Weil er so unkonkret war. Weil ich wusste, dass er mit dem Thema spielt. Dass er das nutzt, um mich zu binden. Ich glaube, noch vor ein paar Jahren wäre ich da nicht so rein gesprungen und hätte die halbe Klinik verrückt gemacht. Aber wenn man es im privaten Umfeld erlebt hat, dann will man das kein zweites Mal. Und wenn nur die minimale Chance besteht, dass das schief geht, kann ich da nicht mehr zuschauen.“
„So etwas ähnliches habe ich mir schon gedacht“, entgegnet sie. „Deshalb wollte ich da in der Sektion nicht weiter sprechen, um Dich nicht unter Druck zu setzen.“ Sie erklärt nochmal, dass diese Unsicherheit, die ich da gespürt habe, viel mehr vom Patienten ausgeht. Weil das sein Beziehungsangebot ist. Weil er Beziehung nicht anders kann. Weil er die Menschen nur im Kontakt halten kann, wenn sich alle Sorgen machen. „Aber du musst ihm am Ende klar machen, dass nicht das Umfeld explodiert, wenn am Ende doch etwas passiert. Sondern, dass er sich selbst auslöscht. Das ist in so hohem Maß destruktiv - ich weiß nicht, ob ihm das bewusst ist. Er streut es seit Wochen überall ein, als wäre das nichts und wundert sich, wenn wir reagieren“ Ich nicke. „Und wenn er Dir diese Granate in die Hand drückt, dann gib sie ihm zurück und sag ihm, er soll jetzt erstmal diesen Zünder raus basteln. Du musst nichts annehmen, das Dir die Patienten überstülpen. Du darfst sagen, dass Du Dich in diesem Kontakt gerade sehr unwohl fühlst und dass er jetzt ins Arbeiten kommen muss und Du Verbindlichkeit von ihm brauchst, oder die Konsequenzen ziehst.“
Wir sind eine Weile still. „Eigentlich wäre es gut, wenn Du ihm im Dienst nochmal begegnen würdest. Und ihm dann sagen könntest: Der Kontakt mit Ihnen hat echt etwas in mir ausgelöst und zwar nichts Positives. Und ich glaube, das ist Ihr Problem in der Beziehungsgestaltung und auch ein Aspekt davon, dass Ihre zwischenmenschlichen Beziehungen immer wieder scheitern. Weil das Keiner auf Dauer mit Ihnen aushält. Ich würde gerne mit Ihnen in Kontakt sein – aber nicht so.““


„Und jetzt zu Dir – willst Du reden?“, fragt sie.
„Nein“, entgegne ich. „Ich hab schon viel mehr gesagt, als ich hier je sagen wollte“, füge ich hinzu. Und nach einer Weile: „Es stresst mich wirklich, aber ich habe von Anfang an klar gesagt, dass ich das trennen möchte.“
„Kann ich verstehen“, sagt sie. „Du machst Deine Arbeit aber hier sehr gut. Dass hat jeder von Anfang an gemerkt, dass Du richtig motiviert bei der Sache bist.“ „Ich hab manchmal Angst, dass ich das mit meiner Vorgeschichte nicht gut kann. Weil so etwas immer wieder passiert. Und ich möchte aber gern in diesem Job bleiben können“, sage ich. „Naja, auch Therapeuten sind Menschen und erleben so ihre Dinge. Für Dich wäre es wichtig, dass Du gut damit sein kannst. Dann kann das auch eine Bereicherung sein für die Arbeit. Und für die Patienten. Am Ende brauchen nicht nur wir Behandler Klarheit. Sondern auch die Patienten. Depressionen können zu Suizidalität führen, das ist grundsätzlich in Ordnung und nicht zu verurteilen. Nur dann braucht es eben eine klare und konsequente Behandlung. Die Patienten, die sich da immer wieder rein drehen, das hat bei denen meistens etwas mit Beziehung zu tun. Und wenn Du das aufgreifen und denen verständlich machen kannst, worum es da geht, dann kannst Du richtig gut damit arbeiten und dann verstehen die Patienten auch, was die da machen. Und wenn Du denen dann signalisieren kannst „ich bin da, auch ohne dass Du ständig Dein Umfeld quälst“, dann hast Du richtig was gewonnen für den Patienten.“
Ich nicke.
„Vielleicht fängst Du mal an mit Selbsterfahrung“, schlägt sie vor. „Dann hast Du das ganze Thema raus aus dem Krankenhauskontext. Ich würde das machen, bevor es mir komplett um die Ohren fliegt. Was machst Du denn, wenn sich mal einer von Deinen Patienten suizidiert? Das kann passieren…“
„Naja, wie soll ich Selbsterfahrung, Neuro lernen und Psychosomatik auf die Reihe bringen?“, frage ich. „Es ist halt die Frage: Wenn es Dich im Moment so beschäftigt – ob Du da nicht Entlastung brauchst und das nochmal bearbeiten musst. Da geht ja auch viel Energie verloren, die Du aber doch für das Lernen brauchst.“ Ich nicke. „Lernen kann man nur, wenn es einem mental gut geht“, sagt sie. Diesen Satz habe ich zwar so noch nie gehört und ehrlich gesagt ging es mir oft ziemlich schlecht im Studium und irgendwie habe ich ja auch das Examen geschafft, aber die Frage ist, ob man sich immer so quälen muss. Und vielleicht habe ich eine Stunde in der Woche auch noch Zeit für so etwas. Na gut. Inklusive Hin- und Rückweg.

Und trotzdem kann auch der Plan von Selbsterfahrung nicht so schnell Entlastung bringen, wie ich sie jetzt gefühlt brauche. Und irgendwie schäme ich mich tatsächlich auch immer mehr. Weil ich immer mehr glaube, wir haben das Offensichtlichste nicht gesehen und nicht beachtet.
Und am Ende geht es auch viel um Fragen. Auf die die Antworten ohnehin ein ganzes Leben lang fehlen werden.
Heute denke ich darüber nach, ob nicht der Ursprung dieser Eskalation in dem Moment auch eine Beziehungssache war. Ohne Frage war er krank. Aber auch super enttäuscht, dass wir uns wenige Tage vor seinem Tod nicht sehen konnten. Weil er ungeplant aus der Psychiatrie entlassen wurde und ich an dem Tag mit dem Zug zurück musste und Dienst hatte am nächsten Tag. Wir hatten noch gesprochen und es ließ sich nicht organisieren, obwohl ich es mir auch gewünscht hätte. Ich würde nur eine Woche arbeiten müssen, dann hätte ich wieder Urlaub gehabt. Ich habe ihm versprochen, dass wir uns da sehen. In jedem Fall.
Aber was ist, wenn in der Enttäuschung über meine Abreise wieder die Suizidalität hoch gekommen ist? Ich wusste, dass ihn das kränkt, aber die klare Verbindung habe ich nicht bemerkt. Und was ist, wenn er gemerkt hat, dass nicht mal das hilft? Dass ich ihm erkläre, dass er in die Notaufnahme muss – was er nicht mehr wollte – oder ihm sage, er kann sich in den Zug setzen und kommen, was aufgrund der Angststörung nicht ging. Aber es ist kein Gespräch über die wahren Bedürfnisse entstanden. Ich habe nicht gesagt: „Ich weiß, dass Du möchtest, dass wir uns sehen und dass Du Angst hast, dass das eine Aussage über unsere Beziehung ist, dass ich jetzt abreisen muss. Dass Du wollen würdest, dass ich nicht fahre oder zurück komme und gleichzeitig weißt, dass es nicht geht und Dich das vielleicht gerade ohnmächtig fühlen lässt.“ Dann wäre es vielleicht zumindest ausgesprochen gewesen. Dann hätten wir gemeinsam überlegen können, wie wir die Zeit, bis wir uns sehen können, gut überbrücken können.

Ich dachte, ich hätte alles durchgesponnen über die Zeit. Aber die fachliche Sicht auf das Thema, auf die Dynamik dahinter bringt nochmal so viele neue Aspekte auf den Tisch, dass es mich fast erschlägt. Ich weiß, dass nichts davon noch etwas ändern wird. Dass es sich wahrscheinlich nicht mal lohnt, sich so viel den Kopf zu zerbrechen.
Und doch fühlt es sich im Kopf an, wie fünf Minuten nach einer Explosion. So viel Nebel und so viel Schutt.

Mondkind

Bildquelle erstes Bild: Pixabay

Kommentare

  1. Hey, kann dir den Podcast "In extremen Köpfen" von Leon Windscheid empfehlen. Vielleicht hilft die aktuelle Folge dir ja ein bisschen weiter, deine Gedanken ein wenig zu ordnen...
    Liebe Grüße und danke für die interessanten, fast täglichen Einblicke. Du kannst wirklich richtig gut Schreiben und es macht viel Spaß, deine Texte zu lesen!

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    1. Guten Morgen,
      Danke für das liebe Kommentar :)
      Den Podcast schaue ich mir mal an, ich suche gerade sowieso etwas auf die Ohren beim Wohnungsputz :)

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