Furcht um die Säulen


Machmal kommt da zu viel zusammen.
Und dann… - versucht man immer noch dankbar zu sein für das, was man hat. Sich jeden Tag zu vergegenwärtigen, dass heute vor einem Jahr die Situation jetzt, das Ziel der Träume war.

Morgens. Wenn mein Arbeiten auf der Stroke – Unit an Wochenende und Feiertagen im Moment eine Art „Geheimabkommen“ zwischen dem Chef und mir, beziehungsweise dem Oberarzt und mir ist, dann bin ich beinahe in der Position mich dafür rechtfertigen zu müssen, was genau ich denn jetzt auf der Station treibe. Der erste Punkt am Morgen, der einfach nur nervt. "Mondkind, was machst Du denn schon wieder hier? Hast Du eigentlich auch mal frei?" Mindestens sieben Mal dieselbe Frage...

Stroke – Visite.
Die Station wurde in den letzten beiden Tagen kräftig aufgefüllt – ich kenne einige der Patienten nicht und habe vor der Visite auch nicht so richtig Zeit, mich mit ihnen zu beschäftigen. Das führt dazu, dass ich einige Fragen des diensthabenden Oberarztes nicht beantworten kann, was ziemlich unangenehm ist. Allerdings hätte ich sonst halt noch vor dem offiziellen Dienstbeginn kommen müssen.
Nach fast zwei Stunden kommen wir im vordersten Zimmer an und treffen auf den Stroke – Unit – Oberarzt. „Der ist eigentlich gar nicht da…“, stellt der diensthabende Oberarzt fest. Gut für mich ist es trotzdem – da habe ich jetzt zumindest einen Ansprechpartner.

Wir gehen rüber auf die Nachbarstation – dort wartet nämlich auch noch ein Sorgenkind. Und nicht nur das. Die Schwestern haben den Luxus eines Wochenenddienstes für die Stationen durchschaut. „Mondkind, wir haben Dir da mal eine Liste geschrieben…“ Mittlerweile ist es kurz vor 14 Uhr und um 14 Uhr hätte ich eigentlich gehen dürfen. Der Stroke Unit – Oberarzt flucht neben mir und bittet mich ein paar Anordnungen ins System zu schreiben. Ich frage mich still, ob er wohl über mich flucht. Mit dem Patienten, um den es geht, hatte ich vor ein paar Tagen auch zu tun. Aber man kann im Dienst nicht jeden Patienten auseinander nehmen. Es ging um den Blutdruck  - da habe ich nicht komplett alle Befunde durch geschaut.

Ich beschließe, mich zuerst um alle Konsile und Anmeldungen für Untersuchungen zu kümmern, danach um die Anliegen der Nachbarstation und schreibe meine To Do – Liste. Die ist lang heute, aber ich arbeite mich durch.
Von einem Patienten brauche ich noch eine Akte. Kaum habe ich das Zimmer betreten, fährt mich die Schwester an. „Mondkind, Du betrittst dieses Zimmer nicht mehr ohne Mundschutz und Handschuhe, hast Du mich verstanden… - bei dem Verdacht, der hier im Raum steht…“ Ich brauche erstmal ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass diese Lautstärke mir galt. „Ja“, entgegne ich, schnappe mir die Akte und verlasse rückwärts das Zimmer. Wenn sich der höchst unwahrscheinliche Verdacht bestätigt, bringen auch Papiermasken nichts. Dann muss man das entweder ganz oder gar nicht durchziehen, denke ich mir still. Und vor allem kann man das in normaler Lautstärke vermitteln.

Zwischenzeitlich füllt sich meine To Do – Liste schneller, als ich sie abarbeiten kann. Trotzdem nehme ich mir für die Patienten Zeit und bleibe höflich. „Ach Mondkind, kannst Du mal noch…“, beginnt der Oberarzt irgendwann. Um uns wenige Sätze darauf einen schönen Nachmittag zu wünschen und sich bis morgen zu verabschieden.

Ansonsten warte ich gerade auf eine Mail von Frau Therapeutin. Ich hatte ihr Freitagmorgen geschrieben und sie gefragt, ob wir vielleicht doch mal die aktuelle Lage besprechen könnten. Einfach mal so zum antesten, wie sie jetzt auf mich reagiert – zu besprechen gibt es ja auch wirklich genug. Ich bin mir sehr sicher, dass sie da ist – wenn irgendetwas ist, hat sie nämlich sonst immer einen Abwesenheitsassistenten drin. Außerdem war mein großes Glück der vergangenen Jahre, dass sie dem Weihnachts- und Neujahrs – „Zauber“ vermutlich genauso wenig abgewinnen kann wie ich und ich deswegen zwischen den Jahren und direkt am 2. oder 3. Januar immer einen Termin bei ihr hatte.
Jetzt hat sie die Mail ja erst zwei Tage, aber es ist noch nie vorgekommen, dass sie eine Mail einfach zwei Tage hat liegen lassen – schon ein Tag wäre sehr ungewöhnlich bei ihr. Ich glaube schon, dass mir das etwas sagen soll. Und ich kann es ehrlich gesagt auch verstehen. Vermutlich will mir niemand dabei zusehen, wie ich es nicht auf die Reihe bekomme. Und was soll sie jetzt noch machen? Ich kann mich eben therapeutisch auf sehr wenig einlassen und bin darüber hinaus hunderte Kilometer weg.
Dennoch lässt es ein bisschen Panik aufsteigen. Macht deutlich, wie fragil dieses professionelle Helfer – System ist. Keiner hat je gesagt, dass er bleibt. Wenn der Seelsorger weg fällt und Frau Therapeutin, sieht es ziemlich schwierig aus. Mit dem Neuro – Oberarzt klappt es auch definitiv nicht so, wie ich mir das erhofft hatte ( - ehrlich gesagt hatte ich gehofft, dass wir den heutigen Feiertag mal zum Reden nutzen können, wenn er mich schon bittet außer der Reihe zu kommen). Ganz, ganz schwierige Vorstellung. Ich hoffe, ich bin einfach nur ein wenig ungeduldig. Ich hoffe, es brechen hier nicht gerade alle Säulen weg und ich bin Zuschauer des Ganzen.

Bevor ich gehe, schaue ich nochmal, welche Untersuchungen für den nächsten Tag bei welchem Patienten angemeldet sind und ob jeder eine Aufklärung hat. Und dann fische ich doch tatsächlich noch einen Patienten ohne Aufklärung heraus. Da haben wir uns den ersten Rüffel morgen früh schon mal wieder gespart.
Um kurz nach 17 Uhr ziehe ich mich um und gehe nach Hause.



Wir sollen unsere Urlaubsplanung machen. Zu Hause sitze ich mit einem Kalender auf meinem Sofa und kaue auf einem Bleistift. Wann zum Geier soll ich Urlaub nehmen? Ich habe mal meine Schwester gefragt – falls wir etwas zusammen machen wollen. Und nachdem meine Mutter und ich in den letzten Tagen ausnahmsweise mal ganz gut zurecht kamen, packt sie irgendwann das schlechte Gewissen und sie ruft an. Und nach einer gewissen Penetranz gehe ich auch ans Telefon. Der Rest der Patchwork – Familie hat eine Kreuzfahrt gebucht. Sie wollte es mal sagen. Nur, damit ich es von ihr habe und keiner sich verquatscht. Danke. Nice to know. Jetzt bringt mir diese Info rein gar nichts  - der Drops ist ja ohnehin gelutscht.  Ehrlich gesagt wäre ich vermutlich sowieso nicht mitgekommen. Nur wieder vor die Nase gesetzt zu bekommen, dass man in dieser Familie völlig außen vor ist und es darüber hinaus nicht geschafft hat, irgendwo mal einen Fuß auf den Boden zu bringen und sich mit Menschen zu umgeben, die sicher einen gewissen Halt geben können – das tut wirklich weh.

Und so sitze ich dann heute Abend auf meinem Sofa. Fühle diesen Schmerz, von dem der Seelsorger sagte, dass es gut sei, dass ich ihn „endlich“ (wieso endlich?) spüre. Und kann dabei kaum noch atmen. Ich fühle mich so unglaublich verloren.
Und manchmal… - manchmal kannst Du so sehr versuchen dankbar zu sein – und kommst Dir trotzdem vor, als stündest Du auf dem verlorensten Posten, den es gibt. Atmen. Und ein Fuß vor den anderen. Von Tag zu Tag. Und hoffen. Dass es irgendwie wird. Dass es an den unmöglichsten Stellen trotzdem Licht gibt. 

Mondkind

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