Worte aus der Vergangenheit


Sonntagmorgen.
Ich sitze bis zur Nasenspitze eingepackt mit zwei Wolldecken auf meinem Sofa. (Naja, okay, die Hände schauen raus, zum Schreiben und Kaffee trinken…). In den Knochen hängt mir schon wieder die Angst vor dem morgigen Tag. Wie viele neue Patienten werde ich haben, über die ich bis zur Visite alles wissen muss? Gibt es wieder eine unangekündigte Ansprache, wie unfähig wir alle sind? Gibt es den Rotationplan?

Gestern war ein anstrengender Tag. Neben Haushalt und Einkaufen musste ich mich ja noch um das Geschenkkörbchen kümmern. Ich befürchte mal, derjenige, der mir aufgetragen hat was dort hinein soll, hat das hier im Kaff selbst noch nie besorgt. Ich war in nahezu sämtlichen Läden und habe den geforderten Inhalt nicht bekommen. Ein Laden telefoniert jetzt noch für mich herum und die schauen, ob sie das bestellen können. Wenn nicht, fange ich Montag wieder bei Null an. Und das alles habe ich im komplett überreizten Zustand getan. Wenn Jedes Geräusch zu laut ist, Jeder Mensch hinter mir an der Kasse zu nah, Jedes Ansprechen von Fremden eine Überwindung ist. (Meinen Geschirrspüler habe ich gestern mit einem Geschirrtuch ganz vorsichtig ausgeräumt, damit es nicht so klappert. Es ist alles zu laut gerade…).

Abends waren noch zwei Telefonate zu führen – eines mit einer Freundin, die gerade von einer Beerdigung kam und eines mit meiner Schwester. Sie fragt nicht einfach so, ob wir mal telefonieren können – irgendetwas ist da im Busch; das war mir klar. Im Endeffekt ist sie sehr unzufrieden mit der Job- und  Wohnsituation, die tägliche Pendelei gibt ihr den Rest und im Moment stehen nur zwei Wahlmöglichkeiten an: Die eine wäre in den Ort zu ziehen, in dem sie arbeitet. Aber jetzt hat sie auch mal erkannt: Dann hängen wir beide an komplett unterschiedlichen Ecken des Landes, ohne Familie (zumindest in meinem Fall, aber klar – selbst gewählt) und ohne Freunde und werden die nächsten 40 Jahre unseres Lebens nur arbeiten und vereinsamen. (Okay, ist vielleicht etwas überspitzt, aber so ungefähr…). Die zweite Möglichkeit wäre, dass sie das Krankenhaus wechselt und zu mir in den Ort zieht – dann haben wir zumindest uns gegenseitig – auch wenn ich ihr ausreden muss, dass die Arbeitsbedingungen hier in irgendeiner Form besser sind, als bei ihr.

Aber natürlich hadert sie da auch mit sich. Obwohl es so gesehen noch relativ „einfach“ wäre. Natürlich hat sie sich an ihre Kollegen gewöhnt und sie sicher zu schätzen gelernt – dennoch klebt sie meines Wissens nach an Keinem im Sinn einer Bezugsperson so sehr, wie ich. Mit dem Umzug wäre es auch recht einfach. Sie könnte ja erstmal von dem einen Unterschlupf bei dem Freund von meiner Mutter in den Nächsten – in meine Wohnung – ziehen.
Ich will die Dimension der Entscheidung an der Stelle gar nicht relativieren oder sagen, dass das ja wohl eine klare Sache ist. Vielleicht muss ich mir nur keine Vorwürfe machen, dass ich auch nicht so recht weiß, wohin mit mir. Und ich würde ja nicht nur den Job und meinen „kleinen sicheren Ort“ in Form meiner Wohnung verlieren, sondern auch eine Bezugsperson, die Idee von einem „zu Hause“ und einer Zukunft – also eigentlich alles, was ich habe.

Und dennoch frage ich mich in solchen Momenten immer: Wie konnte es alles soweit kommen? Wo doch mein Bauchgefühl – wenn ich mich richtig erinnere – schon seit Jahren sagt, dass der Weg der Falsche ist. Und dass es umso mehr eine Einbahnstraße wird, je weiter ich gehe. Dass Umkehren immer schwieriger wird. Weil nicht nur die Optionen weniger werden, sondern es auch immer schwieriger wird, von den eingetretenen Pfaden abzuweichen. Und weil man sich immer mehr selbst verliert. Weil man irgendwann nicht mehr weiß wer man ist und wohin man wollte und das nur noch rekapitulieren kann, wenn man alte Schriftstücke liest. Und in so mancher Nacht begebe ich mich dann auf die Suche.
Frage mich irgendwann nach vielen Stunden Lesen still, ob ich es war, die diese Worte geschrieben hat. Wie ich das so lange überleben konnte. Woher ich immer wieder die Hoffnung geholt habe. Und vielleicht kann man auch manchmal ganz still werden vor Ehrfurcht, wie ich das alles gemacht habe. So vieles wird nachvollziehbar – wenn auch nicht für andere, die nie aufhören werden, mir Vorwürfe zu machen, dann zumindest für mich.

Eine kleine Reise.
Tagebucheinträge, die nach Jahren viel bewegen. Viel erklären.
Und niemals so viel Schmerz in sich hätten tragen sollen.






Sonntag, 30. Januar 2011
Sag mir, wo mein zu Hause ist? Wo ich hin gehöre? Wo ich ich sein darf? Wo man etwas beginnen, oder etwas ausprobieren darf, ohne dafür kritisiert zu werden, ohne sich ständig anhören zu müssen, dass man denn ganzen Tag alles falsch macht… immer.
Sag mir einen Ort, wo ich mich fallen lassen darf, ohne nachzudenken, an dem ich reden darf, ohne zu denken, an dem ich Fehler machen darf und trotzdem noch gut bin?
Sag mir einen Ort, an dem ich willkommen bin, an dem ich das Gefühl habe vermisst worden zu sein und mich nicht wie ein Tier fühle, dass man zähmen muss?
Sag mir einen Ort, an dem ich eigene Entscheidungen treffen darf, ganz eigen, ohne beeinflusst worden zu sein? Und wenn sie falsch war? Okay, dann habe ich einen Fehler gemacht, aber ich will nicht immer mit den Entscheidungen leben müssen, die andere für mich treffen, einfach aus der Angst heraus, dass mir eine Fehlentscheidung Jahre hinterhergetragen wird. Reicht es nicht, wenn ich damit leben kann? 
Ist die Welt nicht groß und kompliziert genug, um sich in sich selbst darin zurecht zu finden? Warum muss ich es so gestalten, dass alle anderen sich in meiner kleinen Welt auch noch wohl fühlen? Es geht doch dabei um mich, um meine Welt, sie haben doch ihre Welt.
Warum brauchen sie auch noch meine?

Dienstag, den 11. Oktober 2011
Turbulente Tage liegen hinter mir. Viele Klausuren. Ob sie gut sind? Keine Ahnung. Das Gefühl dafür habe ich verloren. Wann ist eine Klausur gut? Eigentlich nur, wenn es eine 1 ist. Aber kann ich eine 1 fühlen? Geschichte ist ziemlich gut geworden, Deutsch eher nicht so, Pädagogik… keine Ahnung, da hatte ich noch nie eine Ahnung, da kann genauso gut eine 1 wie eine 4 drunter stehen und Englisch, da habe ich Aufgabe 3 ziemlich versiebt…

Seit heute ist das Thema Reiten dann auch mal Geschichte. Wer weiß für wie lang. Ich habe mir erst mal gesagt bis Januar, aber ob das nicht lediglich eine Ausrede ist, um alles erst mal etwas leichter zu machen? Keine Ahnung.
In den letzten Monaten war es mir sehr schwer gefallen, weil ich immer so das Gefühl hatte, dass ich doch eigentlich woanders sein sollte. Nicht auf dem Pferd, sondern am Schreibtisch, um zu lernen.
Aber als ich heute wieder die Pferde in der Halle gesehen habe… da hat es mir doch beinahe das Herz gebrochen. Wie viel hätte ich in dem Moment darum gegeben, noch einmal auf Finn zu sitzen…
Ist es vernünftig? Keine Ahnung, aber vielleicht muss ich mich selbst erst mal wieder sortieren, um es wieder genießen zu können. Ich weiß es nicht.

Und Herr [Deutschlehrer]? Sorry, ein Thema, das wir hier noch nie hatten, aber er wird doch immer mehr zum Ersatzpapi. Ich weiß nicht einmal so ganz, warum gerade er… Aber es ist einfach so. Ich vermisse Dad fast jeden Tag und zwischen Herbstferien und Weihnachten werden wir ihn gar nicht sehen… Also schon wieder eine verkorkste Weihnachtszeit…

Samstag, den 22. Oktober 2011
[Tagebucheintrag nach unserer Abschlussfahrt nach Prag…]
Tage, die fliegen. Tage, die vorbeirauschen, obwohl man sie für immer festhalten will. Tage, in denen man will, dass die Zeit endlich einmal stehen bleibt. Aber das wird sie nicht. Nie. Das Einzige, was sie einem immer zeigen wird ist, dass es das wert ist, zu leben.
Mit den Lehrern hatte ich mehr Spaß, als ich mit allen hier zu Hause je haben könnte. Sie akzeptieren einen als Person – zeigen einem, dass man etwas wert ist und Dinge auch mal richtig macht. Von ihnen kommen Sätze wie „Auf die Zwillinge ist immer Verlass“, sie hören einem zu und sagen ihre Meinung so neutral wie möglich – ohne absichtliche Beeinflussung. Man macht dort nicht immer alles falsch.

Heute heißt es sofort wieder „Was du machst ist sinnlos“ oder „Was du machst ist Scheiße“. Da klingt so, als bräuchte ich ein Lob für alles was ich tue, aber so ist es gar nicht gemeint. Ich möchte nur, dass man mich akzeptiert. Das ist alles. So einfach, aber scheinbar doch so schwer.

Sonntag, den 23. Oktober 2011
[Nochmal über die Klassenfahrt…]
Es ist vorbei. Zeit, das zu lernen.
Ich soll daran denken und davon leben. Davon, dass es auch andere Dinge und Menschen geben kann – jenseits dieser Grenzen.
Ich gebe zu, es ist merkwürdig, dass die Zeit zusammen mit den Lehrern interessanter und abenteuerlicher ist, man sich geborgener und verstandener fühlt, als ich mich hier je fühlen könnte.
Es war eine Zeit jenseits des Krieges, der hier herrscht und in fremden Gefilden vergisst man, dass es je anders war.
Dann kommt man zurück – mit Hoffnung und guter Laune und kaum ist man 24 Stunden hier, bricht alles zusammen und es fühlt sich an, als wäre die Zeit in Prag fernab jeglicher Realität gewesen – fast wie im Traum.
5 Tage lang war es nie der Gedanke, warum man das hier alles noch durchzieht, was es für einen Sinn hat. Es gab auch nicht die Frage, wo mein zu Hause ist – vielleicht, weil ich mich so geborgen und sicher fühlte, dass die Frage überflüssig war. Es war auch nicht die Frage, ob ich die Zukunft schaffen werde, es war mal etwas Optimismus. Irgendetwas würde aus mir schon werden.
Aber nun bin ich zurück. Was bleibt, ist die Erinnerung, das Wissen, dass es anders geht und die Hoffnung, dass es anders wird, wenn ich irgendwann mein eigenes Leben habe, für das es sich lohnt, das hier alles durchzustehen.
Das ist alles, was ich zum frühen morgen nur kurz sagen wollte.

Mittwoch, 21. Dezember 2011
Vorgestern hat es geschneit… zum ersten Mal dieses Jahr.
Seit dem 19. Sind die Klausuren durch. Erleichterung. Ein Stück weit. Es scheint wieder okay gewesen zu sein. Geschichte 2+, Deutsch 1 und mündlich auch, Mathe 1 – und mündlich 1, Pädagogik 1, Philo mündlich 1.
Es sieht aus, als würde sich ein erfolgreiches Jahr langsam dem Ende neigen.
Langsam scheinen alle einen Gang runter zu schalten.

Freitag, den 13. Januar 2012
Es ist zwar Freitag der 13. , aber trotzdem mal wieder einen Zeugnisrekord aufgestellt.
Ja, Herr [Oberstufenkoordinator] hat uns heute in der Aula in der 1. Großen Pause die Zeugnisse in die Hand gedrückt. Dazu hat er nur kommentiert: „Die Zwillinge liefern sich einen erbitterten Punktekampf“… Naja, das er das nicht unkommentiert lässt, war ja wohl klar.
Heute war mal wieder ein Plausch mit unserem Ersatzpapi dran. Das tut soooo gut, wenn man dann geht, fühlt man sich quasi wie neu geboren.

Mittwoch, 8. Februar 2012
Es geht irgendwas kaputt im Moment und… das macht mich unendlich traurig. Ich merke, wie er verloren geht – Dad. Die Wochenenden waren schon lange nicht mehr, was sie mal gewesen sind und so langsam machen sie mich fertig.

Vielleicht ist die Zeit gekommen los zu lassen. Einfach zu akzeptieren, dass er ein anderes Leben hat und wir dort keinen Platz haben – um nicht zu sagen überhaupt gar nicht dort hinein passen.
Vielleicht.

Es ist eine Traumwelt, in der man sich manchmal wieder findet. Mein PC – Hintergrundbild ist mittlerweile geändert. Mark Harmon alias Gibbs ist darauf zu sehen und nachts ist er manchmal ein echter Dad, mit dem man rumblödeln kann, der da ist, wenn man ihn braucht – nicht manchmal, sondern immer und bei dem man immer vorurteilslos willkommen ist.
In letzter Zeit flüchte ich mich oft dort hin, auch wenn ich weiß, dass es so einen Dad für mich nie geben wird.

Montag, 4. März 2012
Es sind nur noch wenige Tage Schule und letzte Woche habe ich begonnen das zum ersten Mal zu begreifen. Schule ist für mich nicht einfach Schule, Schule ist für mich wie ein zu Hause. Es ist etwas, was konstant in meinem Leben geblieben ist und auch wenn wir in der Unterstufe mit nahezu jedem Lehrer Stress hatten, so hat sich das doch in den letzten 3 Jahren geändert, wo zu Hause der Teufel los war und ein Ende gar nicht absehbar ist. Es bricht im Moment so viel um, es sind so viele Entwicklungen in den letzten Monaten passiert, die ich niemals für möglich gehalten hätte und doch sind sie da und das macht mir Angst.
Aber Schule war ein Halt. Und jetzt ist der auch bald weg.
Auch wenn es Stress war, oftmals viel Stress, weil ich mir selbst und meinen Eltern eigentlich nie gut genug war, so war es doch auch immer ein Stück Heimat.

Donnerstag, 15. März 2012
In Mathe haben wir heute unsere Noten fürs Zeugnis bekommen. Ich bekomme 15 Punkte. Man, wer hätte das in der 8. Klasse mal gedacht, dass das meine letzte Mathenote sein wird? Frau [Mathelehrerin] lobte mich und sagte es wäre ihr noch nie passiert, dass jemand, der das Fach nicht mal im Abi hat bis zum Ende so dran bleibt.

(Die Story dahinter ist, dass ich in der 8. Klasse in jeder Mathearbeit grundsätzlich eine 5 geschrieben habe und in unangekündigten Mathetests meistens eine 6. Obwohl Mathe nie mein Lieblingsfach war, lag das aber nicht daran, dass ich zu dumm war. Das war einfach zu viel Druck von zu Hause. Ich entsprach nicht mehr dem Vorzeigeobjekt, von dem man in der Nachbarschaft über gute Schulnoten berichten konnte. Nach jeder Mathearbeit hieß es, dass ich wohl vom Gymnasium fliegen werde, weil ich wohl einfach zu dumm sei und dann auf der Hauptschule landen, natürlich im Anschluss keine Berufsausbildung finden und konsekutiv unter der Brücke landen werde. Es war eine harte Zeit, weil es Anerkennung in diesem Haus nun mal ausnahmslos über Schulnoten gab und wenn man nicht entsprechend Gute nach Hause brachte (wobei gut nur eine 1 oder 2 war), war man ein unsichtbarer Hausgeist.
Was macht das wohl mit einem 14 – jährigem Kind? Ich hatte eine zeitlang so viel Angst, überhaupt in die Schule zu gehen, dass ich befürchtet habe, irgendwann gar nicht mehr zu gehen. (Obwohl ich nicht weiß, was meine Eltern dann mit mir gemacht hätten).
Umso stolzer war ich damals, dass ich mich wieder da raus gekämpft hatte, wobei mich die Mathelehrerin in der Oberstufe auch sehr unterstützt hatte. Und dann waren wir beide mehr als glücklich, die Mathekarriere mit einer Bestnote abzuschließen. Angst besiegt. Zumindest diese Angst).

Mittwoch, 21. März 2012
[…]
Natürlich brauchte ich mein tägliches Pensum an Schulaufgaben, natürlich wusste ich, dass ich von früh bis spät lernen würde, das jeder Tag gleich aussehen würde – unabhängig davon ob Wochenende, Schulzeit oder gar Ferien waren und fast hatte ich mich damit abgefunden, dass ich nie wieder auf einem Pferd sitze, oder ohne Schulbuch in den Urlaub fahre. Denn selbst am Strand ist das Wellenrauschen nur Musik in meinen Ohren, wenn nebenbei irgendetwas Produktives passiert.

Aber so ist es nicht mehr. Irgendetwas hat sich geändert. Seit Weihnachten. Es reicht nicht mehr sich nach bestem Wissen und Gewissen zu bemühen, obwohl es bis jetzt immer ausgereicht hat. Das versuchen zumindest die Zeugnisse zu vermitteln.
Es ist, als wäre ich auf der Flucht. Jeden Tag, zu jeder Stunde. Ich fliehe vor mit selbst und weil das nicht geht, werde ich mir nie entkommen. Es läuft etwas hinter mir – etwas, das mich treibt. Etwas, das mir den ganzen Tag vorhält, ich sei zu unproduktiv, zu langsam und zu dämlich. Wie kann man eine Stunde brauchen um eine PCR zu lernen? Das ist zu lang. Das war nicht gut – es war unproduktiv – jedenfalls ein Teil davon.

Es sammelt alle verschenkten Minuten und Sekunden und errechnet daraus, dass die Noten ungerechtfertigt sind. Sind sie es?
Man gelobt meinen Ehrgeiz, meinen Fleiß – aber wie viel davon bin ich? Ich wollte nie schlecht sein, aber der Preis….?
Jeden Abend dasselbe Spiel. Kopfschmerzen, Druck auf den Ohren, Kälte und Müdigkeit und um 11 Uhr frage ich verzweifelt, ob ich ins Bett gehen darf. Nein, heißt die Antwort – du musst die verschenkten Minuten aufholen – auch die, für die du nichts kannst, weil alle irgendwie im Moment alles andere als Schule im Kopf haben.
Und auch diese Minuten hier werde ich aufholen müssen. Es sind 10. Ich habe vorher nachgesehen.

(Einer der wesentlichen Errungenschaften des ersten Klinikaufenthaltes (das war 2017 – also 5 Jahre später) war es, dieses minutiöse Bilanzsystem zumindest weitestgehend aus dem Kopf zu bekommen. Ich fühle mich immer noch in jeder freien Minute „schuldig“, aber ich rechne nicht mehr und hänge die Zeit vorne oder hinten an den Tag dran und nehme sie von meiner Schlafzeit weg. Wie das fünf Jahre funktionieren konnte… - weiß ich nicht.
Der Ergotherapeut, dem ich das damals nach Wochen des Aufenthaltes zum ersten Mal erzählt hatte, ist fast hinten über gekippt. Immer wieder meinte er, dass er ja schon viel gesehen und gehört habe in seiner Karriere. Aber ich habe das wohl bis auf die Spitze getrieben. Ich hatte damals tatsächlich auch meine Bücher dabei und habe zwischen den Therapien auch immer gelernt. Anders ging es nicht. Anders hätte ich mich nicht ausgehalten.
Und auch im letzten Sommer konnte ich mich ja zumindest damit beruhigen, dass ich Medizinsachen nach dem Abschluss ja erstmal nicht mehr lernen muss, aber sich mal so eben nebenbei um Wohnung, Umzug, Küche, Arbeitsverträge und Versicherungen zu kümmern, war vermutlich auch ein Ausdruck genau davon. Unsicherheit ob Klinik „produktiv“ ist und – um sicher zu gehen produktiv genug zu sein – die Tage weiter füllen).

Freitag, 20. April 2012
Naja, back to the topic: Gestern den Tag habe ich nur mit Kopfschmerztabletten und schwarzem Tee überlebt und ich habe so allmählich das Gefühl, das mir das hier alles immer weiter aus den Händen gleitet.
Ich meine, jetzt mal ehrlich: Was ist so schwer daran morgens mal aufzustehen und zuversichtlich zu sein? Was ist so schwer daran, morgens mal aufzustehen und keine Schmerzen zu haben?
Warum muss in meinem Kopf eine Bilanzmaschine existieren, die den ganzen Tag herumrechnet und mich wahnsinnig macht, die dafür sorgt, dass ich keinen Schritt und keinen Tritt mehr tun kann ohne mich in Gedanken zu rechtfertigen?
Alles was früher mal normal war, geht nicht mehr.


Dienstag, 15. Mai 2012
Man muss doch etwas haben wofür man kämpft, damit es sich lohnt, aber das habe ich nicht. Ich suche es, aber ich finde es nicht. Ich finde nicht mal ein zu Hause, einen Platz, an dem man einfach nur seine Maske ablegen darf und nicht jeden Tag so tun muss, als wäre alles Bestens. Einen Ort, wo es nicht nur den ganzen Tag um Schuld oder Unschuld oder Schuldzuweisungen geht, wo es nicht nur um Verantwortung geht… sondern einen Ort, an dem man sich fallen lassen kann, an dem einem jemand zuhören kann und mal ausnahmsweise ernst nimmt, was man sagt. Wo es mal nicht darum geht, ob die Kinder wohl lieber auf Mum oder Dad hören, wozu natürlich auch zwei komplett entgegengesetzte Meinungen gehören, die sie selbst gar nicht vertreten.

Manchmal versuche ich es sogar. Aber es ist, als würde man gegen Wände predigen. Manchmal frage ich, warum es sein muss, dass man den ganzen Tag auf der Suche nach Schuldigen ist. Und dann heißt es immer, das sei doch gar nicht so. Und im nächsten Moment geht es wieder los.
Es ist dasselbe mit dem Studium. Ich weiß noch nicht genau, was ich studiere – also natürlich in welche Richtung es gehen soll, aber halt noch nicht exakt welcher Studiengang.
Aber mit irgendjemandem ernsthaft darüber reden – das kann man gleich sein lassen. Die erste Frage ist nicht etwa, was man in dem Studiengang überhaupt tut, oder wie die Jobaussichten sind, sondern wo man das studieren kann und wenn es nicht hier ist, dann ist es gleich schlecht. Kann man nicht einmal eine anständige Meinung bekommen? Eine, die einem auch hilft?

Donnerstag, 17. Mai 2012
Es ist so eine Leere in mir. Man muss sich das so vorstellen, wie einen völlig sterilen, weißen Raum. Ohne Möbel. Ohne Fenster. Nur weiße Wände.
Es ist so still, ich könnte eine Stecknadel fallen hören. Und es ist so verdammt kalt. Eine Heizung gibt es hier nicht – aber es ist Winter. Und ich bin ganz allein dort. Völlig einsam. Völlig leer.
Manchmal – da fängt es an zu rattern um mich herum, da bewegt es sich. Wie Geister. Sie schwirren um einen herum, halb durchsichtig, aber sie verhöhnen einen nur. Man bekommt sie nicht zu fassen. Genauso wenig, wie ich meine Gedanken

Samstag, 9. Juni 2012
Noch 1/1/2 Tage Wochenende. Grausam. Ehrlich.
Im Moment geht es mir wirklich wahnsinnig schlecht.

Mama und Oma nerven echt. Ich dachte jetzt ist die Sache mit dem Studium in trockenen Tüchern – nur die ganzen Vorbereitungen und Voraussetzungen müssen noch getroffen bzw. erfüllt werden.

Man kann mit denen nicht reden. Man kann nicht sagen: „Was würdet ihr in so ein Motivationsschreiben reinschreiben?“ Ich meine klar, ich wälze auch das Internet, aber Ideen und Anstöße sind ja immer gut.
Dann kommt gleich wieder: „Die Uni ist so weit weg, da kannst du dich doch nicht bewerben und das ist eh nicht das Richtige, du solltest Medizin machen. Das machst du ja auch als Erstwunsch, oder? Und Unis, die irgendwo in Bayern liegen, da kannst du doch nicht hin.“

Ich dachte, es sind die Finanzen, weil das ja schon echt teuer ist, wenn man hier weg zieht und habe die mal vorsichtig darauf angesprochen. Naja, erst haben sie sich echt drauf eingelassen und gesagt, dass das ja alles teuer ist und da habe ich gesagt, dass es okay ist und ich das verstehe. Ich habe gesagt, dass es mir bewusst ist, dass die uns nicht vollkommen durchfüttern können und habe gesagt, dass ich dann halt arbeiten gehe – hatte ich vielleicht sowieso vor. Und dann hieß es wieder: „Arbeiten? Nein bloß nicht!“ Ja warum denn? Damit die uns weiter in ihrer Abhängigkeit halten können?
Ich glaube, das Problem liegt woanders. Ich glaube, dass Mum echt ein bisschen Angst hat mit dem Haus hier alleine dazustehen und wir vielleicht manchmal sogar am Wochenende nicht kommen werden – und ich will das nicht ausschließen.
Weißt du, Oma erzählt ständig irgendwas von Heimweh und ich glaube, dass es das auch vielleicht geben wird – aber nur in dem Sinn, dass man denkt, dass bei Mami ja vielleicht doch alles einfacher ist.
Eine normale Beziehung können wir hier einfach nicht leben und das konnten wir die letzten drei Jahre nicht – warum soll es jetzt anders werden? Und ich glaube, auch wenn Mama immer meint, es würde helfen so zu tun, als wären wir eine glückliche Familie, dass sie genau weiß, dass es nicht so ist.
Sie weiß genau, wenn wir die Freiheit einmal haben, werden wir sie nie wieder gegen diesen Käfig hier eintauschen.
Und das ist der Grund, warum man hier gegen Wände redet – beziehungsweise gegen Wände wär ja noch schön – die geben wenigstens keine dummen Kommentare zurück.

Die reden so völlig an dem vorbei, was man sagt und lassen einen da voll allein im Regen stehen.
Auch diese Medizinsache – die drängen mich da voll rein und weißt du – ich weiß das jetzt gerade selbst nicht so genau, ob ich das nur will, weil Mama das will.
Sie will, dass wir hier bleiben. Mit allen Mitteln. Ich habe ihr gesagt, dass es doch nicht ernsthaft ihr Anliegen sein kann zu entscheiden, was wir studieren. Immerhin muss ich das studieren und ich muss mich dann um einen Job kümmern und ich muss dann da 40 Jahre oder so drin arbeiten.
Und ich versuche zum ersten Mal meinen eigenen Kopf durchzusetzten. Aber ich merke, wie ich langsam zurückrudere.

Weißt du, einerseits macht mich das fürchterlich wütend, was hier so los ist. Weil ich einfach niemanden habe und jedes Gespräch in dieser Familie im Moment zur Tortur wird und Mama ganz genau weiß, dass es mir schlecht geht, auch wenn sie mir mittlerweile deutlich gesagt hat, dass sie davon nichts mehr hören will.
Und dann muss sie auch unbedingt noch drauf hauen. Das ist nicht fair.

Andererseits macht es mich aber auch ziemlich traurig. Ich meine, ich kann sie irgendwie verstehen. Sie hat Dad verloren – ich meine, im Grunde haben wir ihn alle verloren. Sie ihren Ehemann, wir unseren Dad. Dass er uns 19 Jahre angelogen hat, das wussten wir nicht, sie schon.

Wahrscheinlich würden mir die Menschen sagen, dass ich meinen eigenen Weg gehen soll. Dass es vielleicht nicht das Falscheste ist hier auszuziehen, irgendwo neu anzufangen und vielleicht langsam mal wieder lernen zu leben.
Aber dann sind da wieder die Schuldgefühle. Dann habe ich es vielleicht so gemacht, wie ich es wollte und alle anderen unglücklich gemacht.
Und am Ende macht mich das auch nicht glücklich, weil es für mich gerade schwer ist glücklich zu sein und dann ist das alles wieder sinnlos.
Ich weiß es nicht. Eigentlich muss ich jetzt dieses Motivationsschreiben für meine Studienwahl schreiben, aber so wirklich Motivation habe ich dafür gerade nicht. Das funktioniert doch sowieso alles nicht. Falsche Einstellung wahrscheinlich, aber wenn es doch die Wahrheit ist???
Ich weiß nicht. Ich mache mal…

(Wow…- was für ein starker Eintrag. Alles genau durchschaut – sehr gut Mondkind. Nur am Ende doch nicht stark genug gewesen, um entsprechend zu handeln. Dann sind letzten Endes doch alle unglücklich geworden. Ich musste im dritten Studienjahr doch Hals über Kopf zu Hause raus, weil es einfach nicht mehr ging, gegen die Medizin konnte ich mich aber auch nicht wehren).

Mittwoch, 27. Juni 2012
Ruhe. Endlich. Es ist fast 1 Uhr – und ich sollte vielleicht lieber ins Bett.
Der Tag war unglaublich anstrengend.
Bewerben, auf das okay von Mum warten, abschicken, ausdrucken – es wurde so viel gedruckt heute, alle haben alles in meinem Zimmer hin und her geräumt, mein Zimmer wurde mal wieder zur Bahnstation, dazwischen immer wieder warten, noch ein Pläuschen mit den Nachbarn, die die 1,0 wieder hervorheben.
Bewerbungen – ja, es ist schwer. Da haben sie irgendetwas über Life science rausgebuddelt, haben da irgendetwas ausgedruckt, daneben zum Vergleich den Stundenplan von Biochemie gelegt, was man in [Stadt in der Nähe] studieren kann und wollen mir jetzt erklären, dass es dasselbe ist. Was soll ich sagen? Gegen Tatsachen auf dem Papier reden? Nein, das bringt nichts. Vielleicht ist es bei einer Uni so, aber nicht überall.
Ich habe mir schon etwas dabei gedacht, als ich die Unis rausgesucht habe.
Am Ende musste ich mich gezwungenermaßen selbst dagegen entscheiden – sagen, dass ich dann wohl Bio – Chemie nehme. Obwohl ich das nicht studieren werde.
Es ist okay. Es ist sowieso alles sinnlos. Wie konnte ich jemals denken, dass es nach mir gehen könnte. Das Schlimme ist, dass ich es selbst „zugeben“ musste. Mum ist nicht mehr verantwortlich, wenn ich mich gegen den Studiengang entscheide. Ich bin es.
Nein, das war naiv.
Es wird Medizin – glaube ich. Die Alternativen sind jedenfalls alle nicht mehr gut, oder so weit weg, dass es da noch so viele Diskussionen geben wird, dass ich das nicht durchhalten werde.

Dienstag, 18. September 2012
Weißt du, welcher Satz mich verfolgt?
Frau [Englischlehrerin] hat geschrieben und sie meinte, ich sah am Abiballabend echt fertig aus.
Für mich ist an diesem Abend endgültig klar geworden, dass das Netz Schule wegbricht. Schule hat einen nicht nur einen Weg vorgegeben, den man zu beschreiten hatte und der gleichzeitig dem Tag seinen Sinn gegeben hat, ohne dass man Stunden darüber nachgrübeln musste, wie der Tag sinnvoll wird, Schule hat einen auch irgendwie aufgefangen und in einem ganz engen Netz gehalten, das ich so unbedingt brauchte.
Irgendwie hatte man das Gefühl ein Teil von einem Ganzen zu sein, ein Knotenpunkt, von dem vielleicht aufgefallen wäre, wenn er gefehlt hätte. Schule war eine Art Familienersatz – ersetzte ein Familienleben, das wir zu Hause einfach nicht hatten und manchmal, wenn nicht gerade Klausurenphase war, habe ich mich in der Schule wohler und sicherer gefühlt, als an allen anderen Plätzen dieser Welt.
Manchmal reichte es, wenn nur Montagmorgen jemand fragte, wie das Wochenende war. Nicht, dass ich viel zu berichten gehabt hätte, aber irgendwie war diese unbedeutende Art von Kommunikation schon mehr, als wir es zu Hause manchmal an einem ganzen Tag tun.
Irgendwie hatte ich in der Schule manchmal das Gefühl, dass es auffallen würde, wenn man eines Tages einfach nicht mehr da wäre. Dass es den Lehrern auffallen würde, dass der Stuhl leer ist, dass es in Chemie in meiner Reihe aufgefallen wäre, weil dann niemand aus der Reihe mehr die Hausaufgaben hätte und man Niemanden hätte, von dem man sie abschreiben kann.
Man hatte das Gefühl, nicht irgendwer zu sein.

Und an jenem Abend ist mir plötzlich der Weg bewusst geworden. Der Weg, der vor mir liegt, an dessen Seiten kein Netz mehr gespannt ist, das einen hält, ein Weg, der stattdessen von Betonwänden gesäumt ist.
Ein Weg, auf dem man Niemanden mehr haben würde außer sich selbst und ich setze nicht gerade viel Vertrauen in mich.
Und ich würde unweigerlich darauf geschubst werden.


Sonntag, 23. September 2012
Der Plan war nahezu den gesamten Sommer bei Dad zu verbringen, viel zu unternehmen, die Seele baumeln zu lassen, aber der Plan wollte nicht funktionieren.
Der Kompromiss zwischen Unruhe und Müdigkeit wollte sich nicht finden lassen, das Gefühl der Unbeschwertheit, der Freiheit wollte sich nicht einstellen, die Ruhe, auf die man nach dem Abi gewartet hat, wollte nicht kommen.
Jetzt kommt die Uni zurück, ein strukturierter Tagesablauf, der mir freitags die Frage vereinfacht, ob die Woche produktiv war. Die Uni wird die Unruhe wegnehmen und sie bald wieder gegen die Müdigkeit eintauschen, die Wochen werden wieder ziehen, aber diesmal wird es vielleicht okay sein, weil Uni ja nicht schön sein muss.
Es wird ein neuer Abschnitt in unserem Leben sein, der so wirklich neu auch nicht sein wird. Immerhin wird sich hier wenig ändern - Mal abgesehen davon, dass wir länger weg sind und nicht mehr zur Schule, sondern halt zur Uni gehen.

Mittwoch, 26. September 2012
Was gibt es über die Tage zu berichten?
Das Leben ist stehen geblieben. Es geht nicht mehr darum, die Tage zu gestalten, zu versuchen ein Mensch zu sein, der Mensch [Mondkind], der auf der Suche nach sich selbst ist.
Der Vorkurs hat mir all das abgenommen. Die Tage sind voll mit Chemie – sämtliches Schulwissen wird hier in einer Woche durchgegangen.
Jede Minute des Tages – im Zug, beim Essen, bei Pausen an der Uni wird mit einem Chemie – Zettel oder einem Chemie – Buch in der Hand verbracht.
Es bleibt keine Zeit mehr über den Sinn des Ganzen nachzudenken, darüber, ob das in diesem Ausmaß und der Genauigkeit, mit der ich es betreibt überhaupt nötig ist. Essen und Schlafen vergesse ich darüber genauso, wie alle Fragen der vergangenen Monate, die ich nicht beantworten konnte.
Die Unruhe verschwindet langsam, die Frage nachdem, was produktiv ist, die Frage, wer ich bin, was ich will, was meine Wünsche und Ziele sind, die ja ohnehin nicht gehört werden.
Jetzt macht man eben wieder. Mag sein, dass ich an mir selbst gescheitert bin, aber ich muss mir selbst nicht weiter dabei zusehen, weil ich meinen Strohhalm wieder gefunden habe, der mich zuverlässig durch die Tage lotst.


November 2012
Ich muss dir noch was zeigen: Sieh mal, ich habe ein neues Lied gefunden und in schwierigen Zeiten höre ich es gern – aber wer weiß, wer das für mich tun würde…            

If I die young,
bury me in satin
Lay me down on a bed of roses
Sink me in the river at dawn
Send me away with the words of a love song
(The Band Perry - If I die young) 




Vielleicht reicht es, die Worte für sich sprechen zu lassen.
Vielleicht muss ich dazu nicht mehr viel kommentieren.
Es ist fast beeindruckend, dass ich nach so langer Zeit noch hier bin. Das alles durchgehalten habe.

Vielleicht hilft es mir, mich selbst ein bisschen zu verstehen.
Im Grunde bin ich nicht weiter, als damals. Immer auf der Suche nach Menschen, die mich nehmen, wie ich bin. Immer auf der Suche, nach einem zu Hause. Langfristig gefunden habe ich es nie. Auch, wenn sich dieser eine Wunsch wie ein roter Faden durch meine Tagebucheinträge, durch meine Jahre, durch mein Leben zieht.
Fast wundert es mich nicht mehr, dass ich dafür durch halb Deutschland gezogen bin. Auch, wenn ich weiß, dass ich das in dieser Konstellation, in der ich heute bin, auch nicht finden werde. Und Momente immer nur Momente bleiben werden. Von denen ich nicht weiß, ob sie die Sehnsucht in Schach halten.

Immerhin prallen da zwei Welten aufeinander. Das Einzige, das ich kontinuierlich gehört habe ist, dass ich nie gut genug bin. Egal, wie gut die Noten waren. Es war eine Katastrophe. Immer. Man stand immer kurz vor der Hauptschule. Auch mit einem Einserschnitt. Und so absurd wie es war, aber die Panikmache ist irgendwann auf mich übergegangen. „Mondkind, Du betrachtest die Arbeitssituation zu kindlich“, kommentierte der Oberarzt letztens, als ich ihm erzählt habe, dass es mich super fertig macht, wenn der Chef uns zur Schnecke macht, ohne dass man überhaupt genau weiß, was nun schon wieder schief gelaufen ist. Nachdem ich damals alle Hobbies aufgegeben hatte – zuletzt das Reiten – war die Leistung alles, was blieb. Alles, über das ich mich definieren konnte. Und gleichzeitig ist das immer noch diese überdimensionale Angst. Sind schlechte Visiten ein Kündigungsgrund? Denken die vielleicht auch alle, dass ich nichts kann? Stehe ich vielleicht schon auf der „Abschussliste…“? Wer weiß das schon? Und auch, wenn ein Ende mit Schrecken von diesem Job vielleicht das Beste wäre, das mir passieren könnte  - aber wo würde ich dann landen? Unter der im Hause Mondkind viel zitierten Brücke?

Und gleichzeitig ist dieser Ort, der so viel Druck und Angst auf mich ausübt auch ein bisschen „magisch“, habe ich dort doch den Menschen, der „Bezugsperson“ ist… - oder werden soll, oder was auch immer.
Ein bisschen wie „Ersatzpapa Deutschlehrer“ – nur, dass in der Schule die Leistungen meist wesentlich positiver bewertet wurden als zu Hause und dieses Konfliktfeld, dass Schule auch ein Ort war, der Druck ausgeübt hat zwar vorhanden, aber nicht so groß war.

Und was sagt und das jetzt alles? Wie löst man es? Wie komme ich aus einem Job raus, in dem ich nicht sein möchte, ohne alles zu verlieren, dass es vielleicht mal geben könnte? Ein bisschen bemüht sich der Oberarzt ja doch – das muss man ihm lassen. Ich kann diesen einen Menschen nicht verlieren, an dem mehr hängt, als er wahrscheinlich je vermuten würde.
Und trotzdem wäre Loslassen, etwas ganz Neues finden, einen Job, der mir vielleicht Spaß macht, der ein bisschen mehr „ich“ ist und viel weniger mit Angst zu tun hat, vermutlich die einzige Lösung, die mich langfristig glücklich machen würde.

Aber dazu bräuchte ich einen ganz, ganz sicheren Ort, in dem ich nach dieser Entscheidung erstmal zerfallen darf. Wenn ich wieder bei Null anfange. Wenn da wieder nichts mehr bleibt. Ich bräuchte Zeit, um mich wieder ein bisschen zusammen zu setzen, um irgendwann die Nase wieder hinaus in die Welt zu stecken, zu begreifen, wie wundervoll die sein kann. Gelegenheiten, um auszuprobieren und zu finden, was und wer ich sein möchte, was mir Spaß machen könnte, wo ich arbeiten könnte.
„Dann eben nochmal Klinik“, mögen sich manche jetzt still denken. Nur, dass auch das nicht sicher genug ist. Am Ende geht es da auch um Wirtschaftlichkeit. Der Zeitfaktor, der mir im letzten Sommer im Nacken hing, war das Schlimmste. Die Therapeuten dort, waren ja auch nicht blöd. Der Herr Chefpsychologe hat mir deutlich gesagt, dass er mein ganzes Vorhaben unter der Motivation die ich habe, für eine Sackgasse hält und ich lieber überlegen sollte, etwas ganz anderes zu tun. Und wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst war, wusste ich das auch.
Und dennoch war „Entlassung“ immer Thema. Der Zeitfaktor hing mir immer im Rücken. Ich hätte nicht die Sicherheiten bekommen, die ich gebraucht hätte. Nicht die Zeit, die ich benötigt hätte. Und so deutlich durfte ich es ja nicht sagen, ohne, dass es als Erpressung aufgefasst worden wäre: Aber den Plan nicht in die Ferne zu gehen, ohne Zeit, Gelegenheit und Ruhe zu haben, einen alternativen Plan B zu entwickeln, erstmal ein stabiles Umfeld zu generieren, bevor mich der Stromhalm „Arbeit“ zuerst wieder rettet, um mich langfristig doch nicht weiter zu bringen, wäre schon am Ende des letzten Sommers das sichere Todesurteil gewesen.
Und irgendwie scheint der Mensch doch so gestrickt zu sein, immer Hoffnung suchen zu wollen. Oder… - ich zumindest.

Aber was ist jetzt? Wo die Spannungsfelder zu groß werden, ich zu sehr überfordert, die Sehnsucht danach das hier endlich nicht mehr machen zu müssen zwar schon jahrelang da, aber nie so vehement, so pausenlos war?

Gibt es eine Lösung, nachdem wir jahrelang in die falsche Richtung gelaufen sind, auf der Suche nach Heimat und Geborgenheit?

Ich weiß es nicht. Wirklich nicht.

Mondkind

Kommentare

  1. Wie würde denn das Zuhause aussehen, nachdem du suchst? Konnte dir ein Umfeld aus Freunden nie helfen dieses Sehnsuchtsgefühl etwas zu mildern? Vielleicht magst du dazu demnächst ja mal in einem Beitrag etwas erzählen.

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    1. Hallo,
      Danke erstmal für den Kommentar.
      Ein bisschen kann man es sich auch in diesem Blogpost schon zwischen den Zeilen heraus lesen. Aber ich behalte es mal im Hinterkopf. Wenn ich mal Luft und Zeit habe, kann ich darüber gern mal einen Beitrag verfassen :)

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