Schnipsel der letzten Tage

Neuro.
Die Neuro war vier Jahre lang mein Leben. Über vier Jahre. Und wenn man all die Jahre mitzählt, in denen ich mich emsig darauf vorbereitet habe in die Neuro gehen zu dürfen, wären es noch viel mehr. Ohne die Neuro wäre vieles nicht passiert. Ich wäre sicher nicht umgezogen, sondern wahrscheinlich irgendwo in der Nähe der Großstadt geblieben. Ich hätte den Ruhrpott nicht verlassen. Keine Ahnung, wo ich gelandet wäre. Keine Ahnung, ob der Freund gestorben wäre. Keine Ahnung, ob ich es so lange in der Medizin ausgehalten hätte. Keine Ahnung, ob meine Schwester auch die Koffer gepackt hätte und in den Norden gezogen wäre.
Ich glaube, an dieser Entscheidung für die Neuro hing mehr, als ich es damals sehen konnte.

Und jetzt…? Wie oft habe ich von Menschen, die nicht meine Familie waren, Skepsis gehört. Nicht genug Begeisterung für dieses Fach. Wie oft habe ich die Frage gehört: „Wollen Sie überhaupt Medizin machen?“ Habe ich mich je getraut, das zu hinterfragen? Meine Schwester und ich wurden da rein geschmissen mit 19. Die Strukturen waren nicht so, als dass man sich hätte großartig wehren können. „Nach dem ersten Staatsexamen bricht man nicht mehr ab“, war die gängige Meinung zwei Jahre später. Und überhaupt… - für das Umfeld wäre alles, was nach der Medizin gekommen wäre, nur Verlust gewesen.

Die Neuro war meine erste Stelle. „Das muss so sein“, habe ich mir gedacht. Es muss so sein, dass man täglich vier Überstunden macht, dass man morgens schon flucht, wenn der Wecker klingelt. Dass Übermüdung an der Tagesordnung ist, dass es einem nach den Diensten körperlich so schlecht geht, dass man es eigentlich nur in der abgedunkelten Wohnung aushält. Aber weil man ja mal Termine erledigen muss, legt man die auf die Nachmittag von dienstfreien Tagen und läuft herum, wie ein Zombie. Das ist so, wenn man Medizin macht.
Der Job muss nicht unbedingt Spaß machen, war die gängige Meinung, mit dem muss man nur Geld verdienen und Ansehen gewinnen.

Ich begreife erst langsam, das muss nicht so sein. Das ist auch einfach nicht für jeden etwas. „Der OP ist wie Freizeit für mich“, sagt der Kardiochirurg. Er arbeitet noch mehr als ich, ist auch ständig fertig mit der Welt, aber er nimmt das zumindest als notwendiges Übel einer eigentlich guten Sache in Kauf. Ich glaube, für mich gab es diese „eigentlich gute Sache“ nie.

Ich spüre schon eine Aversion, wenn ich einen Blick in die Neuro – Bücher schmeiße. Aber ich weiß auch: Ich muss das jetzt irgendwie zu einem Ende bringen. Ich weiß nur noch nicht, wie. Einfach weiter. Ich zwinge mich ja schon fünf bis sechs Tage die Woche…

***
Der Kardiochirurg und ich haben die erste gemeinsame Einladung bekommen.
Eine Freundin aus der Studienstadt heiratet Ende September. Und weil sie weiß, dass wir uns so selten sehen und das eines der ganz wenigen Wochenenden ist, an denen wir beide frei hätten (weil er frei nach Nachtdienstwoche hat), hat sie uns einfach beide eingeladen.
Diese Freundin und ich, wir haben uns damals in der Psychiatrie kennen gelernt. Sie war Dauergast dort damals und ich war auch schon seit vielen Wochen da, als sie kam. Sie war – nachdem wir beide wieder auf freiem Fuß waren – meine beste Freundin in der Studienstadt. Ziemlich verrückt, mitreißend und gleichzeitig haben wir uns blind verstanden. Wir mussten auch nicht lange reden, wenn es einem von uns Mal wieder nicht gut ging. Wir waren füreinander da. Für sie habe ich mich um 23 Uhr in die Bahn gesetzt und bin quer durch die Stadt gefahren. Wir konnten  aber auch um Mitternacht in ihrer Küche sitzen, gemeinsam lachen und auf den Kuchen warten, den wir gerade gebacken hatten.

Crazy, was seitdem passiert ist. Sie ist irgendwann raus aus der Jugendhilfe, wir haben beide studiert und das auch erfolgreich zu Ende gebracht. Wir stehen beide im Job und im Leben, wir haben die Jahre über immer weiter zu dem gefunden, das wir wirklich sind. Und jetzt heiratet sie. Und kein Mensch der uns sieht wird glauben, dass wir uns in der Psychiatrie kennen gelernt haben. Weil das Leben so normal geworden ist. Man würde nicht glauben, dass wir beide mal in langen Nächten zusammen im Aufenthaltsraum dieser fast eingefallenen Gebäude gesessen haben, in denen das Wasser in sämtlichen Rohren bis zum Anschlag stand, während alle darauf gewartet haben, dass der Neubau endlich fertig wird. Dass wir stundenlang auf den hässlichen blauen Sofas gesessen haben in der Hoffnung, dass der Sommer sich endlich vorbei drehen möge und die ersten kühleren Tage auch wieder Ruhe ins Hirn bringen würden.

Donnerstag haben der Kardiochirurg und ich uns nur kurz am Telefon gesprochen und gestern hatte er Dienst. Ich habe ihn aber gebeten, meine Nachrichten des Tages noch zu lesen. Er hat das überhaupt nicht kommentiert. Obwohl er den ganzen Morgen vor dem Dienst zu Hause war.
Es ist irgendwie immer so mit Dingen, die er nicht möchte. Ich habe ihn schon oft gefragt, ob er mit aufs Florian Künstler – Konzert kommen möchte – die Karten habe ich schon eine Weile. Oder, ob er mit mir aufs James Blunt Konzert möchte. Und jetzt eben, ob er sich vorstellen kann, mit mir auf die Hochzeit zu gehen. Und irgendwie gewinne ich immer wieder denn Eindruck von seltsamer Überforderung seinerseits, die er nicht verbalisieren kann.
„Es wäre schön, wenn Ihr auf meiner Hochzeit tanzt“, schrieb die Freundin, weil sie weiß, wie viel mir das bedeuten würde. (abgesehen davon, dass ich bisher nicht tanzen kann…).

Ich habe gestern nochmal lange mit einem Kumpel telefoniert. Er hat auch nochmal einen Aspekt beleuchtet. Ich habe schon bald zehn Jahre Therapieerfahrung. Ich müsste ungefähr 21 Jahre alt gewesen sein, als ich damals in der Ambulanz gestrandet bin. Ich kann in geschützten Rahmen seit zehn Jahren über mein Erleben und meine Gefühle reden, ich lerne gerade in der Psychosomatik nochmal so sehr, mich selbst zu reflektieren und nachzuspüren, was Menschen überhaupt in mir auslösen. Mit meiner Gruppe habe ich gerade immer wieder das Thema „Grenzen“ und das geht natürlich an mir als Gruppenleitung auch nicht spurlos vorbei. Ich lerne auch dazu.
Zudem – meine der Kumpel – kann ich mich super schnell in andere einfühlen; ich weiß einfach schnell, was Sache ist. Und natürlich erwarte ich das vom Gegenüber sicher auch.
Aber das Problem ist: Dieses Gegenüber – der Kardiochirurg – hat all diese Erfahrung nicht. Und tut sich darüber hinaus anscheinend sehr schwer, über eigene Gefühle und eigenes Erleben zu sprechen.
Und das macht es schwer. Jetzt bin ich aber nicht seine Therapeutin und ich möchte das auch nicht sein – also mehr als gelegentliches Anstupsen wird es nicht geben können.

***
Die Psychosomatik wird unterdessen nicht langweilig.
Ich bin so viel zufriedener, seitdem ich die Gruppe alleine habe und seitdem ich mich in brenzligen Situationen traue, die Funktionsoberärztin um Rat zu bitten. Therapeutisch ist sie für mich ein großes Vorbild. Wenn ich „groß“ bin, dann möchte ich so gut werden wie sie.
Es gibt eine neue Patientin in meiner Gruppe. Man soll nicht alle Patienten über einen Kamm scheren, aber mit einer Borderline – Diagnose fragt man sich schon wie lange das gut geht, bis die Gruppe hoch geht. Und das ist genau am Freitag passiert. Diese Patienten haben nun mal eine recht gestörte Beziehungsgestaltung und auch keinen festen Standpunkt in sich selbst. Ich glaube sogar der Patientin, die mir hinterher im Einzel erklärt hat, dass sie nicht recht wusste, was sie da auslöst. Aber ich habe meine recht passive, aggressiongehemmte Gruppe, die nicht aus sich heraus kommt noch nie so erlebt, wie gestern. Und obwohl ich den ganzen Nachmittag damit beschäftigt war meine Schäfchen wieder einzufangen, macht diese Herausforderung so viel Spaß. Ich bin echt gespannt, wie sich das weiter entwickelt. „Also Mondkind – wenn die Patientin nach zwei Tagen die Gruppe so im Griff hat und kurz davor ist sie tanzen zu lassen wie eine Marionette – das machen die anderen nicht ewig mit. Du hast die alle schon gut strukturiert, aber ich nehme an, da steht über kurz oder lang ein großer Gruppenkonflikt ins Haus. Am Besten Du bindest die alle mit kurzen Einzelterminen eng bei Dir an, damit du das mitbekommst. Damit Du nicht ewig der Situation hinterherläufst. Denn manchmal entsteht da so schnell eine Dynamik, da muss man dann schnell reagieren und manchmal geht das auch einfach nicht, das therapeutisch gut abzufangen.“ „Ich habe mich heute schon in der Gruppe gefragt, was hier eigentlich abgeht“, gebe ich zu. „Siehst Du – und das ist nicht ungewöhnlich.“
Auf eine gewisse Weise denke ich mir auch: Die neue Patientin weckt die Gruppe mal auf. Jetzt kommen die mal in Kontakt mit ihren Aggressionen. Wenn sie das über die therapeutische Schiene nicht schaffen, dann erleben sie es jetzt eben live. Dieses Spannungsfeld zwischen „Da aktiviert jemand die Helferinstinkte und ist gleichzeitig so hochaggressiv, dass man liebend gern auf Abstand gehen würde.“
Ich bin gespannt auf nächste Woche. Super gespannt.

Der Kumpel, mit dem ich gestern Abend telefoniert habe und der auch selbst Ergotherapeut ist, hat mir nochmal das Krankheitsbild Borderline ausführlich erklärt. Ich werde auch selbst nochmal nachlesen, aber das macht viel Sinn was er gesagt hat und erklärt das Verhalten der Patientin gut. Und wenn man das versteht, dann kann man sie da vielleicht auch abholen und ist gleichzeitig gewarnt, einige Dinge nicht mit sich machen zu lassen. Ich würde mir sehr wünschen, dass sie bei uns in der Gruppe bleiben kann und ich möchte mich sehr darum bemühen. Ob es klappt, weiß ich aber nicht. Sie hat bis jetzt fast keine Therapieerfahrung und versteht wahrscheinlich auch selbst gar nicht richtig, was da gerade abgeht und was sie alles auslöst. 

Mit dem Kaffeebecher vom Kardiochirurgen ist übrigens alles besser ;)


Aber jetzt genieße ich erstmal das freie Wochenende. Heute bin ich mit dem Kardiochirurgen nach seinem Dienst zum Frühstück verabredet und dann sehen wir weiter. Geht schon gut los… - er meinte, wir sprechen uns noch vorher ab. Natürlich ist das nicht passiert und ich habe ihnm dann gestern geschrieben, dass ich um acht gestriegelt in der Wohnung bin. Irgendwann viertel nach Sieben meinte er dann, dass er doch samstags noch Visite machen muss. Das wusste ich nicht. Und mein Wecker hat viel zu früh geklingelt. An einem Samstag. Nach 12 Tagen durcharbeiten.

Mondkind

 

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