Momente und Gedanken der letzten Tage

Der Chef versucht es irgendwie zu beschönigen, aber es gibt nichts zu beschönigen.
Die Abteilung dekompensiert.
Aber gewaltig.
Mehr als die Hälfte der Kollegen fehlen, wahrscheinlich sogar fast Dreiviertel.

„Wer ist heute auf der Intermediate care station?“, fragt er am Morgen
„Ich“, sage ich und hebe den Finger.
„Und wer ist auf der Kurzliegerstation?“, fragt er.
„Last man standing“, antwortet ein Kollege.


***
Sonntag. Nachtdienst.
In diesen Nachtdiensten, nach denen man noch den ganzen folgenden Tag arbeiten muss, hofft man immer, dass man doch ein paar Stunden Schlaf erhaschen kann. Aber mit fünf Patienten in der Nacht über die Notaufnahme und einigen instabilen Patienten auf Station, wegen derer die Pflege ständig anruft, ist das ein hoffnungsloses Unterfangen.
Montag. Morgens um acht Uhr. Ich bin streng genommen seit 24 Stunden wach, als ich in der Frühbesprechung sitze und mir fast die Augen zufallen.

Auf der Station sind wir an dem Tag immerhin noch anderthalb Mitarbeiter. Pünktlich gehen wird dann trotzdem nichts und ich muss bis beinahe 18 Uhr bleiben.
Zu Hause hüpfe ich unter die Dusche, schreibe dem Kardiochirurgen, dass er sich melden soll – der wird ja wohl nicht mehr so lange brauchen – und lege mich schon mal ins Bett. Um 22:15 Uhr weckt mich die Nachricht vom Kardiochirurgen. Es hat „etwas länger gedauert“, schreibt er.

***
Dienstag.
Heute bin ich also alleine. Und sogar der Oberarzt der Stroke Unit ist ab dem Mittag weg, aber noch per Mail erreichbar.
Den ganzen Tag fege ich über die Station, komme kaum zum Atmen und am frühen Nachmittag verschlechtert sich auch noch ein Patient, den ich dann auf die Intensivstation verlegen muss.
Einer der Intensivoberärzte muss sowieso zum Dolmetschen zu uns rüber kommen, dem zeige ich gleich den Patienten. Noch ist der Patient nicht intubationsfplichtig, außerdem warten wir noch auf die Kardiologen, deshalb soll ich kurz vor Feierabend nochmal den Intensiv – Oberarzt anrufen, der heute Dienst hat. Das Kardiokonsil ist bis dahin leider nicht gelaufen. „Also ich fahre jetzt mal nach Hause Frau Mondkind, Sie rufen mich dann auf meiner privaten Handynummer an, wenn der Kardiologe da war.“ Das ist dann eine Stunde später der Fall und der Kardiologe erklärt mir sehr weitschweifig, warum der Patient nicht kardiologisch ist und keine Übernahmeindikation besteht. Den Oberarzt erwische ich gerade noch im Auto; er ist fast zu Hause mittlerweile. „Ich drehe um Frau Mondkind – wenn Sie mir sagen, dass Sie den Patienten nicht über die Nacht bekommen dann glaube ich Ihnen das und nehme ihn mit auf die Intensiv.“
Leider bin ich dann damit auch noch zwei Stunden beschäftigt. Zwar mag ich den Oberarzt sehr für seine Struktur und wenn er da ist, weiß man auch schon, dass nichts mehr passieren kann, weil er sehr kompetent ist und so ein richtiger Anästhesist, der einen Patienten an jeder Ecke intubieren kann, wenn es sein muss, aber er versteht auch seine Arbeit zu delegieren und im Hintergrund Stress zu machen, dass das jetzt bitte alles zeitnah zu laufen hat und auch so, wie er sich das vorstellt.
(Es wird sich übrigens am Folgetag heraus stellen, dass der Patient doch eine Endokarditis hat und damit sehr wohl kardiologisch ist… ).
„Nur zu Deiner Info, der Patient ist jetzt auf der Intensiv. Der Intensiv – OA hat ihn gerade mitgenommen“, schreibe ich meinem SU – Oberarzt. Zwei Minuten später klingelt das Telefon. „Mondkind was machst Du noch da?“, fragt er mich. „Naja, mich darum kümmern, dass hier in der Nacht niemand stirbt“, entgegne ich. „Ich will Dich morgen früh vor um 9 Uhr nicht auf der Station sehen, okay?“, sagt er. „Okay, Danke“, entgegne ich.

***
Mittwoch.
Der Kollege und ich sitzen schweigend nebeneinander und versuchen der Stationsarbeit Herr zu werden.
Eine andere Kollegin kommt rein und wir tauschen uns kurz aus, ehe mein Kollege aufspringt und etwas erledigen geht. Ich bleibe alleine mit der Kollegin, ehe auch sie weiter arbeiten muss.
„Hat sie noch etwas zu Dir gesagt?“, fragt er.
„Nein“, entgegne ich. „Wieso?“
„Sie meint immer, dass Du und ich total gut zusammen passen, ich dachte nur, vielleicht hätte sie es nochmal gesagt.“
Wir arbeiten eine Weile weiter.
„Mondkind?“, fragt er irgendwann.
„Ja…“, entgegne ich.
„Weißt Du, was ein Crush ist…? Oder wie nennt man das auf Deutsch?“
„Ja, ich weiß was das ist. Hab es von unserem Psychiater gelernt, vorher wusste ich das nicht. Warum?“
„Naja, als ich noch in der Frühreha war und wir uns immer in den Röntgenbesprechungen gesehen haben, da hatte ich ein Crush auf Dich.“
Okay – das kam unerwartet…
„Aber Du hast mich nie angesprochen – oder habe ich das nur nicht realisiert?“, frage ich.
„Nein, ich habe mich nicht getraut. Ich hatte dann mal einen Kollegen aus der Akut gefragt, ob Du einen Freund hast und da war gerade erst Dein Freund gestorben und dann ist meine beste Freundin gestorben und dann war ich eh erstmal mit anderen Dingen beschäftigt…“ Er macht eine kurze Pause. „Und jetzt bin ich Vater geworden und Du hast auch wieder einen Freund.“
Ich denke eine Weile nach. „Ich hatte mit dem Exfreund mal eine Diskussion über das Thema Zeitfenster für Beziehungen. Wahrscheinlich hat es das für uns nie gegeben.“ Er nickt.
Ich gehe noch ein bisschen in mich. Irgendwie ist es das erste Mal, dass jemand so offen zugibt, irgendwie total verknallt in mich gewesen zu sein und das berührt mich irgendwie schon. Ich hatte selten das Gefühl, Herzen bewegen zu können. Irgendwie ist da immer das Gefühl irgendwie sein zu müssen, irgendwo rein passen zu müssen, so viel sein zu müssen, das nicht ich bin und das nicht meine Werte sind. Ich denke darüber nach, wohin unsere Leben sich gedreht hätten, wenn es ein Zeitfenster für uns gegeben hätte. Keine Ahnung, ob das mit uns geklappt hätte. Ich kann mir vorstellen, wir hätten eine tiefe emotionale Bindung aufbauen können; wir hatten schon viele gute Gespräche in den letzten Jahren. Ob wir als Paar glücklich geworden wären, kann natürlich keiner sagen. Aber wir hätten uns vielleicht auch beide viel erspart.

Umso mehr erstaunt es mich, dass er irgendwann mal in einem Nachtdienst hoch zum Kardiochirurgen gegangen ist und ihm gesagt hat, er soll sich mehr bei mir melden und nett zu mir sein. Beide haben mir das nie erzählt, ich habe es über drei Ecken von anderen Menschen gehört.
Und irgendwie bewegt mich das sehr. Wir hatten nie unsere Zeit, unseren Versuch und trotzdem geht er zu dem Menschen, den ich gern zum Partner hätte und sagt ihm, er soll gut zu mir sein. Aber das ist so typisch er und einer der Gründe, warum ich so mag. Er denkt so viel für die anderen.
 


***
Dienstagabend sitze ich beim Kardiochirurgen.
Montag war er erst um 22:30 Uhr aus der Klinik gekommen, Dienstag wollte er früh ins Bett und ich war spät dran. Wir sitzen auf dem Sofa und ich versuche mit ihm zu sprechen. „Wahrscheinlich ist das nicht der richtige Zeitpunkt“, versucht er abzuwiegeln. Ja – es ist nie der richtige Zeitpunkt.

Ich habe mir Gedanken gemacht. Er und ich sind wie Spiegelbilder. Wir sagen uns gegenseitig, dass wir nicht so viele Überstunden machen sollen, früher nach Hause gehen sollen und machen es beide nie. Mal ist der Eine fünf Stunden zu lange auf der Arbeit, mal der andere. Wobei ich selten so spät bin, wie er.
„Wir füllen immer die Lücken“, sage ich. „Aber es gibt nie verbindliche Zu- oder Absagen. Ich würde gerne mal irgendwann sagen, dass die Beziehung an erster Stelle steht. Was nicht heißt, dass alles andere nicht wichtig ist oder, dass man keine Karriereziele haben soll. Aber so wie es im Moment ist, stehen immer die Patienten an erster Stelle. Menschen, die man nur kurz begleitet, die dann wieder ihren Weg gehen. Und klar, man kann niemanden sterben lassen, aber ich weiß nicht, ob ich ewig damit leben kann zu spüren, dass andere Menschen immer Priorität haben. Ich verstehe schon, denen geht es schlecht, aber ist es nicht paradox immer erst gefühlt die Welt zu retten und dann das Privatleben?“
„Naja Mondkind, das wird tausend prozentig nicht funktionieren, die Beziehung an erste Stelle zu stellen. Zumindest in meinem Job.“
Ich frage mich, ob ihm klar ist, was er da gerade gesagt hat.

Ich glaube langsam ich lebe in einer Welt, in der ich nie sein wollte.
Vielleicht ist es logisch, dass es irgendwie so endet.
Ich bin aufgewachsen mit der Idee: „Du bist nicht wichtig, alles andere ist immer wichtiger.“ Kein Wunder, dass ich dort wieder gelandet bin, aber auch kein Wunder, dass ich mittlerweile wie verrückt dagegen rebelliere.
Und wie stellt er sich das denn vor? Wie will man in so einer Situation mal eine Familie gründen? Und mit was für Werten werden die Kinder aufwachsen?

Ich habe mich nie in einer Beziehung so sehr gefragt, ob es der richtige Mann ist, ob das ewig so bleiben kann?
Ich realisiere auch langsam, dass sich das alles nie ändern wird. Diese ständige Nichtverfügbarkeit, dass sich die Beziehung seit Anfang an eigentlich nicht weiter entwickelt, dass wir immer noch nicht regelmäßig beim anderen sind. „Wohnt Ihr eigentlich mittlerweile zusammen?“, fragte eine Kollegin letztens, die weiß, wie lange wir schon zusammen sind. „Wir sind Lichtjahre davon entfernt“, habe ich ihr erklärt.

***
Ich verstehe langsam wieder, was mich damals so in die Neurologie gezogen hat und mich so sehr daran hat festhalten lassen. Vom Prinzip her vergisst man in diesen Tagen alles um sich herum. Die Oberärzte sorgen dann doch mal dafür, dass wir ein Gemeinschaftsgefühl entwickeln, es heißt dann doch mal, dass sehr Belastete von uns eine Stunde eher gehen dürfen oder eine Stunde später kommen dürfen, wenn sie in den letzten Tagen unzählige Überstunden gemacht haben. Natürlich ist das eigentlich keine Entschädigung, aber in diesen Tagen fühlt es sich an, als würde man zu einer Gemeinschaft gehören, als würde man im Team etwas schaffen können, als sei man dieser unverzichtbare Teil, weil suggeriert wird, dass alles crasht, wenn noch einer fehlt. (Und wenn noch einer fehlt, geht es doch irgendwie…).
Irgendwie rücken Oberärzte, Assistenten und Pflege doch mal wieder zusammen und es entsteht dieses alte Gemeinschaftsgefühl, dass so oft verloren geht.


Mondkind

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